Reisetagebuch Island 2003

von Thomas Lukasczyk

Es war wohl um den 7. Juni 2003, als ich früh am Morgen die Haustür meiner WG hinter mir zuzog. Es sollte meine erste Islandreise werden und großen Einfluss auf mein weiteres Leben nehmen. Ein spezieller Arbeitsvertrag gewährte mir eine lange Auszeit, und was gibt es Schöneres, als sich mit seinem besten Kumpel für zwei Monate auf Abenteuerfahrt zu begeben? Nach drei ununterbrochenen Jahren als Angestellter in der Automobilindustrie lechzte ich nach Natur, Outdoor und Abenteuer. Ich zog die Riemen an meinem Rucksack, der alles enthielt, was ich die nächsten 9 Wochen brauchen würde, fester und lenkte meine Schritte Richtung Bahnhof Darmstadt. Die Lektüre diverser Reise- und Trekkingführer, die in den vergangenen Wochen verschlungen worden waren, ließen Tobias und mich zu dem Schluss kommen, die Insel mit einem möglichst geländegängigen Auto zu erkunden. Wir hatten vor, in erster Linie mehrtägige Touren zu laufen und brauchten eine mobile Basis. An eine Neuanschaffung war nicht zu denken. Meine "Kohle" hatte ich vollständig in meinem Flugzeugbauprojekt versenkt, und Tobias hatte sich gerade in Berlin mit einer Flugzeugbau-Firma selbstständig gemacht. Also blieb nur sein ausgenudelter VW T3, den wir für die Tour noch entsprechend ausrüsten wollten. Auf das Dach sollte ein großer Dachgepäckträger kommen, den ich kürzlich für eine Kiste Bier geschossen hatte. Leider hatte ich die leidvolle Aufgabe, das sperrige, schwere und auch sonst recht unhandliche Teil im Zug mit nach Berlin zu nehmen. Da ich das Dreimeter-Gittermonster kaum schleppen konnte, schweißte ich eine kleine Rolle in eine Ecke. So ließ sich das Ding vergleichsweise einfach herumrollern. Für die Fahrt in die Hauptstadt hatte ich extra ein Zugticket mit Fahrradstellplatz gebucht. Trotzdem gab der Typ mit dem Rucksack, der ein über 3 m langes Gitter durch Darmstadt rollte, ein komisches Bild ab. "Das ist aber kein Fahrrad", meinte der Schaffner, als ich wenig später auf dem Bahnsteig stand. "Soll ich nächstes Mal zwei Räder dran schweißen?" konterte ich. Er half mir aber trotzdem beim Einladen. Ich las den "Spiegel" und "National Geographic" komplett durch, während vor dem Fenster die halbe Republik vorbeiflog. Tobias holte mich ab, und zu zweit bugsierten wir unseren Dachträger durch die U-Bahn. Abends lernte ich die Studenten-Wohngemeinschaft von Tobias kennen, die einen lauen Berliner Sommerabend stets mit einer Menge Bier ausklingen ließ. Die folgenden Tage hatten wir für die Durchsicht und die Vorbereitung unseres Fahrzeugs verplant. Die Herren Akademiker drehten sich aber noch vor dem Frühstück Ihre Morgentüten und beschlossen, einen "Grünen Tag" einzulegen. Da ich mich auch als durchaus gesellig betrachte, zogen wir uns je eine Bierdose auf, und Tobias und ich versoffen den ganzen Tag am geöffneten Fenster einer Berliner Dachgeschosswohnung. Meine Studentenzeit war nun auch noch nicht so lange her, aber derartige Ausmaße war ich nicht gewohnt. Wenn das die nächsten Tage so weitergehen sollte, würde das nichts mit dem VW-Bus bzw. mit unserer Islandreise. Damit der nächste Tag nicht genauso im Klo heruntergespült wird, versteckte ich am Abend das ganze "Gras" in der Kaffeedose. Sie würden es schon wiederfinden. Die Bierdosen von Tobias schenkte ich dem Nachbarn.

Tatsächlich schafften wir es am nächsten Morgen, in die Strümpfe zu kommen. Der Gepäckträger wurde montiert, der Bus erhielt einen Ölwechsel, zwei neue Spurstangenköpfe, vier neue Reifen, neue Kühlerschläuche, ein neues Radlager,  einen neuen Luftfilter und Bremsbeläge. Auf dem Dach befanden sich nun zwei 20-Liter-Kanister, ein Reserverad und eine Staubox. Um 16 Uhr waren wir reisefertig. Da einen Tag später um 20 Uhr die Fähre gehen sollte, beschlossen wir einfach, sofort loszufahren. Natürlich endete die ganze Euphorie kurz darauf im Feierabendstau der Berliner Stadtautobahn. Die Hitze war mörderisch und wir rauchten selbstgedrehte Zigaretten bei herunter gedrehten Seitenscheiben. Aus dem alten Kassettenspieler plärrte ultrafieser, kratziger Berliner Punkrock. Viele Autos hatten ebenfalls ihre Fenster ganz runtergelassen und im Schneckentempo ging es langsam vorwärts. "Onanieren... onanieren... auf den Teppich masturbieren", klang es plötzlich aus unseren Lautsprechern. Die Autofahrer in unserer unmittelbaren Nähe schüttelten die Köpfe und zeigten mit dem Finger auf uns. Ich drehte peinlich berührt etwas leiser. "Was ist das denn für ein Tape?" fragte ich daraufhin Tobias. Doch der feixte mit einem Motorradfahrer in der Spur neben uns, den es vor Lachen so schüttelte, dass ich kurz glaubte, er hätte einen Anfall. Kurz hinter Kiel verließen wir die Autobahn, bogen in den ersten Feldweg ein und stellten für die Nacht ab. Bei einem Sixpack Warsteiner besprachen wir unsere Route auf Island und planten Trekkingtouren. Als ich kurz vor dem Einschlafen, leicht beduselt an die Decke schaute, fragte ich mich, ob ich da auf den letzten 50 km nicht so ein leises metallisches "Klackern" gehört hatte...

Ein weiterer warmer Sommertag empfing uns. Ich wusch mich am Kanister und machte meine "Infanterie-Morgengymnastik". Die Autobahn war so früh noch leer, und bald hatten wir nur noch 250 km bis Hanstholm. Doch da meldete sich wieder das leise "Klackern", von dem ich nachts auch ausgiebig geträumt hatte. Wir schauten uns unschlüssig an. Dann sagten wir gleichzeitig: "Anderes, hinteres Radlager." "Nee, das klingt anders", meinte Tobias 2 km später. "Von wegen deine Karre ist in der Reihe", meckerte ich. "Das Kackding macht noch die Grätsche, bevor wir das Meer sehen." Es wurde immer schlimmer, und ich rauchte eine Kippe nach der anderen. Als Nichtraucher bescherte mir das ordentlich Kopfweh. Wir hielten an, um der Sache auf den Grund zu gehen. Nicht dass wir bei dem wachsenden Zeitdruck irgend eine Chance hatten. Es war nichts zu sehen, und so bockten wir ein Rad nach dem anderen hoch. Jetzt hatten wir Gewissheit. Es war die Antriebswelle der Hinterachse, die zwar noch intakte Manschetten aufwies, aber offensichtlich dabei war, sich zu zerlegen. Ultravorsichtig fuhren wir weiter und hofften inständig, noch auf die Fähre zu kommen. Verdammte Axt, sollten wir die 750,- Euro für die Überfahrt abdampfen lassen, nur weil unsere Mühle schlappmacht? Mit gespannten Kiefermuskeln kämpften wir uns Kilometer um Kilometer vorwärts. Querab Esbjerg war das "Klackern" das lauteste Geräusch, das unser Bus abgab. Ich rechnete schon nicht mehr damit, auf die Fähre zu kommen und überlegte die Alternativen. Es war unvorstellbar, dass eine Welle über eine so lange Zeit einen solchen Krach machen kann, ohne sich zu pulverisieren. Die Autos, die uns überholten, schauten verdutzt auf unseren "Peng-Peng-Peng-Bus". Die Anhöhe bei Hanstholm machten wir mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenen Schultern. Die Leute unten am Hafen müssen sich gefragt haben, was da wohl über den Pass hämmert. Ausgekuppelt ging es in die Warteschlange. Ein Landrover-Fahrer aus der Riffelblech-Fraktion fragte uns nach dem Sinn der kleinen Rolle, die an unserem Dachgepäckträger angebracht ist. Als ich ihm die Wahrheit sagte, meinte er, wir wollten ihn veräppeln. Unter allen Fahrzeugen, die an diesem Tag auf die Fähre rollten, hatten wir mit ganz großem Abstand das "Schrottigste" - völlig unabhängig von unserer kaputten Antriebswelle. Neben einigen Tupperware-Wohnmobilisten fortgeschrittenen Alters gab es die Geländewagen-Fahrer aus dem Mittelstand, die auch außerhalb und fernab ihrer Senken für Auto-Aftermarket-Artikel und Expeditionsausrüstung als solche zu erkennen waren. Ich schämte mich ein wenig und wollte am liebsten jedem erzählen, dass ich katholisch sei, Tagesschau gucke, aus einer Familie mit regelmäßigem Einkommen komme und als kleiner Angestellter in der Automobilindustrie mein Dasein friste. Die verächtlichen Blicke ließen mich mutmaßen, dass mir keiner glauben würde. "Die haben sich sicher verirrt und wollen eigentlich auf ein Rockfestival", las ich in den Gesichtern. Die ersten Autos fuhren an und das Interesse der Mitreisenden konzentrierte sich wieder auf die Fähre. Gib alles, gute Antriebswelle, die olle Rampe musst Du noch schaffen! Sie hielt. Die nagelneue "Norröna" dampfte gen Norden. Das Schiff war voller Fußballfans, da in Kürze ein Länderspiel zur EM-Qualifikation in Thorshavn stattfinden sollte. Einige Dänen hatten die Fährpassage nur gebucht, um an zollfreien Alkohol zu kommen. Sie feierten ausgiebig. Wir mussten unsere Couchettes mit fünf von denen teilen. Leider ereilte eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern das gleiche Schicksal. Einen Flur weiter entdeckten wir einen leeren Schlafsaal und sagten sogleich der Familie mit den zwei Kindern Bescheid, damit sie nachkommen konnte. Unsere Kartenschlüssel funktionierten auf dem ganzen Schiff, wohl noch ein kleiner Software-Bug der frisch in Dienst gestellten Fähre. Die Dänen bekamen Wind davon und verteilten sich ebenfalls gleichmäßig auf die größtenteils unbesetzten Räume. Unseren 12-Betten-Raum ließen sie zum Glück in Frieden.

Die "Norröna" legte auf den Faröern an und ein schwarz-rot-goldener Zug stürmte die Pubs im Hafenviertel der Stadt. Unser T3 sprang wie immer mit einer nicht unerheblichen Rauchentwicklung an. Die Leute, die noch auf dem Fahrzeugdeck herumliefen, schüttelten die Köpfe, rümpften die Nase und einige bewegten sogar ihre Hand vor dem Gesicht hin und her. Ja, die Kiste hat 250 Tausend Kilometer runter. Entschuldigung, aber mehr können wir uns nicht leisten.
Der Einweiser wollte den Qualmer loswerden und winkte uns an der Warteschlange vorbei. Es hatte wirklich etwas von Spießrutenlauf. Deshalb kurbelte ich auch aus Solidarität mein Fenster herunter, entschuldigte mich und grüßte jeden einzelnen. Einer der Ducato-Kutscher zeigte uns sogar einen Vogel. Ich zuckte nur mit den Schultern, aber Tobias hatte "Play" auf dem Kassettendeck gedrückt. "Onanieren macht mir Spaß... mehr als sonst noch irgendwas", brüllte es aus zwei völlig übersteuerten Lautsprechern. Die stählerne Halle der Fähre sorgte für eine gewisse Akustik. "Verdammt, musste das sein?" fuhr ich Tobias an, als ich Stop drückte. Zum Glück erlöste uns die Rampe und wir fuhren hinaus ins Freie. Was sollte denn die Aktion? Nur weg hier, sonst schäme ich mich noch zu Tode. Wir wollten uns sofort die Antriebswelle genauer betrachten, schließlich hatten wir nun zwei volle Tage, um den Schaden zu beheben. Also ging es runter an den Strand, wo wir die Karre mal richtig aufbocken und begutachten wollten. Der Wagenheber machte den Aal und so halfen wir uns mit einem langen Stück Treibholz. Inzwischen hatten wir raus, wie der Teiletausch vor sich gehen könnte und fuhren geradewegs zur VW-Vertretung in Thorshavn.
"We can get your part next week, when the ferry arrives", meinte der Typ am Schalter. Exzellent, wie wäre es denn übermorgen? Aber er hätte einen Kumpel, der alles schrauben und alles besorgen könne. Er beschrieb uns den Weg. Eine Stunde später hämmerten wir an das Tor einer kleinen Holzhalle. In dem kleinen, nahen Hafenbecken schwammen lauter Boote mit ausgebautem Motor. Alles hing mit Fischernetzen und Auftriebskörpern zu, und der Regen peitschte von der Seite. Ein kleiner, junger Mann öffnete uns und nahm uns mit in seinen total zugestellten Schiffsmotor-Laden. Eine gewisse Ordnung und ein System war trotzdem zu erkennen, und er verstand auch umgehend unser Problem, obwohl er kaum Englisch sprach. Er hatte das Teil auch nicht, fing aber sogleich an zu telefonieren. Dabei fiel mir auf, dass er stets auswendig dreistellige Nummern wählte. Der Kerl tat sich Einiges an und nach 40 Minuten hatte er Erfolg. Irre, da verdiente der an uns keinen Pfennig und gab sich solche Mühe. Auf dem Festland gäbe es so etwas nicht, ließ ich ihn wissen. "We are all like this here", entgegnete er stolz. Ich legte einen 10-Euro-Schein auf den Tisch, den er lächelnd annahm und an die Wand zwischen seinen Keilriemen anheftete. "That was meant to buy you a beer", erinnerte ich ihn als er uns auf der Karte die Werkstatt seines Kollegen zeigte, die unsere Welle zwar auch nicht hatte, aber einen kannte, der so einen ausrangierten Bus besaß. Am Abend wollte der die ausbauen, deshalb "tomorrow". "What is his address?" wollte ich wissen, da er nur immer auf einen Fjord zeigte. "You will find it, it is the only one up there." Also gut, und wann sollen wir dort sein? "Tomorrow", meinte der Mechanikermeister. "Tomorrow, at what time?" wollte ich wissen. "Does not matter, just tomorrow", beharrte er. Also gut: andere Länder - andere Sitten, keine Uhrzeit, keine Adresse und keine Namen. Hoffentlich früh tomorrow, denn am Nachmittag ging schließlich unser Schiff. Wir fuhren natürlich sofort los, um möglichst viel Strecke gut zu machen. Auf dem Weg durch diese baumlosen, grünen Inseln im Nordatlantik traf man alle Leute von der Fähre wieder, die sich ach so kreativ den Campingplatzgebühren entzogen. Es klarte auf, und wir unternahmen eine kleine Wanderung, um die Zeit zu überbrücken. Die Landschaft war einzigartig und von einer herben Schönheit, die ihresgleichen sucht. Ganz anders als Schottland, welches gar nicht so weit entfernt lag. Allerdings auch nicht so spektakulär und wild wie Island. Die Inseln liegen also genau richtig. Wir übernachteten an einem Steilhang mit herrlichem Ausblick auf die Nachbarinsel. Tobias schlief auf dem Dach, um die Szenerie besser genießen zu können.

Am Morgen knatter-klapperten wir über einen kleinen Pass in Richtung der beschriebenen Werkstatt. Tatsächlich war diese einfach zu finden, obwohl noch weitere Häuser in einigem Abstand lagen. Der Automechanikermeister schoss Tontauben über dem Fjord, die sein "Stift" mit einer Wurfmaschine fliegen ließ. Das Geballer schien niemanden zu stören. Er stand auf den Steinen im Uferbereich, und im seichten Wasser lagen die ausgeworfenen roten Plastikhülsen. Unglaublich, in Deutschland gibt es Gerichtsverhandlungen wegen Gartenzwergen und hier...
Wir warteten vor dem Tor, und er unterbrach nach einiger Zeit seine morgendlichen Schießübungen. "Are you the Germans with the broken drive-shaft?" "I got it for you last night."
Mit der Büchse über dem Arm öffnete er das Tor und winkte uns hinein. Irgendwie hatten sie keine Eile und beide widmeten sich zunächst dem gelben Suzuki Samurai, dem Auto des Auszubildenden. Das Ding war vom Seeklima total vergammelt und hatte Rostschäden, die ich so noch nicht gesehen hatte. Die Karosserie wurde kürzlich lackiert, aber der Rahmen war total verfault. Ich fragte mich, was die an dem Haufen Kartoffelchips noch brutzeln wollten. Jedesmal, wenn der Brenner nur in die Nähe des Stahls kam, war mehr Loch drin als vorher. "Cappo, lass die Händ wökkel, sonst is unser Damfer fott", rief Tobias auf fränkisch, um seine Anspannung kundzutun, und irgendwie schien der Meister das doch zu verstehen. Er zog die Augenbrauen hoch und wusste genau, dass wir auf die Fähre mussten und genoss es, mit unserem Zeitdruck zu spielen.
Tobias reichte ihm alles Werkzeug in die Grube, und ich schleppte die Stablampe an. Darüber freute sich der "Stift", der so natürlich in Ruhe seinem Suzuki-Privatgammel nachgehen konnte. Im Radio liefen Interviews mit den Fussball-Nationalspielern der Faröer und mit unseren deutschen Nationalspielern, die am Abend ein Spiel hatten, welches Deutschland offensichtlich gewinnen sollte. "Do you like football?" fragte uns grinsend der Chef, als er unsere kaputte Antriebswelle gerade in der Hand hielt. Wir schauten uns an und antworteten abwinkend "No", nur um ihm nicht auch noch die Laune zu verderben. Er fluchte nur irgend etwas auf dänisch, was aber so ähnlich wie "Ihr dämlichen deutschen Orgelpfeifen, was seid Ihr nur für Flaschen" gewesen sein musste. Der Stift hatte es verstanden, prustete unter seiner Karre hervor. "Is it true Germans are very busy and always on time?" fragte er geradezu lethargisch. Er schien sich in Zeitlupe zu bewegen und ließ uns spüren, dass er hier an- und abpfeift, gerade angesichts des Länderspiels.
"Now its Coffee time, want some?" fragte er und wischte sich die Hände ab.
"Jetzt ist nicht Pause hier, Kollege Schnürschuh. Unsere Fähre geht in zwei Stunden und nach Thorshavn fährt man gut eine..." Er reagierte gar nicht, sondern setzte sich hin, nahm einen Pappbecher, reichte einen weiteren seinem Stift, blinzelte nach der Uhr und fragte:" When is the ship going to leave?". "In about two hours", brach es aus mir heraus.
"Ahh, that is plenty of time...", meinte er und goss sich erneut ein und starrte aus dem Fenster in den Regen.
Die neue Antriebswelle lag zu dem Zeitpunkt noch am Boden der Grube. Es war zum Verrücktwerden. Wir überlegten schon, selbst anzufangen das Teil einzubauen. Das gehört sich aber nicht in einer fremden Werkstatt, und so gingen wir zum Füße-Wippen vor die Tür.
Endlich bewegten sich die beiden aus ihrem Kabuff heraus und arbeiteten fortan zu zweit. Daher waren sie auch nach kurzer Zeit fertig und flickten uns noch einen Reifen, in den wir uns einen Stein gefahren hatten. Eine Stunde vor Abfahrt der "Norröna" ging es ans Bezahlen. "Thats 1700 DKK", meinte der Meister. Der Stift schaute uns neugierig an, da der Preis wohl völlig überzogen war. Wir kannten den Wechselkurs leider nicht und hatten keine Ahnung, wie viel das wohl sein möge. Auf der Fähre musste man mit Kronen bezahlen und wir hatten welche getauscht. Daher ging unser Taschengeld komplett drauf und wir bezahlten. "You Germans are morons, that was way to much money for this," meinte er grinsend und steckte die Kohle ein. Zum Diskutieren war keine Zeit und so bedankten wir uns und knatterten ohne Klackern Richtung Schiff. "Der gibt jetzt auf der ganzen Insel damit an, wie er zwei Deutsche kurz vor der Fußballniederlage abgeledert hat", sagte ich. Tobias nickte nur.

