Selbstverständlich verfolgte ich die jüngsten vulkanischen Vorgänge in
Island mit großem Interesse. Es rumpelte, es bebte und es knisterte im
Boden. Die Experten und Wissenschaftler stimmten einmal mehr über einen
unmittelbar bevorstehenden Ausbruch auf der Halbinsel Reykjanes überein.
Als es schließlich im Frühjahr 2021 endlich losging, und die ersten
spektakulären Bilder im Netz erschienen, verspürte ich wieder ein großes
Verlangen, auch diese Eruption mit eigenen Augen zu sehen. Leider hielt die
Covid-19-Pandemie die Welt fest im Griff und es galten überall harsche
Beschränkungen. Sämtliche Regierungen riefen seit langem dazu auf, Spaßreisen
gefälligst zu unterlassen, und irgendwie hatte das ja auch seine
Berechtigung. Schließlich ging es nun darum, den Verbreitungsmechanismus
einer solchen ansteckenden und gefährlichen Krankheit effektiv zu dämpfen.
Die Sommerurlaube im letzten Jahr fielen ja mehr oder weniger durch die
Bank aus. Der gesamte Luftverkehr lag am Boden und die
Ferienfliegerei fand praktisch nicht mehr statt. Selbst im zweiten Jahr dieser
globalen Krise, schien sich daran nichts zu ändern. Die
Situation in unserer eigenen Familie gestaltete sich auch nicht einfach, da
Schule und Kindergarten zeitweise vollkommen geschlossen blieben. Im
Türklinken-Business schrappten wir stets nahe am Homeoffice-Koller entlang.
Mit zwei berufstätigen Erwachsenen und zwei kleinen Kindern bedeutete das
eine organisatorische Höchstbelastung. "Was erwarten die denn noch
alles?" fragte ich mich immer, wenn in den Nachrichten die Lockdown-Schrauben
wieder angezogen wurden. Jedes Mal, wenn ich meine dämliche Maske aufsetzte, nur um einzukaufen
zu gehen, da ging mir die Sache schon derart auf den Sack, dass ich mir
eine akute Infektion wünschte. Das Risiko eines schweren Verlaufes würde
ich dabei bewusst eingehen, nur im endlich Ruhe vor dem ganzen Wahnsinn zu
haben. Wir haben hier auf dem Dorf einen alten Typhus-Friedhof, der bei
der letzten Pandemie eigens angelegt werden musste. Somit ist doch die
lokale Sterbeinfrastruktur vorhanden und ich erwarte inzwischen
auch eine gewisse Vakanz. Da sollte ich mir beim Bestatter schleunigst
das Premiumpaket sichern. Im Gegensatz zum Reiseveranstalter, darf der
wenigstens ein Angebot machen. Ich stelle mich dann ohne Maske aufrecht
vor mein Loch und zeige der Welt, wie man auch ohne 7-Tage-Inzidenz, ohne
Robert-Koch-Institut und ohne Gesundheitsminister anständig krepieren kann.
Dumm ist nur, dass ich mir meine Henkersmahlzeit liefern lassen muss, und
zum Abschiedsschoppen darf keiner kommen. Verrecken mit Hygienekonzept hat
einfach keinen Stil. Aber wenn alle Dinge die Spaß machen abgesagt
sind, dann brauch ich auch nicht unbedingt überleben. Da dieser Planet
sowieso an Überbevölkerung leidet, wäre das dann obendrein mein ganz
persönlicher Beitrag zum Klimaschutz. Kein grünes Lebensmodell und keine
noch so tolle Mobilitätsrevolution nimmt es in dieser Hinsicht mit einem
klassischen Suizid auf. Aber mal im Ernst, so eine
Seuche ist eben auch eine kollektive Angelegenheit,
und da steht die eigene körperliche Unversehrtheit, auch wenn ich sie in
diesem Fall als Versehrtheit einstufe, hinter dem Gemeinnutz zurück.