Island, das Land der Sagen, die Feuer- und Eisinsel im Nordatlantik, tauchte aus einer Nebelbank auf. Während des Anlegemanövers begann es mit dicken Flocken heftig zu schneien. Ach du liebe Zeit, die armen Ringstraßenradler, die müssen heute über den Pass. Die Fahrradfahrer verließen tatsächlich als erste das Schiff und zogen sich ihre Regenausrüstung an. Die wollten schließlich später mal am Kaffeetisch von ihrer Umrundung der Insel mit dem unberechenbaren und harten Wetter erzählen. Folglich war es ganz legitim, wenn die jetzt ein wenig dafür leiden mussten. Aber wir kamen auch noch dran und wurden als einziges Auto zur Untersuchung beim Zoll rausgewunken. Die Beamten machten den ganzen Bus links, wir mussten alles auspacken und sogar unsere Kleider ausziehen. Die Drogenhunde schnüffelten alles durch und ich hoffte nur, dass Tobias' Mitbewohner keine Reiseandenken in dem Fahrzeug hinterlassen hatten. Nach drei Stunden Suche waren die Isländer sichtlich enttäuscht, auch nicht die kleinste Menge an verbotenen Substanzen gefunden zu haben. Wie gut, dass wir immer beim Bier geblieben waren. Schließlich hielt einer eine Spritze in der Hand, die er im Werkzeugkasten gefunden hatte. "What is this?" wollte er wissen, und wir sollten unsere Hemden hochkrempeln und unsere Unterarme zeigen. "That is Epoxy-Resin", klärte ich den Beamten auf, und er glaubte uns. Kopfschüttelnd öffneten sie endlich das Rolltor und winkten uns hinaus. "Welcome to Iceland." Auf dem großen Parkplatz war kein Auto mehr zu sehen und die "Norröna" war im Begriff wieder abzulegen. "Hoffentlich schaffen wir den Pass ohne Schneeketten", dachte ich. Aber alles ging gut. Wir kauften in Egilstadir ein und entdeckten einen herrlichen Autofriedhof mit Lastwagen aus allen Epochen. Schrott hat auf Island eine andere Bedeutung, und wir staunten über das, was ein halbes Jahrhundert extreme Witterung von einem Fahrzeug übriglässt. Es ging die Ringstraße hoch, und bei Dauernebel und leichtem Schneefall war nicht viel zu sehen. Da es um diese Zeit in Island gar nicht dunkel wird, merkten wir auch nicht, wie spät es war. Um 4 Uhr nachts parkten wir todmüde in einem Steinbruch und schliefen ein. Die Umstellung auf das dauerhafte Tageslicht war schwerer als vermutet. Man konnte zu jeder Zeit in der Nacht ein Buch lesen und ohne Taschenlampe nach draußen zum Pinkeln gehen.

Wandertour Krafla-Dettifoss

Am Myvatn kauften wir uns einen fettigen Burger und schrieben einige Postkarten. Die Geothermalgebiete bei Hverarönd und Namafjall in der Nähe enttäuschten ein wenig, was auch an dem stetigen Regen lag, der mitunter kräftig niederging. Direkt neben der Straße gab es einen blauen See, der aussah wie die "Blaue Lagune", allerdings nicht erschlossen war. Tobias fuhr so dicht heran, dass wir fast aus dem Bus in den See hüpfen konnten. Ein Gruppe Jugendlicher war zusammen mit einigen Erwachsenen ebenfalls in das ultrablaue Wasser gestiegen. Schnell schnappten wir einige Gesprächsfetzen auf und erkannten eine betreute Riege schwer erziehbarer junger Deutscher, die wohl hier oben zwischen den Schafen und dem Meer erfahren sollte, worum es im Leben geht. Die Ausdrucksweise und das aggressive Verhalten zeugten von den Schäden, die sie in unserer Gesellschaft genommen hatten. Arme Isländer, müssen sich mit den Problemen des Festlandes herumschlagen, obwohl es das hier sicher auch gab. Wir wollten von der Krafla zum Dettifoss laufen. Zunächst erwogen wir noch den Weitermarsch durch Asbyrgi, wobei die Rückreise noch unklar war. Also machten wir aus, am Dettifoss umzudrehen und außen um die Krafla herum wieder zum Auto zu stoßen. Wir waren dermaßen laufhungrig und sehnten uns nach brennenden Beinen und nassen Rücken unter dem schweren Rucksack. Von Reykjahlid ging es durch die Lavagebiete Leirhnjukshraun am Krafla-Viti vorbei. Endlich frische Luft, Berge, Sicht, Wildnis und, nachdem wir den ganzen Touristenkram hinter uns gelassen hatten, auch Einsamkeit. Es ist schon ein wenig anmaßend, ständig die angetroffenen Fremden abfällig als Touristen zu bezeichnen, selbst wenn das auf die teils verächtlichen Gedanken beschränkt bleibt. Selbstverständlich sind Tobias und ich auch POPELIGE TOURISTEN! hier oben, und könnten die Isländer auf uns verzichten, würden sie es mit Sicherheit auch tun. Aber was soll man nur mit einem Land anfangen, in dem noch nicht einmal Kartoffeln wachsen... Komplett nass geregnet rauchen wir unter unseren Kapuzen die letzten Zigaretten. Die Mooskissen an dem nahen Steilhang strahlten trotz Sauwetter "künstlich" neongelb und leuchtgrün. Auf den überaus interessanten Pflanzen hingen jeweils große und glitzernde Wassertropfen. Am Pass warfen wir noch einen kurzen Blick in die Karte. "Eigentlich müssten wir die Schäferhütte in der Hildarhagi bald sehen können", meinte ich. Kurz darauf tauchte sie, eingerahmt von einem wunderschönen und vollständigen Regenbogen, unter uns auf. Weil es plötzlich wieder heftig schüttete, beschleunigten wir unsere Schritte und öffneten bald darauf die Tür. Ein markerschütternder Schrei durchdrang die Stille. Die Hütte war offensichtlich schon besetzt, und ich hatte die Insassen durch mein beherztes Eintreten aufgeschreckt. Die zwei wenig bekleideten Mädels schnellten von Ihren Stühlen hoch, warfen sich mit weit geöffneten Augen eilig ihre Schlafsäcke um und starrten in unsere Richtung. "I am very sorry", stammelte ich kurz, ging rückwärts wieder raus und schloss die Tür von außen. "Was ist denn da drinnen los?" fragte Tobias. "Da sind zwei Mädels. Die sind wohl heftig nass geworden, haben ihre ganzen Klamotten aufgehängt, hocken jetzt in der Unterwäsche auf den Stühlen und wärmen sich am Gaskocher", antwortete ich. "Ja sollmer jetzt im Rechn stehn?" fränkelte Tobias. "Wir warten noch eine Weile und klopfen dann höflich", war mein Vorschlag. Gesagt getan: "Can we come in now?" fragte ich nach einigen Minuten. "Yes", kam es zweistimmig und piepsend aus dem Inneren der Hütte. Tropfend, stampfend und prustend betraten wir, etwas misstrauisch beäugt, das Trockene. Die beiden jungen Frauen hatten sich verunsichert in eine Ecke verkrümelt und musterten uns kritisch, während sie sich so weit in ihre Schlafsäcke gewickelt hatten, dass nur die Köpfe herausschauten. "Was'n Scheißwetter", brummelte Tobias, als er seinen Schlafsack auf eine der Schlafpritschen warf. Urplötzlich fingen die beiden Mädels lauthals an zu lachen und giggelten und kicherten geschlagene zehn Minuten ununterbrochen, wobei sie kein Auge von uns ließen und sich noch gegenseitig anstachelten. Von der Situation ein wenig überfordert und irritiert, ignorierten wir die beiden zunächst und hingen ebenfalls unsere Habe zum Trocknen auf. Nach einiger Zeit musste ich einfach fragen: "Did we miss anything funny? May we laugh with you?" Damit fachte ich das Gelächter der beiden nur noch mehr an, sie krümmten sich und schüttelten sich und sie kreischten. Verdutzt warf ich Tobias einen unschlüssigen Blick zu. Er zuckte mit den Achseln. "Wir sind auch Deutsche", sagte schließlich eines der Mädels grinsend. Ihre Freundin ergänzte: "Wir sind ziemlich nass geworden und als wir uns gerade umgezogen hingesetzt hatten, meinte ich, jetzt könnten doch zwei Kerle hereinkommen und uns den Nacken massieren. Zack, da seid Ihr reingestürmt." Es wurde ein sehr gemütlicher Abend und wir unterhielten uns gut und fanden die beiden richtig nett. Eine der jungen Frauen arbeitete auf der Insel und hatte ihre Freundin aus Deutschland zu Besuch. Und nein, wir tauschten nur Teebeutel und Tütensuppen. Schließlich waren wir hier auf Island und nicht auf Malle, Schäferhüttchen hin oder her. Ich dachte damals keinen Moment an das, was viele augenzwinkernd dachten, als ich ihnen die Geschichte irgendwann später erzählte.

Die beiden Wandersfrauen bestanden am nächsten Morgen darauf, mit uns zum Dettifoss zu laufen. Also Aufbruch zu viert im Regen über eine sandige Ebene, ohne Landmarken und bei nur 100 m Sicht. Tobias und ich navigierten mit Karte und Kompass und fanden den Dettifoss trotz ordentlicher Missweisung auf Anhieb. Die Mädels zeigten sich beeindruckt von unseren navigatorischen Fähigkeiten und dem Umgang mit der Magnetnadel. Pah, Frauen bewundern Männer manchmal nur, weil sie glauben, wir stehen drauf. In Wirklichkeit haben sie selber genau kapiert, wie der Kram funktioniert und wissen es unter Umständen sogar besser. "Wo habt ihr das gelernt?" wollten sie wissen. "Bei der Bundeswehr", antworten wir im Chor. "Was habt ihr da gemacht?" "Tobias war Landjäger und ich war Fallschirmjäger", provozierte ich Tobias. "Landjäger, so wie die Würstchen, so was gibt es da?" fragten die beiden. "Du altes Arschloch", höhnte Tobias. "Das heißt einfach nur Jäger, du blöder Aufklatscher." Wir scherzten und lachten und bekamen das nasse Wetter kaum mit. Am Dettifoss konnten wir die Gischt vom Regen nicht unterscheiden. Außer uns war noch ein weiterer Trekker da. Autoreisende gab es keine, vermutlich war die Strasse noch zu. Der Deutsche zeltete direkt am Wasserfall. Er war Profi-Fotograf und wartete schon seit Tagen auf das richtige Licht. Von der Krempe seines Indiana-Jones Huts rann das Wasser. Er war ganz glücklich, als er mit Tobias Leica R5 ein Erinnerungsfoto machen durfte und beäugte das Teil interessiert. Ich bewunderte sein Durchhaltevermögen, in dieser lauten und feuchten Umgebung tagelang auszuharren. Hoffentlich bekam er sein Bild. Er hatte es sich verdient. Unsere kleine Wandergruppe lief noch etwas über die grünen Flächen nahe des Wasserfalls. Die grau-weiße Wasserwand war schon beeindruckend. Wenn man ganz vorne an der Kante steht und auf die stürzende Wand stiert, stellt sich nach einigen Minuten ein Schwindelgefühl ein. Ich kenne das Phänomen aus der Fliegerei und probierte es prompt aus. Tobias ahnte, was ich vorhatte und sagte: "Geh halt nicht so nahe ran, sonst wachst du im kalten Strudel wieder auf." Es war derart faszinierend, dass ich gar nicht merkte, wie mich Regen und Gischt bis auf die Knochen durchnässten. Als mir der erste Wassertropfen, trotz Regenzeug, die Kerbe hinunter lief, brach ich die Aktion ab und gesellte mich zu Tobias und unseren zwei "Reisebekanntschaften". Sie standen dicht gedrängt unter einem kleinen Hang, dessen Grasvorsprung sogar ein wenig Wetterschutz bot. Einige Altschneefelder säumten die südlich gelegenen Hänge und die unteren Kanten der Schlucht.
"Ach kommt doch noch mit nach Asbirgy, das soll ganz schön sein", betteln die zwei Mädels. Im Nachhinein hätten wir die Tour laufen sollen, und ich bereue unsere ablehnende Entscheidung. Zu diesem Zeitpunkt überwogen aber unsere Bedenken, ohne mehrtägigen Zeitverlust wieder am Auto sein zu können. Inzwischen weiß ich, dass es kein Problem gewesen wäre, auch wenn die Busse so früh im Jahr noch nicht fuhren. Schließlich hätten wir im Notfall auch komplett wieder zurücklaufen können. Aber Tobias und ich wollten auch eine ungestörte Tour, suchten die körperliche Anstrengung und hatten, nachdem wir drei Jahre zuvor zusammen durch Chile gelaufen waren, auch ein gewisses Nachholbedürfnis an dem wortkargen Austausch zweier Seelenverwandter. Unser Draußen-Gefühl, das herbe Erlebnis der Natur und der Einsamkeit, die wortlose Kommunikation, die intensive Wahrnehmung der allmächtigen und grenzenlosen Weite, wollte sich nicht einstellen, solange wir ständig auf zwei Mädels mit völlig überladenen Rucksäcken warteten. Die gaben sich zwar richtig Mühe und quälten sich tapfer über den Sandboden, hatten aber ein anderes "Verhältnis" zur Umgebung als wir.
"Das war aber nicht besonders anständig und auch nicht nach Knigge", unterbrach ich unser Schweigen, nachdem Tobias und ich das Donnern des Dettifoss und unsere Begleiter seit 5 Kilometern hinter uns gelassen hatten und zurückliefen. "Wir haben die beiden buchstäblich im Regen stehen lassen, obwohl sie uns eigentlich um unsere Gesellschaft gebeten hatten. Und warum hast du denen nicht gesagt, dass ihre Rucksäcke viel zu schwer sind?" machte ich meinen Gewissensbissen Luft.
"Ach, die merken das schon, oder willst du hier den Tippgeber machen wie die Typen im Fitnessstudio, die dir immer vormachen, wie es richtig geht? Außerdem haben die uns sowieso für zwei introvertierte Spinner gehalten, die sich auf Spiritual-Trekkingtour befinden. Wahrscheinlich denken die auch noch, wir sind schwul", sagte mein Kumpel, ohne mich anzusehen." "Womöglich wundern die sich, warum wir keine Stirnbäder tragen, keine langen Haare haben und auch nicht bei Sonnenuntergang in Videokameras flüstern", ergänzte ich.
Bis zurück zur Schäferhütte strafte er mich mit Schweigen, weil ich es gebilligt hatte, dass zwei Außenstehende unsere Gesellschaft stören. Wir trockneten unsere Sachen in der ersten Sonne, die wir seit unserer Ankunft auf Island erleben durften und machten Rast vor der bekannten Schäferhütte.
"Komm, wir laufen noch zum Auto zurück", meinte Tobias, als wir unsere Nudeln vor dem Verschlag in uns hineinlöffelten." "Es ist doch schon 5 Uhr, und zum Auto sind es gute 25 km, und wir haben heute schon 24 km gemacht", meinte ich und hatte bei dem Anblick der Steigung eigentlich wenig Lust.
"Ach stell dich net an, des gibt ne super Aussicht auf dem Pass bei dem Wetter. Vielleicht könne mer sogar den Herdubreid oder die Askja sehen", raunte Tobias herüber. Da es tatsächlich aufklarte, ließ ich mich umstimmen. Das nahe Hochland präsentierte sich in der Abendsonne, die stundenlang schien, von seiner besten Seite und entschädigte uns für die vergangenen Regentage. In dem langwelligen roten Licht sahen die weithin sichtbaren Berge, besonders der Herdubreid, einfach umwerfend aus. Ohne Pause steigerte sich der Rückmarsch zu einem kleinen Kräftemessen. Es wurde nicht dunkel, und so marschierten wir durch die im gedämpften Licht liegende Vulkanlandschaft an der Krafla und erreichten gegen 1 Uhr den Bus. "Du hast sie ja nicht alle", schnaufte ich, an den Bus gelehnt, "auf der ersten Tour schon 50 km am Tag runterleiern."
"Des hab ich mir gedacht, wenn son oller Aufklatscher mal übern Buckel muss, kricht er den Finger net ausm Arsch", wetterte Tobias auf fränkisch. Ich konnte in dem Dämmerlicht aber auch erkennen, dass seine Beine weich waren und er ob dem Ende der ersten Tour auch froh war. Zum Einschlafen leerten wir noch eine halbe Flasche Glenmorangie und lauschten dem Gefauche des Erdwärmekraftwerkes in der Nähe.

Wandertour Askja

Brummende Autos und schlagende Türen rissen uns nach gefühlten 2 Stunden aus dem Schlaf. Die Tourismus-Saison an der Krafla hatte begonnen, und in kürzester Zeit war der Parkplatz überfüllt. Mindestens hundert Menschen bewegten sich durch das nahe Lavafeld. Die vielen bunten Outdoorklamotten machten sich gut vor dem schwarzen Hintergrund. Es herrschte Bilderbuch-Rückseitenwetter mit strahlend blauem Himmel und knallweißen Kumuluswolken. Fluchtartig knatterten wir die Ringstraße zurück zur Einfahrt der immer noch gesperrten F88. Ein Bautrupp stand direkt neben dem "Gesperrt-Schild", und die drei Arbeiter machten Frühstücksbrotzeit im Führerhaus ihres LKW. "Komm, wir fahren einfach vorbei, und wenn man das nicht darf, pfeifen die uns schon zurück", schlug Tobias vor.
Also bogen wir ab, passierten den LKW und grüßten die Bauarbeiter. Die nickten uns zu und reagierten sonst gar nicht. Vielleicht darf man das doch, mutmaßten wir und verdrängten die Warnungen aus unseren Reiseführern. Da wurde immerhin von Frühjahrsschneeschmelze und hohen Strafen erzählt. "Wenn die uns erwischen, ham mer halt gelitten", meinte mein Begleiter mit hochgezogenen Schultern. "Dass wir zu blöd waren, das Schild zu lesen, glauben die uns sofort."
Der gute T3 legte sich mit der F88 an. Tobias nahm die Schlaglöcher zwischen die Räder und wich den großen Brocken aus, die zahlreich auf der Piste lagen. Die Straße bot fast immer einen Blick auf den Herdubreid, dem man stetig näherkommt. Der T3 federte öfter mal durch und saß an einer Stelle auch ein wenig auf. Dann bin ich ausgestiegen und habe Tobias langsam über die kritische Stelle gelotst. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, es wäre kein Problem, die F88 mit einem solchen Fahrzeug zu befahren, es ist aber mit einiger Umsicht möglich. Als wir an die erste Furt kamen, wuschen wir uns im Fluss und badeten in den glitzernden Fluten, die wir uns mit einem Wildentenpaar teilten. Unterhalb des kleinen Wasserfalls gibt es ein 2 m tiefes, türkisblaues Becken, in dem ich herumplanschte. Eine Idylle fast wie in einem Kitschroman oder Märchen. Hier muss auch irgendwo das Foto gemacht worden sein, welches den Deckel meines Island-Bildbandes säumt. Angesichts des Schlafrückstandes und der eiskalten Bade-Aktion brauchten wir einen Mittagsschlaf. Die ersten Tropfen der Schauer, die aus den Quellwolken fielen, pladderten sanft auf das Blechdach des VW-Buses. Total erschlagen und noch mit dem Marsch des Vortages in den Knochen knackten wir voll weg. Wieder zwei gefühlte Stunden später weckte uns heftiges Klopfen an die Scheiben. Schlaftrunken schreckten wir hoch und erkannten die zwei Mädels aus der Schäferhütte, die sich einen Monster-Jeep gechartert hatten und auf dem Weg zur Askja waren. Sie lachten und winkten und rissen die Türen auf. Urplötzlich waren alle wach, und wir freuten uns über das überraschende Wiedersehen. Der Fahrer des Jeeps rief ungeduldig seine beiden Kundinnen zurück. "Wir sehen uns an der Askja", riefen sie und stiegen schon in den Wagen mit den Riesenrädern. "Mensch, hock dich ans Steuer und fahr durch den Fluss, solange der Kerl mit seiner Karre noch hier ist", machte ich Tobias an. Er streifte sich schnell den Schlafsack herunter, setzte sich barfuß und in Unterhose ans Steuer, knatterte an und rollte durch den kleinen Fluss. Der Isländer folgte und warnte uns vor der nächsten Furt, die er unserem Auto nicht zutraute. "You were lucky to make this one but the next one is much deeper", warnte er und der V8 brabbelte mit wackelnden Antennen davon. "Meine Herren, hatte der eine Fahne! Ob die hier alle besoffen fahren?" fragte ich mich. Wenig später hielten wir an der Furt der Lindaa, stiegen aus und peilten die Lage. Der Fluss ist recht breit, klar und fließt auch nicht besonders schnell. Die eigentliche Furt verläuft in einem leichten Bogen stromabwärts und ist über mehrere Meter gut knietief. Der Untergrund bleibt durchweg fest. Wer sich die Sache aber nicht genau anschaut und einfach auf die gut sichtbare Ausfahrt zuhält, mutet seinem Auto ein beinahe bauchtiefes Becken zu. Wir diskutierten über die Machbarkeit und schritten den möglichen Fahrweg mehrfach ab. Tobias war dafür, ich war gegen eine Durchfahrt. "Wenn wir hier die Karre versenken, stehen wir blöd da", sagte ich. "Du bist ein alter Muffegänger, da fahr mer durch", hielt er mir vor. "Deine Dreckmühle saugt gerade auf Radhöhe an und es reicht schon, wenn die Zündung nass wird, dann geht nichts mehr", schrie ich in der Mitte des Flusses stehend. "Da bringt es auch nichts, den Morgen abzuwarten, weil das kein Gletscherfluss ist!" Wir stritten eine ganze Stunde hin und her und beschlossen, die Entscheidung nicht mit leerem Magen zu treffen. Nach dem Essen begann das Streitgespräch von neuem, wobei ich diesmal für die Durchfahrt war und Tobias dagegen hielt. Schließlich stellten wir den Bus etwas oberhalb des Flussbettes ab und gingen zu Fuß weiter. Dies war eine Schlüsselstelle in meinem Leben, und ich nahm mir fest vor, diese Furt letztendlich doch irgendwann sicher zu meistern. Und wenn ich dafür einen Unimog kaufen und zu einem Wohnmobil ausbauen muss! In meinem Kopf begann es, vor Ideen nur so zu brodeln und ich freute mich auf den langen Marsch, der vor uns lag, um diesen Gedanken in Ruhe zu Ende zu spinnen.

Kleine Anmerkung: 2004 versenkte ein Freund von mir seinen 4x4-Bus in genau dieser Furt, obwohl er den Bogen fuhr. Eine teure und aufwändige Abschleppaktion und eine Woche Reparaturen folgten. Nach eine zweiten Furt der Lindaa ein paar Kilometer weiter passierten wir die Oase Herdubreidarlindir. Drei isländische Studentinnen waren dabei, in der Porsteinsskali-Hütte "Klarschiff" zu machen. Sie waren gestern angekommen und verbrachten den Sommer als Hüttenwirtinnen. "You can stay here tonight ", boten sie uns an. "You would be our only guests and we got beer and music", Tobias verzog ein wenig den Mund und schaute mich fragend an. Ich imitierte seine Grimasse. Schließlich schulterte er wieder den Rucksack, bedankte sich und ging nach draußen. Wir wollten das Wetterfenster nutzen und marschierten weiter in Richtung Herdubreid. Der Pfad verlief hinter der Hütte nach Westen. Ein gigantisches Lavafeld lag zu unseren Füßen und in der Ferne gab es Felsnadeln, die wohl aus Vulkanschloten entstanden waren, beinahe eine Wüste, und ich witterte schon ein Trinkwasserproblem. In dem porösen Gestein hielt sich schließlich kein Wasser. Auf der Nordseite des Schildvulkanes fand sich aber glücklicherweise noch Altschnee. Wir umgingen den Berg und kamen an einen kleinen abgesteckten Parkplatz. Das wunderte mich, denn es war gar keine Fahrspur auszumachen. Vermutlich war in diesem Jahr noch keiner hier gewesen. Am späten Nachmittag standen wir vor der kleinen Braedrafell-Schutzhütte etwas westlich und streiften die Rucksäcke ab. Im Hüttenbuch gab es tatsächlich im Jahr 2003 noch keinen Eintrag. Ich war fertig vom Schlafentzug, wusch mich und fiel auf eine der Holzpritschen. Da lag ich noch eine Weile und wünschte mir, Ulli wäre bei mir. Eine kleine Traurigkeit ließ meine Augen ein wenig feucht werden. Was sie wohl jetzt gerade macht? Ich stellte mir vor, sie wäre neben mir, schloss die Augen und schlief ein.

Am nächsten Morgen weckte mich das Windgeheul des kleinen Blechverschlages. Ein Sturm war aufgezogen und dichter Nebel verhüllte die Umgebung. Im Schlafsack aufrecht sitzend blinzelte ich aus dem Fenster. "Na, wach?" fragte Tobias, der dabei, war jedes Detail der Hütte zu untersuchen. "Ist Scheißwetter draußen, heute mache mer Bubu", meinte er und schloss das Türchen des kleinen Kanonenofens. "Alles da, Feuerholz, Trinkwasser, Verbandskasten, Schaufel, eine Trage", stellte er fest. "Dann lass die Finger weg davon, vielleicht braucht das mal einer", bezog ich wieder einmal die Gegenposition." "Wir brauchen kein Trinkwasser, und Feuer lassen wir auch aus". Diese Zwangspause kam mir gerade recht. Tobias und ich verlaberten auf dem Rücken liegend und an die Decke starrend den ganzen langen Tag und kurierten unseren Muskelkater. Wir diskutierten über Flugzeuge, aerodynamische Details und Motorisierungen, träumten von langen, weiten Reisen und unterhielten uns über Politik, Krieg und Frieden. Am Myvatn hatte ich einen auf Schafsmist geräucherten Lachs gekauft, auf den ich mich schon seit Tagen freute. Die Tütensuppen und Trekkingmahlzeiten hingen mir nämlich schon zum Halse raus. Der Fisch war aber gänzlich ungenießbar und erzeugte nur einen heftigen Würgereiz. "Ich kriege das widerliche Zeug nicht runter", hustete ich. "Wenn das Wetter morgen passt, gehen wir von hier ohne Gepäck zum Vulkan. Dann schnell hinauf und wieder hinunter", schlug Tobias vor. "Das dauert nur sechs Stunden." Ich machte mir hauptsächlich Sorgen über die steile Route, die auf halber Höhe noch verschneit war. Sollte es oben verharscht sein, würde es gefährlich. Wir hatten aus Gewichtsgründen weder Eispickel noch Steigeisen dabei und planten auch keine Besteigung des Berges. Die abnehmende Helligkeit kündigte die Nacht an. Der Wind machte gruselige Geräusche, die mich mitunter zusammenzucken ließen. "He, Thomas, schläfst du schon?" fragte mich Tobias. Ich gab einen brummenden Laut von mir. "Als du gestern an dem Wasserfall geschwommen bist, hab ich oben in den Bach gekackt. Der "Torpedo" ist nur einen halben Meter an dir vorbeigetrieben", offenbarte mir Tobias. Ich unterdrückte einen Lachanfall, den ich ihm angesichts dieser Dreistigkeit einfach nicht gönnte. Gegen 2 Uhr dösten wir langsam weg.

Tobias trat in Unterhosen vor die Tür und polterte mit offenen Wanderschuhen über die kleine Veranda zurück in die Hütte. "Hopp auf, beweg dein Arsch, heut könnte es klappen", meinte er und winkte mit dem Kopf in Richtung Herdubreid. Ein strahlend blauer und wolkenfreier Tag mit wenig Wind aus Nordost begann. Haferbrei gekocht, Müsli-Riegel und Trinkwasser gepackt, Kamera umgehängt und Kaffee getrunken. Eine Stunde später hatten wir den Weg zum Berg durch das Lavafeld hinter uns. Ohne Rucksack flogen wir förmlich durch die Landschaft. Die Route war gut auszumachen und begann oberhalb des kleinen Parkfeldes und verlief zunächst im Zickzack durch loses Geröll. Die Schneeschmelze war in vollem Gange, und der ganze Hang gab glucksende und gurgelnde Geräusche von sich, obwohl wir noch komplett im Schatten liefen. So was riecht nach Steinschlag, und das lose Zeug oberhalb hatte einen beachtlichen Schüttwinkel. Ich war heilfroh, dass oberhalb niemand stieg, weil wir trotz großer Vorsicht auch einige kleine Steinlawinen und Steinschläge auslösten. Aber unterhalb befand sich niemand, und so kommentierten wir jeden verschuldeten Steinschlag nur mit einem kurzen Seufzer und blieben dicht hintereinander. "Mein Auto würde ich da unten nicht abstellen", rief ich einem größeren Stein hinterher. Mit jedem Meter wurde der Blick grandioser. Als wir die erste Firnzunge erreicht hatten, machten Tobias und ich eine kurze Trinkpause. "Das Zeug ist schön weich, wenn das so bleibt, kommen wir über das steile Stück weiter oben", beurteilte Tobias den Schnee. Er setzte die blau eloxierte Siggflasche an und hielt urplötzlich inne, da das Poltern eines Steinschlags zu hören war. Wie gelähmt starrten wir den Hang hinauf und suchten die Ursache. "Da", schrie Tobias, "da geder nunder." Er hielt die Flasche noch am ausgestreckten Arm und wies in die Richtung. Ungefähr 200 m oberhalb sprangen in flachen Bögen einige kopfgroße Brocken den Steilhang hinab. "Das geht an uns vorbei", bemerkte ich und behielt zum Glück recht. Die Steine kullerten etwa 50 m nördlich von uns den Hang herunter und lösten weitere Abgänge aus. "Alter Vati, das geht ja gut los. Dieser beschissene Abbruch am Übergang zum Gipfelplateau, da kam das her", fluchte ich. Wir mussten besser aufpassen und öfter nach oben schauen. Es wurde steiler und steiler, und zum Glück durchbrachen wir den Firn immer bis auf Knöcheltiefe. Trotzdem wollte ich jetzt nicht ins Rutschen kommen. Die Eiskruste wurde mit jedem Höhenmeter dicker, und meine Befürchtungen bestätigten sich. Der Hang wurde sehr steil und die Eiskruste mehrere Zentimeter dick. Konzentriert kratzten wir Stufe um Stufe in den Schmelzharsch. "Was wir hier machen, ist totale Dilettantenscheiße, ist dir das klar?" meckerte ich. "Jetzt einen Eispickel oder wenigstens ein paar Grödeln und alles wäre easy." Bei der Steigung könnte man auch schon an Seilsicherung denken. "Ah, da legst dich halt am Bauch und rutschst Füss voraus", begann Tobias. "Ja, und dann mit Karacho in das Geröllfeld 300 Meter weiter unten... Super!" beendete ich. Das Ziel winkte, denn wir waren bis auf 5 Meter an die tropfende und triefende Kante herangekommen und krochen kurz darauf durch den tiefen Schnee auf das gänzlich verschneite Plateau. Mir graute es vor dem Rückweg, das trübte die fantastische Aussicht. "Das sind mindestens 1000 m bis auf den Boden", keuchte ich, ohne Tobias anzusehen, der sich den Schnee von der Jacke klopfte. "Leckst mich am Arsch, is des geil", antwortete er. "Viel schlimmer hätte der Harsch nicht sein dürfen", fuhr ich fort. Er bewegte nur abwägend den Kopf hin und her. "Außerdem müssen wir unbedingt die Ecke hier wieder finden. Das ist mit Sicherheit der einzige Weg nach unten und unsere Schlüsselstelle." "Es is noch lang vor Mittag und die Sonne taut des Eis dann auf der Westseite", war der Kommentar. Wir checkten das Wetter und den Weg auf den Gipfel, der nun endlich sichtbar war. Leider war der Schnee noch richtig tief hier oben, und wir versanken teilweise bis zum Schritt. Kurz darauf bildete sich eine kleine Leewolke am Gipfel, die schnell anschwoll. "Fuck, es zieht zu", schnaufte ich und schaute ständig auf unseren Rückweg. Es ging langsam, aber stetig voran, und von meiner Nase tropfte der Schweiß. Der Gipfel war nun in den Wolken und auch Tobias begann, skeptisch dreinzuschauen. "Das Wetter ist noch dünn und Schnee bekommen wir keinen", versuchte ich uns zu beruhigen. Wir befanden uns urplötzlich selbst in der Suppe und konnten schemenhaft den unter einer dicken Eisschicht liegenden Gipfel erkennen. "Verdammt, mir kommen net ran", schimpfte mein Kumpel und rutschte mehrfach eine kleine Eisstufe immer wieder herunter. Der Gipfel war so nahe, dass wir Schneebälle hinwerfen konnten, aber erreichen konnten wir ihn nicht. Mittlerweile hatten wir totalen Whiteout. Also kehrten wir um und fanden zielstrebig den Abstieg, indem wir unseren tiefen Spuren folgten. Wir befürchteten inzwischen doch Schneefall und eilten dem Abbruch entgegen. Wie erwartet war der Abstieg einfacher, da das Schneefeld nun weicher war. Wir fuhren auf unseren Wanderschuhen Ski und rutschten in der gleißenden Sonne bis zum Ende der Firnzunge hinab. Punkt sechs Stunden nach unserem Aufbruch standen wir wieder an der Schutzhütte und beobachteten die Wolken, die den Berg nun vollständig einhüllten. Trotz des Misserfolgs war das ein einmaliges Bergerlebnis. Mit einiger Wahrscheinlichkeit waren wir im Jahr 2003 die ersten, die (nicht ganz) auf dem Gipfel waren.

Mein Begleiter kämpfte etwas mit überreizten Augen, da er gestern auf dem Gipfelplateau aus ungeklärten Gründen seine Sonnenbrille nicht auf hatte. Mir war es nicht aufgefallen, weil wir hintereinander gingen. "Als ich es gemerkt hatte, war es schon zu spät", jammert er. "Oh Mann, ich bin aber auch ein Holldoll, bei der Schneebuddelei an der Kante habe ich sie abgesetzt und vergessen". Tja, jetzt musste er einen Tag weinen, was aber ganz gut passte, weil wieder einmal das Wetter aufgedreht hatte. Es stürmte heftig, und da wir kein GPS dabei hatten und mit Karte/Kompass unterwegs waren, reichten uns 10 m Sicht nicht ganz. Dazu hatten wir keinen Bock auf waagrechten Regen von vorn. Im Schlafsack liegend verrauchte ein weiterer Tag. Am Morgen des nächsten Tages kam Sturm aus Südwest auf, es begann zu schneien. Tobias hat seine LDS-Aktion (Lernen-durch-Schmerz) erfolgreich hinter sich gebracht und rannte in der Bude hin und her. "Jetzt leg dich hin und gib Ruhe!" herrschte ich ihn an. "Vielleicht dauert das mit dem Wetter länger und wir brauchen unsere Kraft noch." "Eh, Thomas, draußen ist jetzt alles weiß, da liegen 10 cm Schnee", freakte er herum. "Dann setz schon mal die Brille auf", foppte ich ihn. Da wir uns kaum bewegten und 24 Stunden im Schlafsack lagen, reichte eine kleine Mahlzeit am Tag aus. Immerhin wollten wir noch zur Askja und brauchten die kostbaren Vorräte noch. Am späten Nachmittag erreichte der Sturm seinen Höhepunkt. Die Bude ächzte und knarrte, und wir waren sehr dankbar, jetzt nicht im Zelt liegen zu müssen. Meinen Islandreiseführer hatte ich inzwischen zum dritten Mal durchgelesen und ich kannte die Geschichte des Landes inklusive der wichtigsten Jahreszahlen mittlerweile auswendig. Daher erteilte ich Tobias eine kleine Nachhilfestunde. Um Mitternacht fielen uns die Augen zu.