Schließlich hat man da auch eine gewisse Verantwortung gegenüber seinem
Nächsten, und da ist so eine akute Vulkangeilheit einfach irgendwie fehl am
Platze. Island hatte dazu sehr strenge Einreisevorschriften eingeführt und
die einzig praktikable Variante, dort einzureisen, setzte eine vollständige
Impfung voraus. Als Alternative bot sich da eine fünf Tage dauernde
Quarantäne an. Während dieser herrschte strenger Hausarrest und der Besuch
des Vulkans war ausdrücklich verboten. So eine Nummer wollte ich mir dann
doch nicht geben, und angesichts der angespannten häuslichen Lage war an
eine Auszeit in dieser Dimension ohnehin nicht zu denken. Meine Einstufung in
die entsprechende Impfgruppe machte zudem wenig Hoffnung so eine begehrte Spritze
in naher Zukunft zu erhalten. Unter dem Strich hatte ich also eine
verdammt schlechte Ausgangsposition, und hin und wieder sparte ich mir
daher die stets frustrierende Recherche nach den Neuigkeiten aus Reykjanes.
Teilweise war diese schon faszinierend, auch wenn die Eruption bisweilen
wie ein Volksfest aussah. Auf einigen Youtube-Videos drängten sich
bisweilen mehrere hundert Menschen um den Schlot. Die Lava sprudelte munter vor sich hin, und die einzige Hoffnung
dem beizuwohnen, nämlich eine
zügige Durchimpfung der Bevölkerung, kam nur äußerst schleppend voran. Ich würde
einfach nicht schnell genug an die Reihe kommen und
es sah ganz so aus, als würde ich diesmal das Rennen gegen den Vulkan verlieren. „Ach,
du kannst noch
viele Ausbrüche in Island sehen, und vielleicht dauert es ja auch länger“,
tröstete mich Ulli, wenn ich ihr mit meinen Exotensorgen wieder einmal auf
die Nerven ging. „Andere haben in diesen Zeiten echte Sorgen und du
jammerst über einen geloosten Islandtrip." Verständnis hatte ich in der
Tat nicht erwartet, aber die Enttäuschung war trotzdem groß. |
◊ |
Anfang Mai hatte uns der Alltag voll im Griff. Immerhin machten kürzlich die
Schulen und Kindergärten wieder auf. Dies spürten wir sofort, da es eine gewisse
Entlastung bedeutete. Wer hätte gedacht, dass ich mich mal derart auf meinen
Schreibtisch in der Firma freuen würde. Ein Silberstreifen am Horizont zeichnete
sich ab, und irgendwann musste dieser Mist ja auch mal vorbei sein. Die
Nachrichten sprachen von baldiger Entlastung. Man bereitete sich organisatorisch
schon auf „die Zeit danach“ vor. Ich widmete mich in diesen Tagen meinen
privaten, administrativen Versäumnissen und dazu gehörte eben auch die
Erneuerung meiner medizinischen Fliegertauglichkeit. Diese war lange abgelaufen,
was in den Lockdown-Zeiten keinen Unterschied machte, da ohnehin jeder
Flugbetrieb praktisch eingestellt blieb. Dieser Notwendigkeit nachkommend saß
ich nun alleine im Wartezimmer der fliegerärztlichen Praxis und achtete peinlich
auf den korrekten Sitz meiner FFP2-Maske. Sonst war der Laden immer gut gefüllt,
aber aufgrund der neuen Lage und des Hyieneplans wurden wohl nur sehr begrenzt
Termine vergeben. Sogar die Kugelschreiber zum Ausfüllen der Unterlagen, wurden
in "gebracht" und "ungebraucht" getrennt. Nach gut drei Stunden hatte ich alle
vorgeschriebenen Tests durchlaufen und freute mich besonders über den
bestandenen Augentest, der all die Jahre immer schwieriger wurde. „In ihrem
Alter schaffen das nur zwei Prozent ohne Sehhilfe“, kommentierte die junge
Helferin mein Ergebnis. Na wenigstens hat sie mich nicht auch noch „Opa“
genannt, dachte ich mir. „Zahlen sie mit EC?“ fragte sie freundlich. Nickend
schob ich die Karte unter dem riesigen Plexiglas-Spuckschutz am Schalter
hindurch. Die junge Frau unterbrach ihren Griff nach dem Plastik, weil plötzlich
das Telefon klingelte. Entschuldigend blickte sie mich an und drückte sich den
Hörer ans Ohr. Etwas gelangweilt betrachtete ich in der Zwischenzeit die Tattoos
auf ihren Unterarmen. Sie sprach sehr laut und daher bekam ich einige
Gesprächsfetzen des Telefonates mit: „...zu viele
Impfstoffverweigerer...Priorisierung vorerst aufgehoben...Termine...übrig."
Kopfschüttelnd legte die junge Frau auf und steckte geschäftig meine Karte in
das Lesegerät. Sie wollte es mir zur Eingabe der Pin gerade wieder zurückgeben,
da nutzte ich den Blickkontakt und fragte ungläubig: „Entschuldigen sie bitte,
aber ich stand gerade neben dran. Sagen sie mal, bedeutet das etwa ich könnte
auch einen Impftermin bekommen?“ Etwas überrascht sah sie mich an, schaute auf
meine Unterlagen, die noch vor ihr auf dem Tisch lagen und meinte schlicht:
„Ja." Sie müssten aber Astra-Zeneka akzeptieren“, fügte sie hinzu. „Gerne, kein
Problem“, erwiderte ich prompt. „Ok, dann kommen sie morgen um 10 Uhr für die
erste Impfung“, beendete sie die Unterhaltung. Unfassbar, "Hatte ich da eben
unverschämtes Glück gehabt oder war das Schicksal?", fragte ich mich. Beschwingt
verließ ich das Gebäude und konnte vor Aufregung kaum heimfahren. Hier war sie
nun, meine Chance auf den Vulkan, hier hatte ich als kleiner Kassenpatient mal
einen Stich gemacht. Der erste Schritt war organisiert, und fortan bestand eine
realistische Möglichkeit nun doch in naher Zukunft nach Island zu fliegen.
Voller Euphorie surfte ich wieder die Bilder und Neuigkeiten vom Ausbruch. |
◊ |
Als ich am nächsten Tag in der Warteschlange
stand, freute ich mich zum ersten Mal in meinem Leben über meine grauen
Haare. Demonstrativ nahm ich trotz Regen meine Kappe ab und versuchte,
möglichst alt auszusehen. Ich war unter den anderen Impfpatienten bei
weitem der jüngste und schämte mich etwas dafür. Ein freundlicher Herr,
vermutlich Marokkaner, stand neben mir und wir nahmen Blickkontakt auf.
Ich konnte bei ihm so etwas wie eine „Ist vielleicht nicht ganz ohne, aber
muss jetzt halt sein“ Stimmung spüren. Zur Bestätigung gab er ein kurzes
„Muss“ von sich und ich nickte lächelnd, wir verstanden uns. Der junge
Arzt, der die Spritze geben würde, ließ es höchst militärisch angehen. Wir
wurden in 8er Gruppen hereingerufen und sofort in die gleiche Anzahl
offener Impfkabinen verteilt. Er machte eine kurze Ansprache und wies alle
Rechtshänder an, den linken Arm freizumachen. Die Linkshänder sollten sich
entsprechend den rechten Arm freimachen. „Noch Fragen?“ meinte er
grinsend. „Was ist, wenn ich einer mehr bedürftigen Person den Termin
wegnehme?“ platzte ich heraus. Etwas ungläubig trat er auf mich zu und
meinte: „Das höre ich oft, aber ich versichere ihnen, wenn sie hier
sitzen, dann hat das schon seine Richtigkeit." Er trat auf mich zu und verpasste
mir als Erstem die Injektion. „Das war ja kaum zu spüren“,
kommentierte ich den Vorgang etwas überrumpelt. „Ich hab' halt ein bisschen
Übung“, meinte er und hatte im Nu die anderen sieben Spritzen gesetzt. „Wie
viele schaffen sie denn so am Tag?“ fragte ich, mein Hemd wieder herunter
krempelnd. „Um die 400“, meinte er. „Ach sie sind das“, ergänzte lachend der
Mann gegenüber. Wir zogen anerkennend die Mundwinkel herunter, bedankten
uns herzlich und verließen der Reihe nach den Raum. „Bleiben sie noch 15
Minuten draußen und gehen dann selbstständig heim, wenn sie sich gut
fühlen“, rief er uns hinterher. Fortan fieberte ich dem zweiten Impftermin
entgegen, denn dieser war entscheidend für eine einigermaßen barrierefreie
Einreise nach Island. Hier informierte ich mich nun täglich sehr genau
über die Einreisebestimmungen.