12"Stunden später stürmte es immer noch, aber nicht mehr ganz so heftig. Nebelfetzen wehten, für einige Sekunden zeigte sich immer wieder die Sonne. "Komm, wir latschen heute weiter", schlug ich vor. Wir machten einen kurzen Eintrag ins Hüttenbuch und warfen die Übernachtungsgebühr in den Blechkasten, der an der Wand hing. Vor der Tür schulterten wir die Rucksäcke, und Tobias zog sich, wie immer, erst mit den ersten Schritten richtig an, wobei er sein Gepäck eine Weile locker über nur einer Schulter trug. "Schau mal, das Klohäuschen ist umgefallen", rief ich ihm hinterher. Der mit Steinen beschwerte dreieckige Kasten hatte wohl den Sturm letzte Nacht nicht ganz vertragen. Wir stellten den überdimensionalen Geigenkasten kurzerhand wieder auf. Es ging 20 km fast genau nach Süden. Wenn uns der Nebel umgab, sahen wir in dem Lavafeld lauter kleine Steintrolle, die uns aus Ihren Verstecken beobachteten. Jetzt war auch klar, wie die Isländer auf Ihre ganzen Elfengeschichten gekommen waren. Ich begann selbst ein wenig daran zu glauben und schauderte. Um Mittag standen wir an der dreieckigen Hütte "Dreki" und waren ganz alleine. Die mystische Schlucht um die Ecke beeindruckte uns sehr. Besonders ulkig fanden wir die schwimmenden Tuffsteine, die der Fluss transportierte. "Komm, wir lassen die Rucksäcke hier und laufen noch zum See", schlug Tobias vor, als wir wieder vor der Schlucht standen. Auf der Fahrspur marschierten wir Richtung Öskjuvatn. "Der hieß mal Rudolfsee", gab ich mit meinem neu erlangten Wissen an. "Du spinnst ja, Adolfsee oder was?" lachte Tobias ungläubig. Inzwischen liefen wir wieder auf Schnee, der zunehmend tiefer wurde. Nach weiteren 3 km versanken wir bei jedem Schritt bis zu den Knien. Von meiner Nase tropfte wieder einmal der Schweiß. Die Straße war nur schwer von der Umgebung zu unterscheiden, aber glücklicherweise gab es eine Jeep-Spur. Vorankommen strengte höllisch an und wir wünschten uns Skier oder Schneeschuhe. "Die hatten wir mal in Norwegen, da kannste auch über den tiefen Pulverschnee watscheln", schwärmte ich. Aus dem Schnee schaute ein Wegweiser nur etwa 20 cm heraus. Wenig später entdeckten wir ein Toilettenhäuschen, das ebenfalls nur knapp aus dem Schnee spitzte. Die Autospuren endeten und plötzlich gab es unzählige Fußspuren. "Guck mal, das muss ja ein ganzer Bus gewesen sein", lachte ich. "Ach was, im Schnee fahren die Jeeps eben hintereinander. Das war bestimmt so eine Tour, wie die Mädels sie gemacht haben", meinte Tobias. Vielleicht waren sie es tatsächlich, dachte ich. Ganz still und unter den tief hängenden Wolken sah der noch gefrorene Öskjuvatn bedrohlich aus. Er lag starr und dunkel auf der Lauer, als habe er nur auf uns gewartet. Das Eis knackte und es war so, als wolle er sagen: "Hallo ich schlafe nicht." Wenig später standen wir an dem kleinen Krater Viti, der aufgrund der Erdwärme schneefrei ist. Es ging auf 22 Uhr zu, und die Umgebung wirkte auf uns: dieser Vulkan in der Einsamkeit, dieser Schwefelgeruch in der Nase, der riesige und eisige See und das ihn umgebende verschneite Gebirge. Für solche Momente lohnen sich die ganzen Strapazen... Das Bad im Krater ließen wir aus, weil wir einfach keinen Bock drauf hatten. "Jetzt da den Schlick nunder rutschen und in die trübe Brüh?" tippte sich Tobias an die Stirn. "Da unten siehste nichts, und warm baden kann ich auch dahemm." Wie erwartet war der Rückmarsch durch den Schnee wieder irre anstrengend. Nach 35 km immer noch die Beine so hoch heben zu müssen, das geht in die Knochen. "Wenigstens haben wir nachher die Hütte ganz für uns", munterten wir uns gegenseitig auf. Es sollte anders kommen. Eine Gruppe Ungarn mit 6 Fahrzeugen war eingetroffen und beherrschte die Szenerie. 30 Personen kochten, aßen, erzählten, diskutierten, zogen sich um und lagen auf den Pritschen. Es stank nach Schweiß, Stiefeln, nassen Unterhemden, überall hingen klamme Regensachen. "Da verpiss mer uns", flüsterte Tobias und packte seinen Rucksack, den er vor einigen Stunden auf das Bett geworfen hatte, in dem jetzt ein Mann über einer Karte saß. Der Ungar lächelte nur und widmete sich wieder seiner Karte. Wir packten unseren Kram und schlossen die Tür von außen. "You can stay in the hut", meinte der Tour-Guide, der unsere Flucht bemerkt hatte und auf der Veranda eine rauchte. "No thank you." Die Gruppe hatte die Hütte, wie wir, nicht reserviert.

Unsere Vorräte gingen zur Neige, und wir beschlossen den Rückmarsch. Schon zeitig brachen Tobias und ich auf und liefen durch die Aschelandschaft. Das Wetter war uns hold, und bisweilen wurde es sogar richtig warm in der Sonne. Wir marschierten die Fahrspur zurück und erreichten bald die Kreuzung zur F910 Richtung Mödrudalur. Just in diesem Moment kam eine Amerikanerin in einem strahlend weißen Riesenjeep angewalzt, ließ die Scheibe runter und fragte: "Is everything all right?" Sie war offensichtlich erstaunt, dass hier Leute zu Fuß unterwegs waren. Ihr Mann beugte sich herüber: "Do you have enough water?". "Yes, thank you, we are fine", nickte ich und war auch ein wenig dankbar der Nachfrage. Wenig später kam uns ein Jeep der isländischen Bergrettung entgegen. Der Fahrer sprach uns an und erkundigte sich nach unserer Herkunft, unseren Plänen und ob wir brav die Hütten bezahlt hätten. "Yes, Sir." "Have you climbed mount Herdubreid?" wollte er wissen. Tobias wurde ob der Fangfrage hellhörig, ich antworte wieder: "Yes, Sir", und überlegte in welches Fettnäpfchen ich jetzt wohl getreten war. "How are the conditions up there", erkundigt er sich. "One meter of snow at the top and icy slopes. We also had some falling rocks", erzählte ich. "Yes, that is always a problem", meinte er, grüßte und wünschte uns gute Reise. In der Ferne glitzerte die Oase Herdubreidarlindir, und die letzten Kilometer zum Bus zogen sich. Ich erreichte unser Gefährt als erster und sah Tobias am Horizont. Dieses Land ist herrlich, und ich atmete die Weite in vollen Zügen. Es würde noch einen Moment dauern, bis sich der kleine Tobias auf Normalgröße gelaufen hatte. Also kletterte ich auf das Dach von unseren Bus, um das abendliche Schauspiel besser mitzukriegen. Da entdeckte ich unter einem der Scheibenwischer einen Zettel, auf dem stand: "Please report to the police station in Husavik." Verdammt, jetzt ging es uns wegen der gesperrten Piste an den Kragen. Das Argument mit den Ungarn oder den Amis, die auch hier unterwegs waren, interessierte die Polizei sicher wenig. Die Strafen sollten empfindlich hoch sein, und es hatte auch schon Ausweisungen gegeben. Dazu hatten wir uns durch die Aktion tüchtig daneben benommen und sollten uns eigentlich schämen. Während Tobias stetig näher kam, stellte ich mir einen isländischen Knast von innen vor. Hoffentlich gibt es da keinen Schafsmist-Räucherlachs zu futtern. "Scheiße, was mache mer jetzt?" ist sein Kommentar, als ich ihm den Zettel zeige. "Auf jeden Fall erstmal pennen, ich hab nach dem Tag keinen Bock mehr, die Rappelpiste hochzueiern."

Wir tranken im Bus Kaffee, und ich saß bei geöffneter Schiebetür auf der Ladekante. In der Ferne war ein Auto zu hören, das sicher irgendwann hier vorbeikommen würde. Es handelte sich um einen Polizei-Jeep und die Beamtin hielt direkt vor uns. Sie war allein unterwegs und trug keine Waffe, zumindest nicht sichtbar. Wir standen beide auf und stellten uns neben den Bus. "Good morning, mam", grüßte ich. "Good morning, are you the owner of this car?" fragte sie. "I am the owner", vermeldete Tobias. Sie wendete sich ihm zu und meinte: "You can not park here. Parking is only allowed at the hut." "We did not dare crossing the river", antwortete ich und fühlte ein leichtes Unbehagen, da ich in einer Befragung unangesprochen geantwortet hatte. "That was a good decision. We have pulled so many cars out of this river", sagte sie und schielte etwas kritisch auf unsere Gammelkiste. "Are you leaving now?" war die nächste Frage. Als Tobias nickte, nahm sie den Zettel vom Scheibenwischer, knüllte ihn zusammen, winkte kurz und fuhr davon. "Da haben wir aber noch mal Glück gehabt", sagte ich erleichtert.
Der Rückweg war langweilig. Tobias brauchte etwas aus dem Rucksack und meinte kurz: "Lenk mal." Er verließ das Steuer, ging nach hinten und ich lenkte vom Beifahrersitz aus. Da der Bus keine Mittelkonsole hatte, kam ich hervorragend ans Gaspedal. Er ließ sich Zeit und kramte lange in seinen Sachen herum. Nach zehn Minuten war es mir zu blöd. Da die Fahrspur tief ausgefahren war und das Fahrzeug sowieso von selbst die Richtung hielt, ließ ich das Lenkrad los, klemmte einen Stiefel aufs Gaspedal und ging ebenfalls nach hinten. Tobias war überraschend wenig geschockt, als ich plötzlich zusammen mit ihm am Tisch saß. Er schaute noch nicht mal nach vorne, sondern grinste nur schelmisch. "Du Arsch sollst doch lenken." Dann reckte er den Hals nach vorne und meinte: "Is ja cool." Wir machten ein Spiel daraus und kletterten zusammen aufs Dach, während der grüne Bus selbständig seinen Weg suchte. Vorher hatte ich noch den zweiten Gang eingelegt und den T3 im Standgas tuckern lassen. "Wenn jetzt die Polizeitante um die Ecke kurvt, sind wir fällig und zwar völlig zu recht", warnte ich. Der Bus schaukelte ohne Fahrer in Ruhe vor sich hin. Nach einigen Minuten passierte uns ein kleiner 4x4-Suzuki und die Insassen staunten nicht schlecht. Sie bogen ihre Köpfe, rissen die Augen weit auf und glotzten schräg nach oben durch ihre Scheibe. Es folgten einige Kurven, in denen Tobias auf dem Radkasten stehend bei geöffneter Tür mit den Fuß etwas nachlenken musste. Er kam aber immer wieder zurück aufs Dach. "Geh mal wieder runter lenken!" kündigte ich die nächste Biegung an. "Des geht auch so", redete er sich raus. Mit Spannung warteten wir auf das Hindernis. Es ging nicht. Der T3 rumpelte aus der Spur und fuhr sich fest. Nach der kurzen Ausgrabe-Aktion mit Klappspaten verzichteten wir fürs erste auf solche "Kleine-dumme-Jungen-Spielchen".

Das nächste Ziel war Husavik. Wir bunkerten Lebensmittel, füllten die Trekkingmahlzeiten auf, bummelten durch die Souvenirshops und gingen ein Bier trinken. Die Bedienung warnte uns vor dem hohen Preis des begehrten Getränks. Also zum Sparen waren wir nicht hierher gefahren, auch wenn wir arm waren. Vermutlich hatten sich schon einige ausländischen Gäste beschwert. "Mir ist egal, was die Brühe kostet", sagte ich und bestellte noch eine Runde. Danach besuchten wir das Museum. Ein Ausstellungsraum war allein dem traditionellen Walfang gewidmet. Auf einem Bild war eine Walfang-Szene dargestellt, und wir lasen interessiert alle Beschreibungen. In der Tierschutzwelle der 80er erzogen, musste ich schon früh lernen, dass Walfänger böse Menschen sind und Wale nur töten, um reich zu werden. Weil mehr tote Wale mehr Geld bringen, wird es bald keine mehr geben, und deshalb ist Greenpeace super, weil die das aktiv verhindern wollen. Eigentlich irgendwie schlüssig das Ganze. Aber das Foto zeigte arme Menschen, die im alten Husavik einen Wal zerlegten und ihn komplett verwerteten. Sie gewannen aus Waltran Brennstoff zum Leuchten und Heizen und kochten aus den Knochen Seife. Fleisch und Fett wurden gegessen. Es blieb nichts übrig, kein Gramm ging verloren. Im Text stand, dass Walfang nach Missernten die einzige Möglichkeit war, den Winter zu überleben. "Und da kommen unsere grünen Diskutier-Pädagogen vom Festland und heben den Zeigefinger", motzte ich. "Die sollen hier erstmal einen Winter in der Dunkelheit hungern und frieren, bevor sie den Isländern erzählen, was sie in ihrem eigenen Land dürfen und nicht dürfen", entfuhr es mir. Und blutig ist die Angelegenheit mit Sicherheit, aber würde man ersatzweise 50 Rinder schlachten, sähe das genauso aus. Freiwillig ist nämlich noch kein Filetsteak auf den Teller gehüpft. "Na ja, bloß weil die heute keine Wale mehr fangen, muss hier auch keiner frieren und hungern", meinte Tobias, und wie immer hatte er auch ein wenig Recht. Heute verdienen die Leute in Husavik Geld mit den Walen, indem sie Touristen an ihnen vorbeischippern. Eine unblutige und tierfreundliche Methode, die unsere Unterstützung findet.
Wir kauften zwei Tickets für die nächste "Walewatching-Tour". Der Inhalt zweier Reisebusse ergoss sich auf den Parkplatz, und zusammen mit dem, was unser grüner T3 hervorwürgte, war die Ladung des kleinen Schiffes mit dem stilisierten Orca am Mast komplett. Die Tour wurde von jungen, englisch sprechenden Einheimischen geführt. Über Lautsprecher hielt der Führer die Leute an, selbst in alle Richtungen Ausschau zu halten und sofort Laut zu geben, sollte ein Wal gesichtet werden. Dabei erklärt er die Einteilung der Richtungen nach der Uhr, wobei der Bug des Schiffes die 12-Uhr-Position ist. Ich dachte immer, beim Schiff gibt es Steuerbord und Backbord, sowie Voraus und Achteraus. Nach einer halben Stunde hatten wir noch immer kein Tier gesichtet. Tobias tippte mich leise an und wies mit einer kleinen Kopfbewegung auf die Bucht: zweifelsohne ein Wal und der erste lebende, den ich zu Gesicht bekam. Wir machten uns einen Spaß daraus und hielten die Klappe, um zu sehen, wann es wohl die anderen merkten. Einige starrten sogar in die entsprechende Richtung. Ab und zu war das "Blasen" des Wals schon deutlich zu hören, aber selbst die Crew oben auf der Brücke bemerkte nicht das Geringste. Als das große Tier so nahe war, dass Tobias seine Kamera mit dem 50-mm-Objektiv zückte, wurde ein deutscher Fleece-Pulli-Fotograf aufmerksam und kam uns auf die Schliche. "Feif o klok, feif o klok", brüllte er zappelnd direkt neben meinem Ohr und fuchtelte ganz aufgeregt mit seinem riesigen Tele herum. Das Boot wendete, und kurz darauf bestaunten wir das Tier aus der Nähe. Der Zwergwal tauchte unter dem Schiff hindurch, und weil die gesamte Beladung trampelnd dem Ereignis folgte, rollte es hin und her. Tobias fand dieses Schauspiel lustig und lachte leise. Es gab weitere Sichtungen und alle Passagiere kamen auf ihre Kosten. Auf dem Rückweg gab es noch für jeden Kakao und Zimtschnecken.

Wir blieben auf dem Campingplatz in Husavik und kauften uns Burger. Den nächsten Tag gingen wir das Museumsdorf anschauen und fuhren an die Nordspitze der Halbinsel Melrakasletta, da der 21. Juni war und man da oben 66°30', sprich den Polarkreis, überschreiten kann. Das bedeutet, dass genau in dieser Nacht die Sonne nicht untergeht. Wir parkten direkt an der Steilküste und genossen das nächtliche Schauspiel. Tatsächlich berührte die Sonne nur den Horizont und stieg dann wieder. Morgens um 3 Uhr war es wieder taghell. In unmittelbarer Nähe stand eine Vogelscheuche, vor der ich in dieser hellen Nacht mehrfach erschreckt zusammen zuckte.

Weiterfahrt nach Akureyri mit Besuch des berühmten Automuseums. Wir hatten Lust auf Pizza und gingen essen. Dann Stadtbummel mit Fußgängerzone und diversen Sehenswürdigkeiten. Das Internetkaffe erinnerte an die Welt, aus der wir gekommen waren, und nur mit Mühe überwand ich mich und nahm mir fest vor, keine Mails zu checken. Lediglich Ulli erhielt eine E-Mail und ich las ihre. Der Flugplatz war auf jeder Reise, die wir zusammen unternommen hatten, ein Anlaufpunkt gewesen. Also gingen wir zum Clubheim der Sportflieger und klingelten. Ein älterer Herr öffnete uns, und wir bekundeten Interesse am Museum und an den Flugsportmöglichkeiten auf der Insel. Wir wurden eingeladen und erhielten eine Privatführung durch die Museumshalle. Cool, die fliegen hier mit einem "Volksplane" mit 8-Zoll-Reifen herum und landen praktisch überall im Hochland. Wir liefen über das Vorfeld und schauten gierig in den Hangar mit den Glasscheiben. Eine schwarz-blau lackierte Pitts-2 parkte keine zwei Meter von uns entfernt. Auf der Cowling war zusammen mit einem Rabenkopf der in zwei Zierstreifen übergeht, der Schriftzug "Artic-Raven" zu lesen. "Mann, wie geil", zitterte Tobias. "Verdammte Axt, wird Zeit, dass meine Mühle fertig wird", geiferte ich. Unser Entzug wurde uns bewusst, und auf dem gesamten Rückweg zum T3, der auf einem hübschen Campingplatz etwas außerhalb wartete, laberten wir über Flugzeuge, Kunstflugfiguren und träumten davon, den Hintern wieder in die Luft zu bekommen und die Flugzeugnase in alle Richtungen im dreidimensionalen Raum zeigen zu lassen. Wir kamen nicht umhin, uns Bier zu kaufen und uns zu besaufen, während das Thema bei den Flugzeugen blieb. Für Außenstehende hätte das ziemlich lächerlich ausgesehen, wie zwei bescheuerte Knallköpfe Bögen mit der flachen Hand in die Luft malten und Motorgeräusche nachahmten.

In den Westfjorden wollten wir noch eine Trekkingtour laufen. Also rollerten wir weiter die Küste entlang. In einer kleinen Bucht sammelten wir Auftriebskörper von Fischernetzen, die das Meer neben großen Mengen sibirischen Treibholzes angeschwemmt hatte. "Die packe mer auf den Bus", meinte Tobias und machte sich daran, die Trophäen mit einem ebenfalls gefundenen Nylonstrick am Dachgepäckträger festzubinden. Die bunten Kunststoffbälle sahen lustig aus und fügten unser Gefährt besser in die Landschaft ein. Tobias fand an dem Kieselstrand noch einen kompletten Schafskadaver und machte sich daran, das stinkende Gerippe am Kühlergrill quer aufzuhängen. "Mensch, doch nicht das ganze Schaf", kritisierte ich. "Das fällt auseinander und dann liegen die Knochen auf der Strasse rum. Außerdem sieht das Scheiße aus", nölte ich. "Das war ein Widder und der hat voll die coolen Hörner", antwortet er. "Dann nimm halt nur den Schädel", gestand ich ihm zu. Mit Bindedraht tüddelte er das bleiche Stück am Frontgrill fest und betrachtete es zufrieden. Unser neuer "Dodge" machte sich gut. Er würde in den nächsten Tagen einiges Aufsehen erregen, und wir erfuhren später, dass sich sogar im Flugzeug die Leute über die Spinner mit dem grünen Schafskopf-VW-Bus unterhalten hatten (ein Bekannter saß zufällig daneben). Einen kleinen Hang hatten wir gerade bewältigt, da sah ich in dem blauen Wasser des kleinen Fjords einen Wal, der beim Fischen war. "Halt an, da ist ein Wal", schrie ich. Der große dunkle Schatten durchstieß in regelmäßigen Abständen die Oberfläche und blies laut Luft ab. Fasziniert beobachten wir die Vorstellung eine ganze Stunde lang. In dem glasklaren Wasser und aufgrund der hohen Position, konnten wir das große Tier auch unter der Oberfläche verfolgen. Ein wirklich grandiose Vorstellung "Das ist viel besser als auf dem ollen Kutter" staunte mein Kumpel. "Und größer ist der dazu, mindestens 20 Meter", schätzte ich. Es war kein Pottwal und wir nahmen uns vor herauszufinden, was es wohl für einer war. Überall auf den Wiesen gab es Gestelle, die zur Trocknung von Fisch benutzt wurden. Die Weiterfahrt zog sich, da wir die Fjorde einzeln umfahren mussten. Erst gegen Abend erreichten wir unser Ziel, ganz im Nordwesten.

Wandertour Drangajökull

Ziel war eine Umrundung des Drangajökull. Die Tour ist mit fünf Tagen angesetzt, Ulli kam aber in vier Tagen an. Wir hatten also nur vier Tage, weil wir ihr versprochen hatten, sie in Keflavik abzuholen. "Wird schon gehen", meinte Tobias, als wir in Unandsdalur über einer 1:100000-Karte brüteten, die wir in dem kleinen Kiosk gekauft hatten. "Das ist die erste vernünftige Karte, die ich von Island in der Hand halte", meinte ich. "Eigentlich brauchen wir bei so einem Regen gar nicht los laufen", sagte Tobias und schaute abfällig auf unsere gepackten Rucksäcke, die neben uns standen. "Komm, wir bestellen lieber noch eine Suppe, bevor wir aufbrechen", lenkte ich ab. Das kleine Gebäude am Rande des Campingplatzes war überfüllt mit Trekkern, die auf besseres Wetter warteten. Wir schulterten unser Gepäck und erregten die Aufmerksamkeit der Versammelten. "Was habt ihr vor?" sprach mich ein Deutscher an, der eine Gruppe führte. "Die Umrundung...", antworte ich knapp. "Viel Glück!" nickte er uns zu, und einen Augenblick später standen wir im Freien. In strömendem Regen marschierten zwei Gestalten schweigend den Pfad herauf, der hier unten noch als Jeep-Track fungierte. Dicke Tropfen pladderten auf meine zugeschnürte Kapuze, und ich hoffte, dass der Müllsack, in den ich mein gesamtes Gepäck gestopft hatte, dicht bleiben möge. Tobias aß während des Laufens eine Speckschwarte und kaute stundenlang darauf herum. Ich drehte mir eine Zigarette, da ich wenigstens etwas Warmes und Trockenes haben wollte. Der Pass lag in den Wolken, was die Orientierung nicht einfach machte. In dem Steilhang vor uns gab es auch Abbrüche. Gemeinsam und nach endlosen Diskussionen erreichten wir schließlich die Talsohle des Dyandisdalur. Ein größeres Hindernis stand uns bevor. Das Flussdelta Leirufjördur, welches es zu queren galt, ist einen Kilometer breit und komplett überflutet. Angeblich ist es nicht tief, was angesichts des Ausmaßes unglaubwürdig erscheint. "Bei Ebbe kommt man da angeblich durch", rief ich und zeigte auf das andere Ufer. "Wie spät ist es?" wollte Tobias wissen. Es war zweifelfrei Ebbe, daher zogen wir die Schuhe aus und betraten das sandige, etwa knietiefe Wasser. Je weiter wir uns vom Ufer entfertnen, desto mulmiger wurde mir. Das Wasser floß zügig aufs Meer hinaus und war absolut undurchsichtig. Einen Schritt weiter könnte eine tiefe Rinne sein und man würde es nicht merken. Der Nebel, der das Regenwetter begleitete, verhüllte zeitweise beide Ufer. Verdammt, hier durften wir uns nicht verlaufen. Dazu wurden meine Füße kalt, und ich fragte mich, wie lange wir noch im Wasser stehen würden. Trotzig setzten wir einen Schritt vor den anderen und gelangten tatsächlich ohne Zwischenfall an das gewünschte Ufer. Meine Füße waren total taub, und es dauerte eine halbe Stunde, bis ich sie wieder spürte. Tobias und ich campierten auf der Landzunge Kjosarnes, nur zwei Meter von der Felsenküste entfernt. Urplötzlich hörte der Regen auf und wir schoben vorsichtig und voller Erwartung unsere Kapuzen in den Nacken. Der Benzinkocher machte zischend seine blaue, ringförmige Flamme. Sie war neben dem vorsichtigen, regelmäßigen Glucksen der nahen Minibrandung das einzig hörbare Geräusch. Es war absolut windstill und die Sonne befand sich sicher schon knapp unter dem Horizont, gleichwohl wir sie heute eigentlich gar nicht zu Gesicht bekommen hatten. Über dem spiegelglatten Fjord lag Nebel, der erst einige Meter über der Wasseroberfläche begann. So kam es, dass das andere Fjordufer blau-grün zu uns herüberschimmerte. Eine unendlich friedliche Stimmung am Rande Europas und eine Situation, die eine Islandreise ausmacht und Erinnerungen schafft, die noch viele Jahre ein Lächeln auslösen können. Zum krönenden Abschluss tauchten in unmittelbarer Nähe zwei Kegelrobben auf und schauten neugierig zu uns rüber. Selbst bei diesen Verhältnissen war die markante Kopfform nicht zu verkennen. Keine fünf Meter entfernt verharrten sie einige Minuten so, bis sie sich schließlich trollten.

Der Wind rüttelte sanft an unserem Zelt und helles Sonnenlicht, das durch den Zeltstoff drang, ließ auf gutes Wetter hoffen. Tobias steckte den Kopf nach draußen und meinte nur: "Boa geil, Rückseite." Es gab zwar noch einige Schauer, die auch heftig ausfielen, aber es überwogen die hellen, sonnigen Abschnitte. In Verbindung mit dem Seewind trockneten sie unsere Ausrüstung umgehend. Auf schmalen Pfaden liefen wir den Steilhang am Fjord entlang. Etwa auf halbem Weg kamen wir an das Grab des in Island berühmten Vogelfreien Fjalla-Eyvindur. "So ein Grab will ich auch mal haben", schwärmte mein Begleiter. Das weiße Holzkreuz wirkte recht verwegen bei den Wetterverhältnissen. Auf dem Fjord kamen drei Isländer mit Kajaks gepaddelt und grüßten uns freundlich. Am Ende des Fjords standen die Überreste eines verlassenen Gebäudes und eine orangene Schutzhütte, in die wir uns vor einem Schauer flüchteten. Über einen kleinen Fluss ging es einen steilen Hang hinauf. Eine herrliche Blumenwiese voller kleiner brauner Tümpel, die stets von Wollgras umgeben sind, empfing uns. Mitten in dieser einsamen, verlassenen Landschaft stand plötzlich eine Fußgängerbrücke, die völlig fehlplaziert erschien. Die Holzkonstruktion war uns aber sehr willkommen. Die Sonne stach erbarmungslos und ließ nach den Schauerpausen die Skorarheidi dampfen. Wie ein versteckter Schatz lag auf dem Pass ein kleiner blauer See. In dem starken UV-Licht wirkte das Grün des Ufergrases beinahe künstlich. Die Aussicht auf die Fjorde und auf die Halbinsel Hornstadir war beeindruckend. Mächtige Steinmänner zeugten von der einstigen Bedeutung dieser leeren und entvölkerten Landschaft. Hier gab es offensichtlich einige Verbindungswege zwischen den Farmen in den Buchten. Steil ging es nach Furufjördur hinab. Die Furt durch den Fluss konnten wir zunächst nicht finden, und wir gingen den beachtlichen Strom bis zu einer Kiesbank ab, die in einer engen Biegung und in der Flussmitte liegt. So konnten wir die tiefen Außenseiten, die schnell fließen und tiefer sind, umgehen. Es funktionierte, aber Tobias tauchte den Hüftgurt seines Rucksacks komplett ein. Ein kleines Blechhaus mit einem Holzkreuz am First stand einsam vorne am Kieselstrand. Die allgegenwärtigen Möwen sorgten mit ihrem Geschrei für die passende Nordatlantik-Endzeit-Atmosphäre. Wir querten eine steile und felsige Halbinsel und landeten in einer etwas kleineren grünen Bucht, in der es ebenfalls mehrere tiefe Furten gab. Wieder wanderten wir auf der anderen Talseite den Buckel hinauf auf den Pass. Es war nun 1 Uhr nachts und der harte Wandertag, der zumeist ohne Weg zu bewältigen war, steckte uns mächtig in den Knochen. "Da unten ist schon die Siedlung Reykjarfjördur", schnaufte ich und wies mit einer Kopfbewegung auf die Häuser und den Lichtschein, der etwa einen Kilometer entfernt aus dem Tal herauf schien. Wir beschlossen aber, auf dem Pass zu übernachten, da wir so spät nicht da unten aufschlagen wollten. "Wir peilen morgen früh aus der Entfernung mal die Lage", schlug ich vor. Tobias und ich zelteten zwischen den Felsen.

Erst gegen 10 Uhr kochten wir im Vorzelt und auf engstem Raum unseren Kaffee. Es nieselte leicht und wir hatten Schwierigkeiten, in die Gänge zu kommen. "Wie weit sind wir denn gestern gelaufen?" fragt Tobias beiläufig. "Über 30 km und in den nächsten Tage wird es nicht besser", ließ ich ihn wissen. Wir packten zusammen und erreichten kurz darauf das kleine Schwimmbad. In einiger Entfernung stand ein offensichtlich bewohntes Haus. Das blitzsaubere, blau gestrichene Betonbecken war in einem hervorragenden Zustand und verfügte über einen Holzsteg und ein Umkleidehäuschen. In dem 36 °C warmen Wasser trieben sogar Schwimmhilfen aus Schaumstoff. Begeistert dümpelten wir mehrere Stunden darin herum und massierten unsere geschundenen Gliedmaßen. Der nahe Atlantik rauschte herüber und Salz lag in der Luft. Es war ein weiteres, einmaliges Erlebnis, in dieser feindlichen Umgebung auf einen solchen Komfort zu stoßen. Dankbar warfen wir die geforderte Summe in die Sammelbox, die am Badehaus hing. An einem improvisierten Flugfeld vorbei ging es zur nächsten Furt. Der trübe und reißende Gletscherbach machte es uns verdammt schwer. An mehreren Stellen scheiterten unsere Versuche, ihn zu durchwaten. "Die Farmleute müssen doch eine Möglichkeit haben, ans andere Ufer zu kommen", vermutete Tobias. Es ging wieder einmal an einer Kiesbank, die aber gänzlich unter Wasser lag und nicht sichtbar war. Diese liefen wir einige Meter den Fluss entlang, bis es auf der Innenseite wieder tiefer wurde. Ich stand bis zu den Hüften in dem eiskalten Wasser, aber schaffte den letzten Meter zur Uferböschung nicht ganz. Ein kleiner Sprung und ich hing an dem unterspülten Grasbüschel. Mit dem Gehstock half ich Tobias, der gleich darauf folgte. Er verlor den Halt, ich packte ihn einfach am Rucksack und zerrte ihn aufs Trockene. Der steile Anstieg vertrieb die Kälte aus unseren Beinen und eine weitere Halbinsel wurde überstiegen. Beim Abstieg hinab nach Bjarnarfjördur trafen wir auf zwei Wanderer, die in der Gegenrichtung unterwegs und die Küste hoch gekommen waren. Ein extrem kurzes "Hello", mehr wollte keiner von uns von sich geben und gleich wieder in die Einsamkeit eintauchen. Unser Ziel war der kleine See Meyjarvatn. Wir wollten allerdings nicht auf dem Pfad bleiben, sondern kürzten lieber ab. Einem kleinen Flüsschen folgend, durchstiegen wir abseits eines Pfades den Steilhang und fanden auch bald auf der anderen Seite den kleinen See mit dem Fleckchen Grün. Eigentlich eine schöne Zeltmöglichkeit, aber aufgrund der knappen Zeit wollten wir so weit wie möglich kommen. Die Furtung der Meyjara war kein Problem, und so folgten wir dem immer kleiner werdenden Fluss bis an den Gletscherrand. Umgeben von Schnee schlugen wir an einer geschützten Stelle auf sandigem Boden das Zelt auf. Tobias und ich lagen völlig fertig auf dem Rücken und lauschten dem kalten Wind, der nachts vom Eis fällt. Es begann zu regnen, und mit dem einsetzenden Geprassel ließen wir gleichzeitig einen unterdrückten Seufzer los. "Morgen kommt die Kür. Nach Unandsdalur sind es über 50 km", kündigte ich unseren letzten Tourentag an. "Oh Mann, ich bin total im Arsch. Müssen wir wirklich übermorgen schon am Flughafen sein?" fragte Tobias. Er schaute sich die bevorstehende Strecke auf der Karte an und schüttelte den Kopf. "Der Weg zu Jesus führt über Hingabe und Leid", zitierte ich meinen Religionslehrer und leuchte mit der Stirnlampe auf das Papier". Um Mitternacht schliefen wir ein.

Recht zügig und mit Routine packten wir am nächsten Morgen unseren Kram zusammen, aßen die letzten Nudeln, stopften je einen Müsliriegel in unsere Beintaschen und tranken einen Liter gezuckerten Tee. Die Wolkenuntergrenze verlief nur knapp oberhalb und das Wetter gab sich etwas besser als am Vortag. "So ist es leichter, auf dem Gletscher die Höhe zu halten, dann in das richtige Tal rechts vom Fluss absteigen und alles ist flauschig", kommentierte Tobias das Wetter. Wir schulterten unser Gepäck, und die Tatsache, dass es in den letzten Tagen deutlich leichter geworden war, entschärfte nicht das Bevorstehende. Kurz darauf erreichten wir den Gletscher. Der Einstieg in die Passage war durch einen großen Steinmann gekennzeichnet. Es fand sich auch ein merkwürdiges Holzgestell, dessen Funktion uns ein Rätsel blieb. Nach dem Gletscher erreichten Tobias und ich ein Geröllfeld, welches große Konzentration beim Springen von Stein zu Stein erforderte. Das Tal Skjaldfannardalur war gut zu finden und kündigte sich außerdem durch das Rauschen des Gletscherflusses Sela an, der einem gewaltigen Gletschertor entspringt. Wir blieben einige hundert Meter oberhalb im Eis und fanden auch den teilweise steilen Pfad hinunter ins Tal. Die Schafspfade führten immer am Fluss entlang, immer der weit hin sichtbaren Farm entgegen. Schließlich kündigten Zäune die Zivilisation an. Mit jedem Höhenmeter, den wir verloren, blieb auch das "Draußen-Gefühl" zurück in der Wildnis. Völlig fertig saß ich um 21 Uhr an der Straßenkreuzung bei der Mündung der Sela auf meinem Rucksack und wartete auf Tobias. Wie immer war ich etwas schneller unterwegs und gestand auch ihm sein Tempo zu. Er traf bald ein und legte mit einer schwungvollen Bewegung seinen Rucksack neben meinem ab. "Was für eine Tortur", stöhnte er. "Wir müssen noch zum Bus. Das sind noch 18 km", antwortete ich und achtete auf seine Reaktion. Er verzog etwas den Mund und meinte: "Dann lassen wir aber die Rucksäcke hier und holen sie ab, wenn wir mit dem Auto wieder vorbeifahren." Das klang nach einem guten Plan und so mobilisierten wir unsere letzten Kräfte. Auf der Straße marschierten wir ohne Gepäck beschwingt voran. Die See wehte saubere und angenehme Nachtuft herüber. "Um diesen kleinen Fjord müssen wir noch rum", kündigte ich an. "Scheiße, außen herum sind das 12 km und von hier kann man fast rüberspucken", meckerte Tobias. Um Mitternacht kam ein Isländer gefahren, der uns bis zu seiner Farm auf dem Anhänger mitnahm. Leider gewannen wir so nur 2 km und fanden uns bald wieder auf Schusters Rappen. Um 2 Uhr in der Nacht öffneten wir endlich die Schiebetür unseres geschätzten VW-Busses. Angesichts der kargen Ernährung und der enormen physischen Belastung während der vergangenen Tage wollten wir sogleich über unsere Lebensmittel herfallen und zügelten uns gegenseitig. "Lass uns erstmal runterkommen und dann essen wir jeder langsam eine halbe Scheibe Brot", schlug er vor. "Außerdem müssen wir in sieben Stunden in Keflavik sein, um Ulli abzuholen", ergänzte ich. Wir rissen uns zusammen und fuhren los. Ich drehte uns zwei Zigaretten, steckte eine Tobias in den Mund und entzündete den Glimmstängel. "Geile Tour", meinte er, während er den Rauch aus seinen Lungen von innen gegen die Windschutzscheibe blies.