Augenscheinlich war dem isländischen
Gesundheitsministerium bei der Festlegung der Vorschriften ein kleiner
Fehler unterlaufen. Im Gegensatz zu den übrigen europäischen Staaten galt
eine Impfung schon am Tage der 2. Injektion als vollständig und
entsprechend gültig. Die sonst übliche 14-Tage-Frist wurde bei den Anforderungen
nicht erwähnt, gleichwohl der Abstand der einzelnen Impfungen genauestens
spezifiziert war. Zur Sicherheit schrieb ich den isländischen
Tourismusverband an. Ich wollte Klarheit über diesen kuriosen Umstand.
Leider verwiesen die nur wieder auf die entsprechende Seite des
Ministeriums. Einige Beiträge in einschlägigen Foren bestätigten meine
Vermutung zudem. Es war einfach nicht hundertprozentig heraus zu bekommen,
mit einer gewissen Unschärfe und mit einem gewissen Risiko war schlicht zu
rechnen. Ich könnte also theoretisch gleich am Folgetag der 2.
Impfung meinen Flug buchen und gedachte dies auch zu tun. Als der ersehnte Tag nun endlich in Reichweite
rückte und das
Wetter an dem entsprechend folgenden Samstag toll werden würde, da drückte
ich auf den Knopf und buchte kurzfristig meinen Flug nach Island und meine
Hotelübernachtung in Grindavik. Die kleine Siedlung befindet sich in
unmittelbarer Nähe des Ausbruchs und erschien mir schlicht als ideale
Basis für das geplante Unternehmen. Sicher verkannte ich nicht das Spiel
mit den unklaren und unbeständigen Bestimmungen, und schließlich hatte ich
die erforderliche Impfung, die just am Tage zuvor stattfinden sollte, auch noch nicht
erhalten. Aber die Chance auf glühende Lava in der Mitternachtssonne ließ
mich das alles leichtsinnig vergessen. Am Vorabend des wichtigen
Arzttermins checkte ich nochmals die Einreisevorschriften und mir gefror
augenblicklich das Blut in den Adern. Die hatten doch tatsächlich nun mit der
14-Tage-Frist nachgezogen. Das bedeutete, zum Zeitpunkt der bereits
gebuchten Reise würde ich noch keinen gültigen Impfschutz haben. Das
Gesetz hatte mich also links überholt. „Fuck, die haben doch wohl den
Arsch offen“, fluchte ich, und Ulli fuhr aufgeschreckt herum. „Was ist denn
passiert?“ wollte sie wissen. „Ach, die fordern jetzt doch die vierzehn Tage und ich habe alles schon bezahlt,
natürlich ohne Rücktrittmöglichkeit. Außerdem wird doch am Samstag das Wetter
gut“, schimpfte ich. Ulli nahm mir das Smartphone aus der Hand, um sich
selbst von dem Update zu überzeugen. „Erst ab dem 1. Juli gültig, du bist also noch im
Rennen“, grinste sie und hielt mir das Display vor die Nase. Unglaublich,
sie hatte recht, und ich konnte es gar nicht fassen. Wollen die mich mit
Absicht in den Wahnsinn treiben oder was? „Wann war noch mal deine Impfung
morgen?“ wollte sie wissen. Vermutlich ging es ihr darum, wer die Kinder
abholen würde. „Steht im Online-Familienkalender“, antwortete ich genervt.
„Nö, das steht morgen gar nichts“ sagte Ulli, und der nächste Schock
stieg in mir hoch. „Was, das habe ich doch eingetragen“, entgegnete ich
fassungslos. „Da steht jedenfalls nichts“, hielt mir Ulli das Display
wieder hin. Verdammt, ich war mir so sicher. Hatte ich mich beim Termin
getäuscht? Ich könnte schwören, es was der 24. Juni und ich brauchte doch
diese Impfung. „Du kannst es heute sowieso nicht mehr ändern, geh da
morgen hin. Du wirst sehen, das wird schon“, beruhigte mich meine Frau. „Du
hängst mir seit Wochen damit in den Ohren, das passt“, versicherte sie.
Hatte ich mir das etwa alles nur eingebildet? Ich brauchte 3 Weizenbiere und
8 Baldrian-Tabletten um pennen zu können. Die
können einen echt fertigmachen. |
◊ |
24.06.2021
An
besagtem Morgen regnete es in Strömen und von meinen Schirm, den ich
vorsorglich mitgebracht hatte, rann das Wasser nur so herunter. In der
Warteschlange befanden sich außer mir nur zwei weitere Personen. Wir
standen vor dem Zelt mit dem Schild: „2. Impfung“. Es war kein Computer zur
Prüfung meines vielleicht faulen Termins vorhanden, und die diensthabende
Ärztin kontrollierte nur meinen Impfpass, bestätigte nickend die erste
Impfung und wies mich an, auf einem Stuhl Platz zunehmen. So erging es auch
den anderen beiden und wenig später hielten wir alle drei unsere gelben
Dokumente mit den zwei begehrten Eintragungen wieder in der Hand. "Keine
Fragen, keine Antworten", kommentierte ich diese vollkommen unspektakuläre
Aktion für mich im Stillen. Tatsächlich hatte sich soeben eines meiner
Bedenken in Luft aufgelöst. Ich registrierte sofort meine nun immer
sicherer erscheinende Reise auf der vorgeschriebenen Webseite und zog mir
die isländische Covid-19-App. Vorsorglich überprüfte ich noch die
Einreisevorschriften nach Holland, denn mein Hinflug erforderte einen
Zwischenstopp in Amsterdam. Reisende aus Deutschland brauchten
offensichtlich keinen Test und kein Dokument.
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◊ |
25.06.2021
Die Kinder
wurden am nächsten Morgen brav in die Schule bzw. in den Kindergarten
gebracht. Mein vierjähriger Sohn schaute etwas traurig drein, da er gerne
auch mal „noch nicht getrocknete Lava“ sehen wollte. Ich versprach beiden
Kindern und meiner Frau, sie das nächste Mal mitzunehmen. Ulli nahm mich
mit zum Flughafen, der ohnehin auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle lag. Ich
würde zwar eine Menge Zeit bis zum Abflug haben, aber da würde ich mir
wieder ein Buch kaufen und die Ruhe am Gate genießen. Ein wenig
Organisatorisches hatte ich auch noch zu erledigen, denn das
Online-Check-In, war für diese Reise „not available“. Leider sagte mir der
Automat im Glas-Foyer von FRA Terminal 2 genau dasselbe und verwies auf
den entsprechenden echten Schalter. Dieser hatte so früh natürlich noch
geschlossen, und so trat ich etwas irritiert an die Dame am Infostand
heran. „Morsche, sagen sie mal, warum geht den kein Self-Check-In?“ sprach
ich sie an. „Ja, das ist bei manchen Flügen so, da gibt es dann wieder
gedruckte Bordkarten wie früher“, meinte sie. „Welche Airline fliegen sie
denn?“ wollte sie wissen. „KLM nach Amsterdam“, antwortet ich kurz. „Haben
sie schon einen Test gemacht?“ fragte sie forsch. „Soviel ich weiß brauch
ich keinen“, antwortete ich doch etwas überrascht. „Also KLM weiß ich jetzt
nicht, aber bei Lufthansa kommt keiner ohne Antigen-Test in ein Flugzeug,
das kann ich ihnen sagen“, erwiderte sie bestimmt. Schon wieder rutschte
mir das Herz in die Hose. Hatte ich etwas übersehen? War ich nicht in der
Lage, mit meinem dämlichen Smartphone so etwas hinzukriegen? Wie viele
Webseiten muss ich denn noch durchforsten, um an so eine banale
Information zu kommen? Aber scheiß drauf, ich habe Zeit, dann gehe ich
eben in den Keller zum Testzentrum und mache einfach mal präventiv die
Prozedur durch, bevor mich wieder einer mit so einer Hiobsbotschaft