Wandertour Grænalon

Es wurde knapp und eine wirkliche Pause oder Schlafen war nicht drin. Stetig näherten wir uns Keflavik und schafften es trotz aller Eile, auch mal einen Blick nach draußen zu werfen. Es regnete jedoch wieder und wir waren ganz erleichtert, nun im Auto zu sitzen. Ich freute mich darauf, Ulli wiederzusehen, was mich von der langen Fahrt ablenkte. Wir parkten vor dem Flughafen und rannten zu dem Gate, aus dem Ulli kommen musste. Wir standen noch keine Minute, da kam Ulli schwer bepackt heraus und wurde ganz fest gedrückt. "Hallo, Ihr seht aber fertig aus", war ihr erster Kommentar. Zum Entspannen fuhren wir in die nahe "Blaue Lagune". So wirklich der Hit war dieser Wellness-Tempel nicht. In dem Silikatschlamm fanden sich vor allem Haare, und auch mit den übrigen Einrichtungen kann jede deutsche Mittelgebirgstherme locker mithalten. Aber ich konnte schön mit Ulli durch das große blaue Wasser fahren und freute mich auf die nächsten gemeinsamen Wochen. Uns plagte ein Riesenhunger und weil wir es kaum mehr aushielten, stoppten wir kurzerhand beim KFC in Reykjavik. Eigentlich war der amerikanische Schlammfraß nicht so mein Fall, aber in dieser Situation fraß der Teufel Fliegen. Ullis große Bewährung stand bevor. Wir waren erst seit wenigen Wochen zusammen, und sie hatte sich spontan entschieden, an der seit Jahren geplanten Reise von Tobias und mir teilzunehmen. Weil sie keine Last für uns darstellen wollte, trainierte sie eisern und fuhr den ganzen Sommer über mit dem Fahrrad (40 min je Richtung) zur Arbeit. Die Probewanderungen in der Oberpfalz hatte sie ebenfalls gut gemeistert. Nichtsdestotrotz sollte das ihre erste nennenswerte Trekkingtour werden. Auf der Fahrt nach Nupsstadur besprachen wir noch Details und die Aufteilung des Gepäcks. Uns stand eine 4-tägige, weglose Tour zur Gletscherlagune "Graenalon" bevor. Ausgangspunkt der Tour selbst war Nupsstadarskogar, etwa 10 km nördlich der Ringstrasse. Die Ebene war nicht ganz unproblematisch zu erreichen, da der reißende und tiefe Gletscherfluss Nupsa zu queren war. Hannes Jonsson bietet Busfahrten zu dem landschaftlich reizvollen Gebiet an, und bei ihm wollten wir uns auch verabschieden und nach Beendigung des Ausflugs wieder zurückmelden. Der Bus, den wir wenig später bestiegen, war schon etwas betagt. Tobias und ich nahmen das Teil etwas genauer ins Visier und bestaunten besonders die Implementierung der Mercedes-Allrad-Achsen. Dem Chef fielen die zwei auf dem Bauch liegenden und unter den Bus deutenden Goretex-Ausländer sofort auf, und er sprach uns stolz ob seiner Arbeit an. "I wish I had some 10-bolt axels", sagte er ruhig. "They are stronger and much more common", fachsimpelte er. Das Fahrzeug trug seinen Motor noch vorne und verfügte über eine beachtliche Höherlegung. Wir nickten anerkennend. Neben unserer dreiköpfigen Gruppe saßen noch 10 weitere Urlauber in dem leer wirkenden Bus. An der kleinen Kapelle gab es noch einen kurzen Zwischenstopp, dann ging es unter einer imposanten Felswand die Nupsa entlang. Die Furt war durch eine kleine Steinpyramide gekennzeichnet. Zwei Landrover Defender aus Karlsruhe hatten offensichtlich das Eintreffen des regelmäßig verkehrenden Verkehrsmittels abgewartet, um die Furt zu begutachten. "No", rief ihnen unser Fahrer beim Anblick der Geländefahrzeuge zu, die zweifelsfrei keine Serienbereifung mehr hatten und über einen großen Unterfahrschutz sowie einen Schnorchel verfügten. Er bot an, die Gruppe mitzunehmen und später wieder abzusetzen, was die Leute ablehnten. Jonsson richtete seinen Bus aus und schaltete die Differenzialsperren ein. Die Badenser schauten interessiert mit verschränkten Armen zu. Der breite Fluss rüttelte ordentlich an dem großen Fahrzeug, und unser Guide fuhr sehr langsam. Um die Wassertiefe auszuloten, öffnete er die Einstiegstüren, die stromabwärts lagen. Zunächst reichte das Wasser nur knapp an die oberste Stufe heran. In der Hauptrinne war das trübe Wasser jedoch so tief, dass eine kleine Wasserwelle den Gang des Busses entlang schwappte und sich erst an der Stufe der letzten Sitzreihe brach. Die Wellen des reißenden Gewässers liefen schon quer am unteren Rand der Frontscheibe entlang. Den vorne platzierten Fahrgästen entlockte das ein besorgtes Murren, was der Busfahrer mit einem breiten Grinsen absegnete, als hätte er nur darauf gewartet. Er kannte eben seinen Fluss und seine Kunden. Es wurde wieder flacher und unter mächtigem Schwanken erklomm der Bus das andere Ufer. "Alter Falter, da lagen ein paar große Brocken im Fluss", kommentierte Tobias das Erlebte. "In der Mitte war der Fluss gut einen Meter tief", fügte ich hinzu. Auf der anderen Seite stiegen die Karlsruher in ihre Geländewagen und fuhren zurück. Unser Fahrer nickte zufrieden und meinte: "Nupsa can be very dangerous on a sunny day." Wir parkten auf einem kleinen Feld. Außer uns stand noch ein MAN mit Wohnaufbau in dem außerordentlich hübschen Tal. Die Besitzer grüßten von ihren Klappstühlen aus. Die Umgebung war wunderschön, und kleine Birkenwäldchen säumten die Hänge an den geschützten Stellen. Moose in den verschiedensten Grüntönen und bunte Blumenwiesen bedeckten die Ufer der zahllosen kleinen Bächlein. "Das ist ja ein Elfenzauberland", rief Ulli und begann zu fotografieren. Unsere Gruppe setzte sich ab, nachdem wir dem Busfahrer Bescheid gegeben hatten. Entlang der sumpfigen, kleinen Bächlein ging es durch dieses Wunderland bis an eine Felswand, von der eine dünne Eisenkette hing. Ich entledigte mich meines Rucksacks und erklomm das senkrechte, 5 m hohe Hindernis, um die Lage zu peilen. "Ist kein Thema", sagte ich zu Tobias und Ulli, als ich wieder unten stand und meinen Rucksack umschnallte. Ulli schaute etwas unsicher, war aber entschlossen und wollte den Felsen hochklettern. Tobias ging mit Gepäck an der Kette hoch und grinste über die Kante zurück. Ulli sollte als nächstes gehen, wobei ich dicht folgen wollte. Dann würde ich die beiden Rucksäcke nachholen. In diesem Moment traf aber der Busfahrer mit den anderen Fahrgästen ein. Er hatte ein Seil dabei und bot uns Hilfe an. "May I secure her with your rope?" fragte ich ihn. Wir legten Ulli eine Sicherungsschlaufe um den Bauch, und ich ging mit dem Seil an der Kette hoch, um Ulli zusammen mit Tobias zu sichern. Es war gar nicht nötig. Sie stemmte sauber die Beine in die Wand und stand bald unter uns. Hannes kletterte ebenfalls zu uns herauf und befestigte das Seil an einem Ring. Ich holte noch Ullis Rucksack, und wir bedankten und verabschieden uns ein zweites Mal.
Nicht weit entfernt wurden wir Zeugen eines tollen Naturschauspiels. Ein Gletscherfluss und ein "normaler" klarer Gebirgsbach stürzten über einen Doppelwasserfall in ein gemeinsames Becken. Dabei vermischten sich die Flüsse wie Tee und Milch. "Es sieht wirklich aus wie Tee und Milch, der klare Bach dampft und der Trübe nicht", sagte Ulli. "Tatsächlich", bemerkten wir. Das war wohl auf den Temperaturunterschied der Zuflüsse zurückzuführen. Angesichts dieser Kulisse machten wir Brotzeit. Die Fliegen fraßen uns auf, und wir waren unseren Mückennetzen unendlich dankbar. Weiter ging es den Canyon entlang bis zu einem steilen Kegel aus losem Geröll, der in einer Scharte endete. "Es ist wie in der Gruftidisko", stöhnte Tobias: "Zwei Schritte vor, einen zurück." Das junge Gestein war wenig verwittert und verkrallte sich regelrecht ineinander. "Daher liegt der Kram auch so steil", bemerkte ich. "Pass bloß auf, dass da nichts von oben kommt." Ulli war von dem losen Untergrund gar nicht begeistert und begann zu zittern. Ich nahm ihre Hand, Tobias erkannte die Situation und nahm ihr den Rucksack ab. Er balancierte das schwere Stück auf den Schultern, zusammen mit seinem eigenen auf dem Rücken. Gemeinsam stiegen wir unter Anstrengung weiter, wobei Ulli sich so fürchtete, dass sie ein wenig weinen musste. Ich drückte sie ganz fest und spürte, dass sie die Grenze ihrer Kraft erreicht hatte. "Bleib ganz dicht bei mir, dann geht es", sagte sie. "Lass dir ruhig Zeit", sprach Tobias Ulli zu. Er balancierte die beiden schweren Gepäckstücke geschickt und stand nah hinter Ulli, um den Abhang zu verdecken. Aber wir waren schon fast oben und entstiegen kurz darauf dem Tal. Eine einmalige Landschaft ließ uns die Strapazen vergessen, auch Ulli fing sich sofort wieder. Vor uns lag ein tiefer Canyon, in den Tobias und ich große Steine aus der Umgebung hineinkollern ließen. "Das dürft ihr nicht, da wohnen Trolle und Elfen drin", versuchte uns Ulli von der Aktion abzubringen. "Ach was, wir nehmen nur die Steine der bösen Trolle und die Guten belohnen uns dafür mit gutem Wetter", konterte ich. "Da mal mit dem Flieger durch", schwärmte Tobias beim Blick des 50 m tiefen Einschnitts, den der Fluss gegraben hatte. Wir stiegen noch etwas höher und schlugen an einem kleinen Bach mit natürlicher Badewanne die Zelte auf. Beim Essen genossen wir die Stille und Einsamkeit dieser grandiosen Landschaft. Erleichtert stellte ich fest, dass Ulli ebenfalls Gefallen daran fand und den Geröllkegel offensichtlich total vergessen hatte. Weil Nieselregen aufkam, verkrümelten wir uns in die Zelte. "Ist das gemütlich", sagte Ulli und kuschelte sich an mich, als das feine Rieseln auf die Außenhaut lauter wurde. Tobias lag nur zwei Meter entfernt in seinem Igluzelt, und wir unterhielten uns noch lange durch die Zelte hindurch.

Am nächsten Morgen war es immer noch bedeckt, es zeigten sich aber erste blaue Löcher. "Ich habe eine schlechte Nachricht", ließ ich verlauten. Wir hatten keine Karte und keinen Kompass dabei, nur die Skizze aus dem Trekkingführer. Der Kram lag leider noch im VW-Bus. "Ach, die reicht doch", entschärfte mein Kumpel. "Schaut öfter mal zurück, damit wir im Notfall zurückfinden", ermahnte ich die beiden. "Wenn Nebel kommt, fängt der Spaß erst an", warnte ich. Nach den ersten Kilometern und einigen Furten waren wir uns uneinig über den weiteren Verlauf der Route. "Zeig mal in die Richtung, in der du den Graenalon vermutest", forderte ich Tobias auf. Er zeigt exakt in die Richtung, in die ich gezeigt hätte. "Wie weit ist er weg?" wollte ich ebenfalls wissen. "Gleich da über den Buckel", entgegnete er, und ich stimmte ihm erneut zu. Als dann tatsächlich der Greanalon genau dort auftauchte, wo wir ihn angekündigt hatten, war Ulli angetan von unserer einvernehmlichen Orientierung. Der große Gletschersee lag einsam am Rande des Vatnajökull. Kleine Eisberge trieben auf ihm herum. Ein einmaliger Anblick, den wir eine ganze Weile auf uns wirken ließen. Im Sonnenlicht ging es weiter, und entgegen unseren Befürchtungen war die Route gut zu finden. Hier oben gab es eine geheime warme Quelle, aber ich konnte mich ohne Karte nicht erinnern, wo der Pool genau war. Wir beschlossen, ihn beim nächsten Mal zu suchen. Die weithin sichtbaren Gipfel ermöglichten aber die eindeutige Ermittlung der Position mit Hilfe der Skizze. Auch die Flüsse waren anhand der behelfsmäßigen und unvollständigen Karte zweifelsfrei zu identifizieren. Wir querten ein junges und scharfkantiges Lavafeld. Das stellte sich als überaus anstrengend heraus, und das viele Auf und Ab zehrte an unseren Kräften. Schließlich stellte sich die Frage, wie wir den Gletscherfluss, der in einem beachtlichen Canyon fließt, überwinden sollten. "Da brauchen wir gar nicht nach einer Furt zu suchen, bei der Wassermenge", bemerkte Tobias völlig korrekt. Die im Trekkingführer beschriebene Stelle war absolut unpassierbar. Also marschierten wir auf das Gletschertor zu, welches wir im Eis umgehen wollten. Doch dieser Umweg bescherte uns einen beachtlichen Zeitverlust. Die Schneefelder waren nicht immer einfach zu queren, und leider war immer noch der Fluss im Weg. Um 23 Uhr hatten wir das Hindernis noch immer nicht bewältigt. Ulli war fertig, was ich an ihrem Müsli-Riegel-Konsum bemerkte. "Das bringt jetzt auch nichts mehr", klärte ich sie auf. "Nur noch über das Eis und dann bauen wir das Zelt auf", kündige ich an. Der Fluss war zwar deutlich kleiner geworden, jedoch immer noch mindestens knietief und verdammt schnell fließend. Tobias lief hundert Meter voraus und kundschaftete einen möglichen Weg aus, und ich nahm Ulli währenddessen an der Hand. Plötzlich bog er ab und querte den Fluss auf einer Schneebrücke. "Dieses alte Arschloch", fluchte ich und beobachtete, wie er unser Herankommen vom anderen Ufer aus abwartete. "Ich wusste, der geht da rüber", ließ ich Ulli wissen. "Du hast sie wohl nicht alle, hier rüberzugehen", rief ich ihm durch das Getöse des Flusses zu. "Stell dich net an, der Fluss bringt hier keinen mehr um", erwiderte er. Ein Blick gut zwei Meter tiefer belehrte mich keines Besseren. "Zugegeben, ans Ufer wird man sich kämpfen können", dachte ich mir. Stehen wäre zwar aufgrund der Tiefe möglich, wegen der Geschwindigkeit aber fraglich. Ich zögerte, die schmale Brücke zu betreten. "Des hält", hörte ich vom anderen Ufer her. Um seiner Behauptung mehr Gewicht zu verleihen, kam er wieder zurück gelaufen, blieb an der dünnsten Stelle stehen und sprang in die Höhe. Dann kam er zu uns rüber. Ich bekam Gänsehaut, schnappte mir Ullis Rucksack und ging über die Brücke. "Jetzt Ulli ohne Rucksack und dann Du", schrie ich zurück. "Mach keine Schritte, sondern lass die Sohlen über den Schnee gleiten", rief ich Ulli noch zu. Alles ging gut, und wir kamen allesamt wohlbehalten und knochentrocken an das gewünschte Ufer. "Vielleicht hätten wir einfach nur bis zum nächsten Morgen warten müssen, um durch den Fluss zu kommen", meckerte ich. "Gletscherflüsse furtet man früh am Morgen, das weißt du doch", schimpfte ich weiter.
Hinter dem kleinen Pass bauten wir die Zelte auf und starrten gebannt auf die rot leuchtenden Berge. Der Boden war gefroren und steinig, daher hatten wir Probleme mit den Heringen. Es stürmte fürchterlich, die Temperatur lag unter dem Gefrierpunkt. Zum Glück konnten wir mittlerweile die Zelte im Team gut und schnell aufbauen. Ich schleppte große Steine zur Befestigung heran, und wir bauten noch eine kleine Schutzmauer. Wenig später lagen wir zusammen in unserem größten Zelt. Tobias mampfte eine rohe Zwiebel und meinte: "Ne Zwiebel ist was Feines." Ich machte Ulli eine Sigg-Wärmflasche und kochte eine heiße Suppe. Bis 1 Uhr unterhielten wir uns noch, bis die Müdigkeit überwog und Tobias nach nebenan verschwand.

In der herrlichen Einsamkeit dieser am Fuße des Gletschers gelegenen wunderbar öden und kargen Landschaft zogen wir um Mittag surrend die Reißverschlüsse unserer Zelte hoch. Ulli hatte gut geschlafen, und auch Tobias lächelte aus seinem Zelt nebenan. Noch vor dem Frühstück stiegen wir ab zum Oberlauf der Vestri-Bergvatnsa, um fließendes Wasser zu haben. Ich badete ausgiebig in dem eiskalten Bächlein, und meine beiden Begleiter sahen kopfschüttelnd zu. So fühlte ich mich einfach besser, und der gefriergetrocknete Kaffee schmeckte so besser. Beschwingt brachen wir auf und fanden sofort den Einstieg in das Tal. Tobias und ich mussten zwar öfter ein wenig diskutieren, kamen aber am Ende immer zum selben Ergebnis, was die Navigation angeht. Wir befanden uns nun auf dem Rückweg, immer entlang eines kleinen Zuflusses der Djupa. In der Ferne kam brüllend der Hauptstrom aus seinem Gletschertor, welches wie eine gigantische Halle aussah. Die grauen und wilden Fluten wirkten selbst auf die Entfernung bedrohlich, obwohl sie uns eigentlich die Orientierung erleichterten. Weit unter uns rauschte der kleine Bach, der irgendwann ebenfalls in die Djupa münden würde. An der Kante eines tiefen Abbruchs lag ein Steinbrocken, der gut einen Meter Durchmesser hatte und demnächst in die Schlucht stürzen würde. Tobias und ich grinsten uns an, weil wir beiden Chaoten wieder einmal die gleiche Schnapsidee hatten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Spiegelbildlich legten wir die Rücksäcke ab und stürzten auf das Schwergewicht zu. "Passt bloß auf, ich will nicht, dass einer hinterherfällt!" rief Ulli. Ich hatte auch nicht vor, wegen so einer Sache 30 m tief abzustürzen und nahm mir fest vor, das zu überleben. Gerade solche Aktionen führen zu tödlichen Unfällen, warnte ich mich selbst. Der Abbruch war gefährlich sandig und abschüssig. Um beim Abgang des Monsters nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, legten Tobias und ich uns auf den Rücken und schoben nur mit den Beinen. Unter allergrößter Anstrengung und erst nach zwei Fehlversuchen schafften wir es schließlich, das Ding über die Kante zu befördern. Als das Teil nun brav mit Erdbeschleunigung schneller wurde, bekam ich einen Lachkrampf. Tobias hastete an die Kante und wollte unbedingt den Aufschlag sehen. Ich kannte den Knallkopf und wußte, dass ihn die Euphorie den gähnenden Abgrund vergessen lässt. Deshalb packte ich ihn am Hosenbund und hielt ihn fest. "Ich bleib doch weit genug weg...", fing er an und zerrte wie ein Hund an der Leine, als der Brocken unter Getöse in den Fluss krachte. Lachend fielen wir auf den Rücken und ich war froh, dass mich dieses Spielchen nicht das Leben gekostet hatte. "Jetzt habt ihr einem Troll das Haus kaputt gemacht", sagte Ulli, nachdem wir uns etwas beruhigt hatten. "Ach was, wir haben nur den Erosionsgeistern ein wenig unter die Arme gegriffen", verteidigte ich.
Weiter unten wurde uns klar, dass es wieder regnen würde. Als es plötzlich einsetzte, schauten die beiden Männer etwas trübe aus der Wäsche bzw. aus dem Regenzeug. Ulli war bester Laune und suchte die Furt durch den großen Bach. "Warum muss es denn jetzt noch schiffen", schimpfte Tobias. Aus dem Nebel tauchte plötzlich ein kleiner Fuchs auf, querte unseren Pfad und verschwand im Hang. Das Tier war deutlich kleiner als die aus unserer Heimat bekannten Artgenossen. Dazu sah er etwas zerzaust aus und hatte fast schwarzes Fell. "Der hat eben hier oben nichts zu lachen", dachte ich mir. Wegen des Nebels blieben wir dicht zusammen, weil man keine fünf Meter weit sehen konnte. Wir passten höllisch auf und folgen den Schafspfaden, die immer zahlreicher wurden. Nach Gehör folgten Tobias, Ulli und ich dem gewaltigen Rauschen von rechts, das die Nähe der Djupa vermuten ließ. Inzwischen umgab unsere kleine Gruppe ein grauer, komplett undurchsichtiger, feuchter Vorhang. Am Abend sahen wir rechts unter uns ein schwaches Grün durch die graue Suppe schimmern. "Da ist ein riesiger Moosteppich!" rief Ulli aufgeregt. "Lasst uns da zelten", schlug sie vor. Das Alftadarlur hatte wirklich etwas sehr Mystisches, und zusammen mit dem Nebel überwältigte uns die Atmosphäre. "Hier sieht es aus wie ein Plattencover von Type-O-Negative", schwärmte Ulli und war hin und weg. "Guck mal da hinten die Wasserfälle im Dunst!" quiekte sie und war offensichtlich hellauf begeistert. Wir bauten die Zelte auf, kochten und Ulli verkroch sich in ihren Schlafsack. "So was kannst du keinem erzählen", sagte Tobias, während wir zu zweit noch eine Zigarette im nächtlichen Moos rauchten. Es sind diese Momente und Eindrücke, die unvergesslich bleiben.