überrascht. Zum Glück gab es außer mir keine Aspiranten und ich kam sofort
dran. Nach einer aufwändigen Kontoeröffnung mit unzähligen Bestätigungen
und Verifikationen mit diversen QR-Codes zwischen dem Tablett des
Angestellten und meinem Handy konnte ich
endlich „nur“ mit Kreditkarte bezahlen. EC, Paypal, Apple-Pay oder Bargeld
waren völlig unmöglich. Immerhin hatte ich kurz darauf das negative
Testergebnis mittels eines deutschen Zertifikates in der Hand. Als ich
wieder oben in die Halle trat, hatte sich vor meinem Schalter schon eine
hundert Meter lange Warteschlange gebildet, in die ich mich etwas mürrisch
einreihte. „Bitte ihr Testzertifikat und ihren Personalausweis“, sprach
mich die Dame an der Gepäckaufgabe an. „Ich dachte, für Amsterdam brauche
ich das nicht“, erwiderte ich, die Frage irgendwie befürchtend. „Hier kommt
keiner ohne negativen Test rein“ bestätigte sie. Ach, da lag
ich mit meinem Bauchgefühl mal wieder goldrichtig. Die wollen ihre Kunden
also einfach Durchverarschen, beschießen Dich mit tausend E-Mails von
wegen Upgrade und kostenpflichtiger Extraservice, aber das Entscheidende
halten sie zurück. Genervt und mit vielen kleinen Stressschweißperlen auf
der Stirn schaffte ich es schließlich, das ganz frische Testergebnis auf
mein Display zu bringen. „In Ordnung, aber sie haben Glück, dass ich
deutsch kann“, meinte die Check-In-Tante. „Ein deutsches Zertifikat nützt
ihnen nämlich meistens nichts“, fügte sie hinzu. Mit einer Riesenwut im
Bauch ließ ich den Security-Scan über mich ergehen und setzte mich vor den
Duty-Free-Shop um nochmals die Homepage von KLM nach dem wohl doch
erforderlichen Testergebnis zu durchsuchen. Hatte ich das derart
übersehen? Wieder hatte ich kein Glück, und für Reisende aus Deutschland
bestand keine Notwendigkeit, ein negatives Testergebnis vorzuweisen.
Allerdings gab es da auch noch eine Funktion, bei der man die Flugnummer
eingeben konnte und seine jeweiligen individuellen Covid-19-Erfordernisse
erhalten würde. Und tatsächlich, nachdem ich mich durch mehrere Werbungen
nach unten gewischt hatte, sah ich, dass mindestens ein Antigen-Test, der
nicht älter als 24 Stunden sein durfte, zwingend erforderlich war. Diese
Arschlöcher, warum hängt denn nicht ein großes Banner in der Eingangshalle
auf dem steht: „Achtung, hier fliegt keiner ohne Test, wir nehmen in
unserem Testzentrum nur Kreditkarten, und unser deutsches Zertifikat ist
in den meisten Ländern nichts wert." Fast wäre ich nach diesem ganzen
anfänglichen Impf-Geholper noch am Wischi-Waschi-Gadget gescheitert. Wie
Ulli immer ganz trefflich zu sagen pflegt: „Entweder du akzeptierst das
mit allen Häkchen oder du trägst die Konsequenzen." Aber ich wollte ja ein
schönes Erlebnis, freute mich auf Island und gedachte, mich entsprechend
einzustimmen. Nicht auszudenken, wenn das Ding versagen würde, dann würde
gar nichts mehr laufen. Im Duty-Free-Buchladen erregte ein Taschenbuch
meine Aufmerksamkeit. „Das Mädchen im Nordwind“ von Karin Baldvinson. Die
Kurzbeschreibung sagte mir zu, es roch ein wenig nach meinem
Lieblings-Island-Roman „Codex Regius“ von
Arnaldur Indridason. Augenscheinlich ebenfalls eine Nazi-Geschichte, die
mit ihrer Dunkelheit bis in die Gegenwart strahlte und als
unaussprechliches Geheimnis die im Jetzt lebenden Charaktere belastete.