Im Tageslicht sah das kleine Tal nicht mehr ganz so märchenhaft aus. Ulli machte trotzdem unzählige Bilder, und Tobias unternahm einen Spaziergang, um die Gegend auszukundschaften. "Bis zur Ringstraße ist es noch ein schönes Stück", drängte ich zum Aufbruch. Der Pfad war immer leichter zu finden und es wurde merklich flacher. Ulli hatte Probleme mit der Achillessehne, wollte aber ihren Rucksack zunächst nicht hergeben. Die tagelange Plackerei war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Die Landschaft öffnete sich, und der Seewind erinnerte an die nahe Küste. In weiter Entfernung konnten wir die Autos auf der Ringstraße sehen, die wir gegen Mittag erreichten. Ulli hatte Schmerzen und setzte sich auf ihr Gepäck, das ich die letzten Kilometer übernommen hatte. "Ich hol die Karre", sagte Tobias knapp und lief querfeldein auf die Farm zu, auf der unser VW-Bus parkte. Ulli und ich wärmten uns gegenseitig auf dem kleinen Rastplatz und warteten auf Tobias, der nach zwei Stunden angeknattert kam. Wenig später standen wir auf der Farm von Hannes Jonsson und bauten unsere Zelte vor dem kleinen Hotel auf, das die Familie betreibt. Der Busfahrer bat uns in sein Wohnzimmer und hörte sich unsere Geschichte an. "You are on time", sagte er. Wir hatten uns vor vier Tagen abgemeldet und unsere Ankunft genau vorausgesagt, was er mit einem anerkennenden Nicken kommentierte. Er saß in seinem Ledersessel, und wir schwärmten zu dritt ganz begeistert von dem Ausflug, was ihm sichtlich schmeichelte.

Unser Trio gönnte sich einen Tag Pause. Wir gingen auf Empfehlung unseres Gastgebers essen und begannen das neue Harry-Potter-Buch, vor dem Zelt in der Sonne liegend, zu lesen. Ulli hatte tatsächlich die gebundene englische Ausgabe dabei. Da der Skaftafell-Nationalpark ganz in der Nähe war, brachen wir am nächsten Morgen auf, um die in unserem Trekkingführer empfohlenen Touren zu laufen. Die Sonne brannte herab, nicht eine Wolke war zu sehen. Dieses Jahrhundertwetter zog die Besucher in Scharen an, und der Campingplatz war überfüllt. Auf den bestens ausgezeichneten und mit Wegweisern versehenen Wegen drängten sich die Leute, und wir mussten mehrmals in der Minute entgegenkommenden Gruppen ausweichen. Tobias war davon gar nicht erbaut und meckerte über den gewaltigen Andrang. Vor dem Svartifoss standen um die hundert Leute, alle ohne Gepäck. Wir umrundeten am Vormittag die Skaftafelsheidi und rasteten auf dem Gipfel der Kristinatinda. Die Fernsicht war grandios, und auch die Landschaft war spektakulär. Nicht umsonst liegt hier der bekannteste Nationalpark Islands. "Mir ist es zu voll. Das ist wie Neuschwanstein", schmollte Tobias. Wir stiegen in das Tal der Morsa ab, wobei auffiehl, dass mit der Distanz zum Parkplatz die Menschendichte drastisch abnahm. In dem zauberhaften Tal, das noch natürlichen und alten Baumbestand hatte, bekam auch Tobias wieder gute Laune. Ulli war natürlich verzückt, weil wir uns durch einen sonnendurchfluteten Elfenwald bewegten. Hinten in Kjos waren wir die einzigen, die nächtigten, und wir atmeten die Ruhe in dieser Wahnsinnsumgebung. "Kaum kommst du am gleichen Tag nicht mehr ans Auto, läuft keiner von den Windeiern mehr weiter", lästerte Tobias. "Sei doch froh", entgegnete ich. Ulli meinte nur, dass die Leute so das Beste verpassen.

 

 

 

Ein richtiges "Draußen-Gefühl" kam nicht auf, trotzdem ist diese Wandertour sehr zu empfehlen. Auf dem Rückweg durch das schöne Morsadalur musste ich Ulli noch die ganze Prinz-Eisenherz-Geschichte erzählen, was mehrere Stunden in Anspruch nahm. An niedlichen Wasserfällen und einer warmen Quelle vorbei gelangten wir wieder zu unserem grünen T3, der inzwischen zwischen vielen Wohnmobilen parkte.

 

 

 

 

 

Wandertour Þórsmörk

Als nächstes wollten wir die Passage von Skogar nach Thorsmörk laufen und hielten bei dem schönen Wasserfall, der von der Straße aus gut zu sehen ist. Da es wieder einmal heftig regnete, gingen wir zunächst in das Museum. "Wir haben Südwest und die Wolken hängen verdammt tief", meinte Tobias und blinzelte in Richtung Himmel. "Denkst du, auf der anderen Seite ist es besser?" fragte ich. "Auf jeden Fall wäre es einen Versuch wert", meinte er. Zunächst saßen wir noch einige Stunden im Auto und warteten auf einen niederschlagsfreien Himmel. Dann wagten wir es und fuhren nach Thorsmörk. Tatsächlich war es hier trocken. Die vielen kleinen Furten durchfuhr der VW-Bus ganz prima. Nur die letzte Furt am Gletscher des Eyjafjallajökull trauten wir uns nicht und stellten den Bus einfach ab. Diesmal hinterließen wir eine lesbare Nachricht. Ulli, Tobias und ich schulterten die Rucksäcke und liefen das Tal entlang. Die Flüsse durchquerten wir zu Fuß, und Ulli machte das ganz prima, obwohl schon ordentliche Bäche dabei waren. Sie zog sich ihre Teva-Sandalen an, und während Tobias und ich noch versuchten, mit viel Anlauf über die schmalen Stellen zu springen, marschierte sie stets schon am anderen Ufer weiter.
In Basar war die Hölle los, ganz Island schien anwesend zu sein. Daher liefen wir noch bis auf die erste Anhöhe Richtung Fimmvörduhals und bauten im Sonnenuntergang das Zelt an einer vom Weg nicht einsehbaren Wiese auf. Tobias lief noch zum Fotografieren auf den Pass. In der Zwischenzeit bauten Ulli und ich die Zelte auf, kochten und lasen uns wieder gegenseitig "Harry Potter" auf Englisch vor. Lange nach Sonnenuntergang kam Tobias zurück und schwärmte von der Sicht über den Wolken. "Auf der Meerseite ist immer noch Scheißwetter", meinte er und bestätigte unsere Entscheidung.

Schon vor den Touristenströmen (wir sind selbstverständlich auch Toristen und nicht immer nur die Anderen) waren unsere Zelte abgebaut, und wir marschierten ganz allein in Richtung Pass an einem Eissee vorbei. Um 11 Uhr standen wir an der Fimmvörduhals-Hütte und schauten aufs weite Meer. Zunächst hatten wir den Pass für uns. Nur knapp unterhalb war noch eine kleine dreieckige Hütte zu sehen, Baldvinsskali. Es zog langsam zu und die ersten Wanderer aus Basar trafen ein. Also putzten wir die Platte und marschierten zurück zum VW-Bus, den wir gegen Abend erreichten. Wir fuhren nach Leirubakki zum Campen. "Endlich mal was anständiges fressen", murmelte Tobias, als wir auf einer der Holzbänke zwischen niedlichen, kleinen Bäumen richtig zu kochen anfingen. "Bleib ja weg vom Kochtopf und lass Ulli des machen", hielt er mich zurück. "Wenn du kochst, gibt es immer geschmackfreie Nährpampe". Ulli platzte vor Stolz und war sehr zufrieden, zu der Reise etwas beitragen zu können, was offensichtlich keiner außer ihr vermochte. Wir machten unter Ullis Anweisung ein spitzenmäßiges Chilli mit frischen Zwiebeln, frischen Tomaten, frischem Fleisch und Tortillas. Tobias kratzte noch die Reste aus dem großen Topf und schien nicht genug zu kriegen. "Ihr könnt besser Geröllhänge hochklettern und ich kann besser kochen", kommentierte Ulli grinsend. "Der Thomas kann gar nicht kochen", bemerkte Tobias. "Und du kannst mich mal", meckerte ich zurück.

 

Thingvellir stand auf dem Programm. Es war Hochsaison und auf dem Parkplatz standen mindestens 10 Busse. Wir parkten unseren auffälligen kleinen grünen T3 mitten unter ihnen. Eine übergewichtige Amerikanerin kam zu uns rüber und deutet auf den Schafskopf an unserem Kühlergrill. "Is that Antilope or mountain-goat?" wollte sie wissen. "That is ordidary islandic sheep", antwortete ich. Wir wanderten eine ganze Weile in dem Gelände umher und liefen alle Sehenswürdigkeiten pflichtbewusst ab. Die zahllosen kleinen Gewässer und Spalten lagen voller Münzen, die die Leute hineingeworfen hatten, um die Geister sanft zu stimmen oder damit ihnen das Glück in Zukunft nicht ausgeht. Tobias zog sich aus und fing an, in den klaren Becken zu tauchen und die Geldstücke zu bergen. Ich machte es ihm nach, und natürlich ging es unter Männern darum, wer das meiste Geld einsammelt. Einige Besucher beobachteten uns argwöhnisch, andere zeigten von den Brücken aus auf Münzen, die wir noch bergen sollen. Nach einer guten Stunde hatten wir mehr Geld, als wir tragen konnten, und häufen es auf der Wiese auf, um es zu zählen. "Mensch, das reicht für eine Tankfüllung", freute ich mich. "Des is sogar noch mehr", frohlockte Tobias. "Das habt ihr den Trollen und den Elfen geklaut", sagte Ulli streng. "Das gehört Euch nicht und ihr gebt das auf der Stelle zurück", bestimmte sie. Wir schauten uns ein wenig unschlüssig an und begannen, uns zu schämen. In der Nähe stand eine kleine Kapelle und ich schlug vor, unsere Beute in den Opferstock zu werfen. Eine Rotte Gänse kommentierte fauchend unser Eintreten. "Da habt ihr es, das ist die Antwort auf euren Diebstahl", freute sich Ulli. Erst als das letzte Geldstück klickend in dem Metallkasten verschwunden war, war Ulli wieder zufrieden. Kurz darauf standen wir wieder vor der Tür im Sonnenlicht. Plötzlich waren auch die Gänse friedlich und gurrten entspannt. Mich schauderte bei dem Gedanken an die wissenden Tiere.

Ulli trat demnächst ihre 10-tägige Reittour durch das Hochland an. Also bewegten wir uns weiter in Richtung Hauptstadt, um sie rechtzeitig an ihrem Hotel abzuliefern. Reykjavik ließen wir uns nicht entgehen und liefen die Sehenswürdigkeiten ab, besuchten Museen, gingen einkaufen, Schiffe gucken, Flugplatz schlendern, Kaffee trinken und Kuchen essen. Das Bilderbuch-Wetter trieb die Menschen auf die Straße. Die Jugend fuhr in ihren offenen Autos Stadtrunden, wobei sich der ganze Autokorso im Schritttempo über die Hauptstraße bewegte. Alles war kunterbunt und feuchtfröhlich und feierte ausgelassen mit Musik. Es hatte etwas von Faschingsumzug, und wir fragten uns schon, ob möglicherweise doch etwas gefeiert wird. "It is always like this if the weather is fine", klärte uns ein Isländer auf, nachdem Ulli gefragt hatte. Die Hauptstadt vermittelte ein sehr intensives Lebensgefühl, zweifelsohne war hier in jeder Hinsicht Einiges los. Aber die Stunde des Abschied rückte immer näher. Ich wollte Ulli nicht einfach bei den Pferdeleuten abliefern und war ein wenig traurig, dass wir uns erst in Deutschland wieder sehen würden. Sie wurde ganz fest gedrückt, und kurze Zeit darauf rollten Tobias und ich allein aus der Stadt. Wir vermissten beide unsere Begleiterin, die nun fehlte, und wir beschlossen, unsere anstehenden Touren so zu legen, dass die Wahrscheinlichkeit, Ulrike auf ihrer Reittour zu treffen, hoch ist. Folglich war Geysir eine gute Adresse und so rollen wir abends in die entsprechende Richtung. Auf einem einsamen Wegabschnitt hielten Tobias und ich zwischen zwei Felsen und betranken uns aus Frust mit ekelhaftem isländischem Dosenbier.

In Geysir war recht viel los, was uns weder überraschte noch ärgerte. Der Kater saß uns in den Knochen. Ein Engländer filmte den Strokkur mit einer 16-mm-Kamera. Ich sprach ihn an und unterhielt mich mit ihm zwei Stunden lang über "echtes Filmen". Er hatte seine gesamte Ausrüstung für einen Spottpreis bei der Bucht ersteigert. Die war offensichtlich jahrelang bei einem Tierfilm-Team im Einsatz gewesen und hatte einst ein Vermögen gekostet. Ich interessiere mich seit Jahren schon für diese Filmtechnik, denn ein guter 16-mm-Film sticht jede Videokamera, ob Full-HD oder nicht, um Längen aus. Das Bildmaterial ist um Größenordnungen hochwertiger und wirkt einfach viel intensiver. Dazu kann man es mit einem guten Projektor beinahe im Kinoformat vorführen. Die Nachteile liegen natürlich auf der Hand, sind es aber unter Umständen wert, in Kauf genommen zu werden. Jedenfalls träume ich auch von einer derartigen Ausrüstung.
Den nahen Gullfoss erlebten wir im Regen und auch in Stöng und an den hübschen Wasserfällen nieselte es leicht. Aber schließlich hatten wir die Punkte aus dem Reiseführer abgehakt. Weder Tobias noch ich hatten Lust, uns bei dem Sauregen anpieseln zu lassen und beschlossen, auf unseren faulen Hintern im Auto sitzen zu bleiben. Zigaretten rauchend juckelten wir die Kjölur nach Norden.

Die Piste war teilweise schlammig und weich. Ich machte die Runde um die Karre und ließ Luft ab, da wir selbst an kleinen Steigungen Probleme mit der Traktion hatten. Mit 1,5 bar ging es aber, und gegen Nachmittag erreichten wir mit einem total eingesauten Bus Hveravellir. Die Fahrerei hatte genervt, Tobias und ich streiften unsere Regensachen über und liefen einfach querfeldein zu einem kleinen Krater. Wir hatten beide den engen Bus satt und brauchten Auslauf. Kurz nach 22 Uhr kamen wir in einer Regenpause wieder an den Parkplatz. Der heiße Pool winkte und lockte, obwohl er voll besetzt war. Eine Gruppe amerikanischer College-Studenten und -Studentinnen und einige junge Isländerinnen waren am Feiern und tranken haufenweise Dosenbier. Wir waren zunächst die uncoolen, stillen und nüchternen Außenseiter aus dem ernsten und humorlosen Deutschland. Ein beschwipster Amerikaner machte unter lautem Beifall einen Handstand im Becken, nachdem er sich vorher seiner Badehose entledigt hatte. "Typisch Amis, müssen immer irgendeine Scheiße machen und können sich nicht anständig und gesittet besaufen", knurrte ich. Tobias musste aber auch ein Lachen unterdrücken, als der Kerl den Rückenflug-Elefanten machte. Gegen Mittenacht wollten sich die Amerikanerinnen dann doch mit uns unterhalten, wir sprachen über die gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Europa und USA und über die Rolle, die Island dabei einnimmt. Sie waren höchst amüsiert, dass ich als Krautboy einen ordentlichen Südstaaten-Akzent sprechen konnte. Kunststück, ich hatte mal ein Jahr in den USA gearbeitet und hatte eine Freundin aus Kentucky. Um ihrem prüden Ruf ein wenig entgegenzuwirken, hatten sie die Oberteile ihrer Badeanzüge demonstrativ auf den Beckenrand gelegt und waren etwas enttäuscht, dass niemand so recht darauf reagierte. Angesichts der Handstand-Vorstellung hielt ich diese Kompensationsmaßnahme auch für überflüssig.
Hinter jedem Insassen lagen nun mehrere leere Bierdosen, und die Amis witzelten darüber, wer alles schon in den Pool gepinkelt hatte. Eine der jungen blonden Isländerinnen, die bisher recht teilnahmslos die Unterhaltung verfolgt hatten, war offensichtlich in Tobias vernarrt und ging zum Frontalangriff über. Er hatte eben mit Abstand die intensivste Sonnenbräune und die hellsten Zähne weit und breit. Irgendwie schien das der Lokalbevölkerung zu imponieren. Das Mädchen rückte ihm ordentlich auf die Pelle und himmelte ihn an.
Tobias hing schon vollständig am Abschlepphaken, und ich beobachtete etwas belustigt die Szene. Als sich zu später bzw. früher Stunde die Poolgesellschaft auflöste und sich jeder frierend auf seine Schlafunterkunft zu bewegte, klebte sie an ihm wie eine Klette. Ich kam mit Zahnbürste im Mund an die geöffnete Schiebetür des VW-Busses und sah beide nebeneinander auf der Kante sitzen. Die Kleine war ganz schön hartnäckig und ziemlich betrunken. Tobias bekam geschickt heraus, zu welcher Zeltstadt sie gehörte und wir brachten das arme Ding heim. Ich war über den Ausgang der Angelegenheit erleichtert, und während wir zu unserem T3 zurückschlenderten, sagte ich noch: "Jetzt hat die morgen neben einem Brummschädel noch ein gebrochenes Herz." "Ich steh halt nicht so auf besoffene Teenager", erwiderte Tobias und verdrehte die Augen. "Tja, du hast ja noch das stinkende 85-kg-Bier-Schnarchmonster, das seit Wochen in deinem Bus pennt", tröstete ich ihn.
Wir fielen in den grünen Blechkasten und stellten fest, dass wir selber ordentlich Schlagseite hatten. Klackend und zischend gab es noch einen Absacker. Wir prosteten und nickten uns zu...