Das war was für mich, und ich schlug zu. Schon nach wenigen Seiten merkte ich
aber, dass es sich um eine Schnulze handelte und der Autor irgendwie
eher wie eine Frau schreibt. Auf der letzten Seite erhielt ich die
Bestätigung, Karin Baldvinson war tatsächlich eine Frau. Aufgrund des
Namens überraschte mich das. Aber kein Mann würde über den Geruch eines
anderen Mannes schreiben. Männer haben auch keinen Geruch, ihre
Ausdünstungen sind immer eine zwingende Konsequenz ihres
Belastungsprofiles. Männer haben auch keine Frisur und keinen Bart, sie
akzeptieren lediglich die Existenz ihrer Haare. Und Männer sehen auch nicht gut aus,
der Körper eines Mannes spiegelt die im zeitlichen Mittel
wirkende Balance zwischen Tätigkeit und Nahrungsaufnahme. Das Buch hatte
echt eine Prise zu viel Groschenroman. Sofort verbarg ich das Cover mit
der Hand, um vor meinem männlichen Sitznachbarn diese Peinlichkeit zu verbergen.
Nichtsdestotrotz las ich heimlich weiter. In Amsterdam begab ich mich
sofort an das Gate, welches auf meiner Bordkarte für den Anschlussflug
vermerkt war. Die Transferzeit war nur knapp bemessen und daher beeilte
ich mich. „Gate Closed“, sag mal, hört diese Verarsche gar nicht mehr
auf, oder bin ich inzwischen einfach zu doof für diese Welt geworden,
dachte ich. Wenn ich die ganze digitale Korrespondenz mal einrechne,
die ich durchlief, um hier zu stehen, dann erkenne ich in den letzten 30
Jahren noch keinen Fortschritt. Die nahe Infotafel verschaffte Klarheit: Das Gate hatte sich geändert und das neue, richtige, befand sich nun am
anderen Ende des Flughafens. Die Minuten gingen mir aus, und als ich
endlich verschnaufend am richtigen Gate ankam, hatte das Boarding schon
begonnen. Immerhin war ich noch eingecheckt, aber ich schien auch der
einzige zu sein, der sich vertan hatte. Jetzt endlich bekam ich auch die
SMS mit der entsprechenden Nachricht: „Your Gate has changed.“ Ein
Smartphone würde ich nicht als solches bezeichnen, wenn es mir Dinge sagt,
die ich schon weiß, und mir Probleme aufzeigt, die ich bereits gelöst
habe. Scheißding, wofür habe ich eigentlich die Tage so oft meine
Telefonnummer in die ganzen Eingabemasken der Airlines gehackt? Immerhin hatte ich nun
meinen gebuchten Fensterplatz und schlug den Kitschroman wieder auf,
nachdem ich mich davon überzeugt hatte, unbeobachtet zu sein. Ja, an Bord
gab es WiFi, und ich hätte somit auch jedes andere Buch der Welt lesen
können. Ich stehe aber zu meinen Fehlern und halte jede mir selbst
eingebrockte Situation anständig durch.
Allmählich begann mir
das Buch sogar zu gefallen, da es recht gut recherchiert war und genau den
historischen Ereignissen der Zeit folgte. Schon eine Sauerei, wie das
Leben der jüdischen, deutschen Bevölkerung in den 30er Jahren nach und
nach immer schwieriger wurde. Die Verfolgung und Entrechtung durch die
Nationalsozialisten nicht genug, bereicherten sich auch noch weitere an
diesem Unglück. Das konnte ich mir lebendig vorstellen und schüttelte
angewidert den Kopf. Eine Flucht nach Island lag da auf der Hand.