Der Hotpot war morgens schon hoffnungslos überfüllt. In dem nahen Umkleidehaus wartete schon ungeduldig die nächste Welle, in ihre Handtücher eingewickelt. Ich schlug eine Wanderung ohne Rucksack vor, um diesem Schlangestehen zu entgehen. Wir planten spontan eine Rundtour an dem kleinen See Porisvatn vorbei und querfeldein zum Kjafell. Das war ein kleiner Berg, der die Gegend überragte. Überall standen große Steinmänner in der Einöde, was auf eine historische Strecke schließen ließ. Es war windig, aber trocken, und die Weite schmeichelte uns. Wir genossen die Tatsache, ohne schweres Gepäck unterwegs zu sein. Erst um Mitternacht kamen wir zurück und fanden den heißen Pool fast leer vor. Eilig wurde gegessen, Dosenbier geschnappt und mit Handtuch und Badehose in die wunderbar warme Brühe gesprungen. Tobias und ich teilten das Wasser mit der Crew der nahen Wetterstation. Es waren drei Männer und eine Frau, die stolz verkündeten: "We always come here late at night when everybody is gone." Eine weitere Isländerin aus der Wetterstation gesellte sich dazu und wurde von der übrigen Mannschaft offensichtlich schon erwartet. Während sie über die Steinplatten in den Pool stieg, nickten und prosteten ihre Kollegen der recht auffälligen Frau zu. Sie war zweifelsohne die Schwester eines der Anwesenden und von geradezu gewaltigem Körperbau. Ihre für Isländer recht dunkle Haut spannte über prächtig entwickelten Muskeln. Sie war gerade im Begriff, sich im Pool niederzulassen, da stellte ihr Bruder ihr ein Bein. Unter Gelächter platschte sie hin, dass ordentlich Wasser über den Rand schwappte. Blitzschnell aber ging sie zum Angriff über und packte den Mann, der zwar ebenfalls eine sportlich entwickelte Statur und die selbe Körperlänge aufwies, jedoch mindestes 15 kg weniger wog. Ein mörderischer Ringkampf begann, und die Isländer johlten lauthals Beifall und hoben ihre Bierdosen. Im Hotpot tobte das reinste Wildwasser, und die Ursache war nicht etwa eine Rangelei unter Geschwistern, sondern ein waschechter und sportlicher, ja sogar fairer Wettkampf. Beide hatten zweifelsfrei Erfahrung im Ringen und schenkten sich gar nichts. Verzerrte Gesichter, gespannte Sehnen, Haltegriffe, Würfe... Es ging eine ganze Weile, ohne dass einer der Kontrahenten die Oberhand gewinnen konnte. "She is in the national Wrestling-Team", klärte mich einer der Meteorologen auf. Schließlich siegte die Schwester und der Bruder klopfte ab. Ob dieses Triumphes riss sie jubelnd beide Arme hoch und wir klatschten Beifall. "Who else wants to mess with me?" brüllte sie in die Runde und spannte alle Muskeln ihres Athletenkörpers an, die üppig hervorquollen. Ich musste sofort an die "He-Man"-Plastikfiguren denken, die es in meiner Kindheit mal gab. Die stellte jeden Provinzbodybuilderchampion in den Schatten und konnte ihre Muskeln im Gegensatz zu den eitlen Eiweißschluckern aus unserer Heimat auch bestens einsetzen. Ihr Oberschenkel war direkt vor meinem Gesicht und hatte einen unglaublichen Umfang und ich dachte mir: "Was ist das für ein Land wo die Frauenbeine dicker sind als die Bäume?" Sie wendete sich mir zu, weil ich wohl der nächste in der Reihe war. Eiskalt lief es mir den Rücken herunter, sofern das in einer heißen Quelle überhaupt möglich war. Vor mir verdunkelte ein 100-kg-Muskelberg die Mitternachtssonne und hatte mich als Opfer auserkoren. Schaudernd sah ich sie mit großen Augen an, zog die Mundwinkel nach unten und tauchte langsam bis Unterkante Nase ins Wasser. Der Pool grölte, sie lächelte zufrieden und setzte sich zu ihrem Kampfpartner. Beide besprachen beim Bier ihr Kräftemessen und beurteilten gegenseitig ihre Techniken. "Oh Mann, wenn die mich auseinandergeschraubt und durchgekaut hätte, bräuchten wir hier nur den Stöpsel zu ziehen, und was von mir übrig wäre, würde den kleinen Bach da runtertreiben", wendete ich mich an Tobias. Er setzte seine Bierdose an und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Wandertour Laugarvegur

Am Morgen fuhren wir die F35 wieder nach Süden und schauten uns den Gullfoss an. Der Laugarvegur sollte unsere Abschlusstour werden. Den unteren Teil waren wir ja schon mit Ulli gelaufen, und jetzt wollten wir von Landmanalaugar nach Thorsmörk und zurück. Auf dem Parkplatz kauften wir noch ein paar Dinge ein und ergänzten unseren Kohlehydratvorrat. Den Benzinkocher füllten wir mit Sprit aus dem Tank. Das Wetter sah so aus, als ob es jeden Moment regnen könnte, und der heiße Pool war total überfüllt und auch nicht besonders schön. "Lass uns abhauen, je mehr es schifft, desto besser. Dann haben wir wenigstens unsere Ruhe", meinte Tobias. Mittags schulterten wir unsere Rucksäcke und stapften los. Kompass und Landkarte blieben im Bus. "Das ist eine Autobahn da runter", argumentierte ich. Kaum war die erste Steigung bewältigt, erwischte uns der Regen und der Nebel. Die schönen und bunten Berge waren damit verschwunden, und zwei einsame Gestalten wanderten durch das schmierige und dampfige Geprassel. Die Fumarolen am Weg waren nur akustisch durch ein lautes Fauchen wahrzunehmen. Mich erreichte eine warme und schwefelige Dampfwolke, die in dem dichten Nebel gar nicht sichtbar war. Ich wollte das Ding aus der Nähe betrachten, doch Tobias pfiff mich zurück: "Bleib da, hier sollten wir uns nicht verlaufen." Mit dem Überschreiten der Schneegrenze sank die Sicht auf 20 Meter. Der Weg war aber wie angekündigt gut markiert und einfach zu finden. Als Karte hatten wir wieder einmal nur eine kopierte Seite aus dem Trekkingführer dabei. Wir waren tatsächlich die Einzigen auf dem Trail, was sich schön anfühlte. Leichter Schneefall erwartete uns auf dem ersten Pass am Hrafntinnusker, der aber mit jeder Minute stärker wurde. Im Schneetreiben erreichten wir die Hütte, die schemenhaft aus dem Whiteout auftauchte. Auf der Veranda standen einige Franzosen und rauchten. Wir gesellten uns dazu und steckten uns ebenfalls eine an, ohne die Rucksäcke abzulegen. Ins Innere wagten wir uns nicht, da wir im Eingangsbereich die abgestellten Wanderschuhe gesehen hatten und auf eine entsprechende Besetzung schlossen. "Mann, ich penne lieber im Schnee, als mich in so eine volle Bude zu zwängen", meckerte Tobias und schon ging es den verschneiten Hang hinunter. Es lag gut ein Meter Schnee und die Orientierung war nicht ganz so einfach. Wir fanden aber trotz geringer Sicht den Pfad wieder und hatten die schöne Umgebung wieder für uns alleine. Inzwischen gab es auch keine geschlossene weiße Decke mehr, und nur noch an den Nordhängen und in den Einschnitten lag Altschnee. Es war erstaunlich warm und windstill, gleichwohl uns immer noch keine Aussicht vergönnt war. Erst am Pass vor dem Alftavatn ging plötzlich der Vorhang auf und die lange erwartete Aussicht war da. "Leckst die Drecksau am Arsch, ist das ein Blick", sage ich und mache mehrere Fotos. Beschwingt von dem herrlichen Sonnenschein auf grünem Moos und schwarzem Lavasand liefen wir an der Hütte an dem See vorbei weiter nach Süden. "Der olle Südwest hängt an den Bergen, aber hier ist alles prima", kommentierte ich die Wolken. Tobias legte sich in der wärmenden und trocknenden Sonne ins Moos und schlief neben seinem Rucksack ein. Seine Regenjacke dampfte regelrecht. Ich nutzte die Pause im Sonnenlicht und zerlegte meine mechanische Kamera, die eine gebrochene Feder im Aufziehmechanismus hatte. Es ging mit einem einzigen kleinen Schraubenzieher, den ich zu diesem Zweck dabei hatte.
Tobias wachte nach einiger Zeit auf und sah die vielen kleinen Schrauben und Kleinteile, die ich auf unsere Kochgefäße verteilt hatte. "Kriegst du das Ding auch wieder zusammen?" fragt er mich. "Komm, wir machen noch ein Stück, bauen dann das Zelt auf und laufen morgen ohne Gepäck nach Thorsmörk und drehen dann um." Ich baute meine Pentax 1000 wieder zusammen und stellte befriedigt fest, dass sie wieder funktionierte. Den Campingplatz bei Hvanngil ließen wir liegen und wanderten durch das in der Abendsonne leuchtende Moos. Eine kleine Furt war zu durchqueren, bis wir an eine Piste kamen. Wir sprachen über die Möglichkeit, dieses gigantische Farbenspiel auf Flugzeuglackierungen zu übertragen und blieben auf dem Jeep-Track, um nebeneinander bequem laufen zu können. Diese völlig geilen kegelförmigen Moosberge waren echt der Hammer. Etwas wehmütig und traurig schritten wir aber dennoch voran, da uns beiden bewusst war, dass dies nun das letzte Vorstoßen in unbekanntes Gebiet auf Island sein würde. In der Nähe eines  Wasserfalls, ein paar Kilometer südlich des total abgefahrenen Hattafell, kehrten wir um. Die geplante Passage nach Thorsmörk sparten wir uns, da es nur noch das Tal hinuntergehen würde und wir die Berge um unser ursprüngliches Ziel schon wieder erkannten. Ein letztes Mal bauten wir das kleine grüne Zelt auf und fielen gegen 2 Uhr nachts in den Schlaf.

Am nächsten Morgen stand ich früher als mein Begleiter auf und wusch mich am nahen Bach. Meine Outdoor-Waschzeug-Rolle lag neben mir im grünen Moos. Tobias steckte den Kopf aus dem Zelt. "Du mit deinem dämlichen Beauty-Case", lästerte er kopfschüttelnd und legte sich wieder hin. Er war eben Minimalist und hatte auf Touren nur seine Zahnbürste und ein kleines Handtuch dabei. Aus dem Zelt klang es: "Meine Lieblingsszene bei Platoon ist immer noch die, in der der Feldwebel dem Neuen den Rucksack entmüllt." "Steh lieber auf, du faule Sau", konterte ich. Stöhnend schob er seinen Kadaver ins Licht und wir tranken Kaffee. "Mannomann ich will hier gar nicht weg", jammerte er und blinzelte in den Morgen. Aber man muss aufhören, wenn es am schönsten ist, und so entlud sich die ganze Endspurtenergie eines kompletten isländischen Sommers, indem wir ohne Pause bis nach Landmanalaugar zurückmarschierten. Das Wetter war mehr oder weniger unverändert, deshalb hielten wir uns auf den höher gelegenen Etappen nicht lange auf. Völlig verausgabt, mit brennenden Beinen und tüchtigen Kreuzschmerzen kam ich wieder an dem großen Parkplatz an, auf dem unser Bus stand. Es war 16 Uhr, ich hatte wieder einen großen Vorsprung herausgelaufen und sorgte mich um meinen Kumpel, der fast eine Stunde später, ebenfalls ganz am Ende, am VW-Bus eintraf. "Laugarvegur in zwei Tagen, du hast sie ja nicht alle", stöhnte er und warf unsanft seinen Rucksack in den Schotter. "Hin und zurück", ergänzte ich und entlockte Tobias ein unterdrücktes Lachen. "Na ja, die letzten Kilometer haben wir jeweils beschissen", korrigierte ich. Außerdem gibt es hier auch einen Ultramarathon und da laufen die das in ein paar Stunden. Auf der Karte sahen wir nach und stellten fest, in den vergangenen zwei Tagen 80 km gemacht zu haben. "Du und deine bescheuerten Gewaltmärsche", meckerte er. "Aber immerhin haben wir einen Tag gewonnen und können entspannt zu Fähre fahren", grinste er dann doch. Beim Warden bezahlten wir für eine heiße Dusche und nutzten diesen kleinen Komfort und gaben mit unseren Blessuren an. Ich hatte Rucksackstriemen, Blutblasen und eine rote Verbrennung, weil ich zu optimistisch mit einem Geysir gespielt hatte. "Endlich mal ordentlich die Kerbe spülen", schwärmte Tobias aus der Nebenkabine. Nur mit Regenjacke, Unterhose und Wanderstiefeln bekleidet gingen wir zum T3 zurück. Mein Kumpel und ich hatten keinen Bock auf die warme Pfütze mit dem Holzsteg und lagen kurz darauf im Schlafsack.
"Mensch, zwei solche Tage steckst du am Ende eines Wanderurlaubs immer besser weg", sagte Tobias noch, dann überwog die Müdigkeit.

Der T3 schaukelte uns die Südküste entlang. An der Gletscherlagune Jökulsarlon gelangen mir noch ein paar Aufnahmen, aber es fehlte am Licht. Tobias und ich laberten und rauchten während der Fahrt, und weil die Sonne die Wellen so schön glitzern ließ, hielten wir an und legten uns in einen grasigen Steilhang an der Küste. Die Möwen zischten wenige Zentimeter an uns vorbei. Zwei zufriedene Träumer ließen das Ganze auf sich einwirken. Das Rauschen der Brandung und das Gekreische der Seevögel wirkte einschläfernd. Nach zwei Stunden sagte Tobias, schon im Bus sitzend: "Komm, wir packen es und fahren weiter." Ich hing noch etwas nach, bemerkte den großen braunen Widder in der Nähe, der uns schon länger aus der Distanz argwöhnisch beobachtete. Das Tier war mit unserer Anwesenheit wohl nicht ganz einverstanden und versuchte, uns nun beim Aufbruch zu helfen. Er kam drohend näher und wollte, dass ich endlich im Auto verschwinde. Ich hob einen Stein auf und schleuderte ihn dem kessen Gesellen entgegen. Das Geschoss traf ihn mit einem lauten "Tock" direkt zwischen die Hörner. Er hatte den Stein nicht fliegen sehen und war komplett überrascht. Blitzschnell griff er an und rannte auf mich zu. Ich hüpfte ins Fahrzeug und schloss die Tür. "Du bist echt eine feige Sau. Geh doch raus und diskutier mit ihm. Erst ärgerst du den und dann verpisst du dich", lachte Tobias. "Verschwinde, sonst kommst du auch an den Kühlergrill", rief ich lachend aus dem Fenster. Wir knatterten davon.

Die einseitige und extrem kohlehydratreiche Ernährung forderte ihren Tribut. Seit einer knappen Woche schon litt ich unter Verstopfung. Alle Versuche, diesen überaus unangenehmen Zustand zu beenden, scheiterten kläglich, und alles, was dabei rauskam waren Nasenbluten und geplatzte Äderchen in den Augen, die im Rückspiegel deutlich zu sehen waren. Ich war sogar im Begriff, mich in ärztliche Behandlung zu begeben. Wir fuhren daher die Ringstraße im Süden gen Egilstadir und kürzten über den Pass, genannt "Öxi", einige Kilometer ab. Der Nebel hing dicht an der Küste, und wir hofften auf Sonnenschein weiter oben. Tatsächlich öffnete sich der Nebelvorhang, und der grüne Transporter mit dem Schafsschädel entstieg der Watte. Gleißendes Sonnenlicht umgab uns, und die grünen Hügel mit dem glitzernden Bach sahen umwerfend aus. "Halt mal an, ich will ein Foto machen", meldete ich mich, und Tobias fuhr rechts ran. Ich wusste nicht mehr, ob es am Sonnenlicht, an dem infolge der gewonnen Höhenmeter abnehmenden Luftdruck oder an der Erschütterung lag, die mein Körper erfuhr, als ich aus dem Bus hüpfte. Jedenfalls kündigte sich mit unfassbarem Nachdruck jenes herbeigesehnte Großereignis an, das keine weitere Verzögerung duldete. Keine Zigarette und kein Kaffee hatten je bewirkt, was ich in diesem Augenblick verspürte. "Wollt ihr den totalen Kackreiz?" brüllte ich, schnappte mir die seit Tagen bereitgelegte Klorolle und suchte hektisch nach einer Deckung hangabwärts. "Wollt ihr ihn totaler und radikaler, als wir ihn uns überhaupt vorstellen können?" flüsterte ich von einem Bein auf das andere springend. Den Hügel hoch laufen hielt ich für zu riskant, da sich mit Sicherheit infolge der gebeugten Körperhaltung der Kackstift zu weit Richtung Luke geschoben hätte und sowieso schon die Hühner daran pickten. Ich drückte also die Hüften nach vorne durch und hastete bergab auf einen Felsbrocken zu, der ein Stück unterhalb auf der anderen Seite des Baches lag. Jeder Schritt fühlte sich an wie der Countdown zu einem unaufhaltbaren Wahnsinns-Gletscherlauf der Exkremente, der unvermeidlich und unmittelbar bevorstand. "Verdammt, ich muss es schaffen", jammerte ich schnaufend und unter Schmerzen. Dann versagte ob dieser Extrembelastung mein im Körper vorgesehener Verschlussmechanismus und ich drehte zwecks Unterstützung meine Fußspitzen nach außen, um zusätzlich die Klemmwirkung der Gesäßmuskulatur auszunutzen. Ich musste an die Szene in "Das Boot" denken, als das Wasser unter Druck seitlich aus dem Rohrflansch spritzte. Wie Charlie Chaplin watschelte ich in Wanderstiefeln durch den knietiefen Fluss. Zum Schuheausziehen fehlten einfach die notwendigen Sekunden. Als ich die Kälte spürte, war klar, dass ich das andere Ufer nicht rechtzeitig erreichen würde, obwohl es höchstens einen weiteren Schritt erfordert hätte. Ich riss meine Hose herunter, die nun vollständig unter Wasser lag, und wie eine Eisenbahnschiene, die glühend aus einem Walzwerk schießt, entlud sich die eisenharte Überfälligkeit vertikal in die kalten schnell fließenden Fluten. Ich schrie vor Erleichterung, und Tränen liefen mir über die Wangen. Mein gesamter Verdauungstrakt bebte aufgrund dieser peristaltischen Weltrekordsleistung wie ein Hustenfall nach dem Kotzen. Die Ausstoßgeschwindigkeit drückte die Dachlatte, den Baseballschläger, ja den Zaunpfahl, ... im Strangpressbogen zunächst unter Wasser und er tauchte erst einige Meter weiter stromabwärts wieder auf. Die gigantischen Ausmaße schockten mich total und übertrafen meine kühnsten Erwartungen. "So was kann unmöglich aus einem Menschen herauskommen", wimmerte ich der forttreibenden Ladung hinterher. Vor Fassungslosigkeit nahm ich die Verfolgung auf und schlug prompt der Länge nach im Bach hin, weil ich über meine heruntergelassenen Hosen stolperte. Aber ich gab auch triefend nass nicht auf und rannte diesem Superlativ menschlicher Ausscheidung über viele Wasserfälle und Strudel nach. Dabei fiel auf, dass ich nun mehr Kraft aufwenden musste, meinen Körper aufrecht zu halten, da die Stützwirkung der Fülle fehlte. Schließlich fuhren die inzwischen zerbrochenen Überreste in einem größeren Becken wie eine Ladung Salatgurken im Kreis, und ich rief nach meinem Kumpel, um eine Bestätigung für die Nachwelt zu haben, die mir sicher nicht glauben würde. "He Tobias, komm mal runter, das glaubst Du nicht. Einen Meter lang... wie die Baumstämme von Flößern", fing ich an. "Verzähl kein Scheiß und zieh dei Hos nauf", kam es von der Straße zurück. Kopfschüttelnd stieg ich in den Bus und setzte mich wieder auf den Beifahrersitz. "Warst du eigentlich kacken oder schwimmen?" fragte Tobias".

Der Pass nach Seydisfjördur war nun sonnig und völlig schneefrei. Es war schließlich schon Ende August und ein heller Tag mit ausgezeichneter Fernsicht war dabei auszuklingen. "Komm, die Fähre geht erst morgen, wir laufen noch auf den höchsten Gipfel hier", schlug Tobias vor. Ich willigte ein, gleichwohl mir klar war, dass es eine längere Wanderung bis in die Nacht werden würde. An einen verrosteten Skigebiet vorbei liefen wir auf den Bjolfur. Tatsächlich durften wir zum Abschluss noch einen herrlichen Sonnenuntergang erleben. "Scheiße, Mann, jetzt gehts auf den Dampfer und wir sind wieder daheim", jammerte Tobias mal wieder. Ich sah der Zukunft eigentlich recht optimistisch entgegen. Ulli war schon wieder zu Hause und ich würde sie bald wieder sehen, da irgendwo hinter dem Horizont. Wir schauten auf das Meer und auf den Fjord unter uns. Ich hatte noch einen Monat Urlaub und freute mich auf die Fertigstellung meines Flugzeugbauprojektes. Die große, weiße "Norröna" würde uns dahin bringen. Und irgendwann würde sie mich auch wieder zurück bringen.

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