Auf Island wehte ein ordentlicher Wind,
der die ausgerollte Maschine so schüttelte, dass ich das Buch weglegen
musste. Ich möchte ja irgendwann mal mit meinem eigenen Flugzeug nach
Island fliegen, aber bei diesem Wetter war ich froh, nicht selber landen zu
müssen. Mein Gepäck kam früh, und so war ich einer der ersten, die an der
Absperrung den „Barcode“ zeigen mussten. Dieser wurde allerdings noch nicht
gescannt, vermutlich gedachte man, so vorzeitig die Leute auszusortieren,
die der Registrierungsverpflichtung nicht nachgekommen waren. An der Zollstelle, wo beim letzten Mal die
große Filzerei begann, stand eine stramme,
gold-blaue Beamtin und guckte mich streng an. „Can I see your Passport
please“, sprach sie mich an. Ja was denn, geht das jetzt etwa wieder von
vorne los? Mein Déjà-vu ließ mich erröten, und mir brach der Schweiß aus. „Have
you been in Iceland before?” fragte sie. „Yes, several times", antwortete
ich. “I have noticed your 66-north jacket”, schmunzelte sie und gab mir
kopfnickend meinen Perso zurück. „Have a nice stay.“ Na, das hat ja immerhin mal geklappt, aber
nun kam es nochmal drauf an. Jetzt stand die kritische und fragwürdige Covid-Kontrolle unmittelbar bevor. Würden die Beamten tatsächlich meine gestern erfolgte 2.Impfung anerkennen? Ich trat in die große Halle und
wurde sofort von drei Männern in Plastikfolie zu einem der
vielen Schalter gerufen. Zackig befolgte ich jeden Befehl. Ich wollte denen
ein leuchtendes Beispiel von bedingungsloser Kooperation liefern. „Please
let us scan your barcode“, forderte das Team. Glücklicherweise
funktionierte dies auf Anhieb. Kurz darauf ging es um meinen
Impfpass: „Can I see your vaccination-certificate?“ Ich händigte das gelbe
Büchlein flott aus. Der Mann klappte meinen Impfpass auf, blätterte fix
ganz nach
hinten, klappte ihn wieder zu und gab ihn mir zurück. Mit einem Nicken
bestätigte er seinem Kollegen die Gültigkeit. Puh, das hatte wohl auch
geklappt. Ich bekam ein Plastikröhrchen mit Barcode und musste meine
Telefonnummer zur Bestätigung auswendig aufsagen. Mit einem seitlichen Kopfnicken
bedeutete mir der Mann, weiter zu gehen. Vor dem Ausgang befand sich ein
Container, in dem sich wieder 6 Personen in grünen OP-Kitteln und mit
Gesichtsschutz zum Spießrutenlauf aufstellten. Ich wurde mit einer
Handbewegung zum Sitzen aufgefordert, und der junge Mann machte einen
Rachen- und einen Nasenabstrich. Dann nahm er mir das Röhrchen ab, scannte
es und meinte: „You are now in quarantaine until your negative result is
there." Mir
wurde die Tür aufgehalten und in Null Komma Nichts befand ich mich vor dem
Flughafengebäude an der Bushaltestelle im Regen. Meine Hose flatterte nur
so im Wind. Was jetzt, soll ich etwa einfach abhauen? Wie stellen die sich das
vor? Busfahren war verboten und Menschenansammlungen waren zu meiden. Das
Hotelzimmer durfte nicht verlassen werden, aber irgendwie musste ich da
doch hin. Also erkundigte ich mich bei einem Uniformierten,
der mir vorschlug, doch eines der Taxis zu nehmen. Wie jetzt, Taxi geht?
Überrascht blickte ich auf die lange Schlange von Fahrzeugen, die auf
Fahrgäste warteten. Ich konnte erkennen, dass keiner der Fahrer einen Mundschutz trug. Egal,
in Island sticht ganz im Gegensatz zu Deutschland immer noch die Vernunft
das Gesetz und nicht umgekehrt. Tatsächlich ging von mir keine Gefahr aus,
auch wenn es noch nicht offiziell war. Ich hob die Hand und winkte. Der Fahrer des ersten Wagens in der
Schlange nickte und fuhr auf mich zu. Es handelte sich um einen ganz
netten, älteren Herren, der mir vom Vulkanausbruch 1973 auf den
Westmännerinseln erzählte. Er arbeitete dort als junger Kerl in einem
Bautrupp, der damals die Schäden beseitigte. Das war natürlich ein toller
Auftakt, und ich genoss das Gespräch. Er kannte sich auch mit dem aktuellen
Ausbruch gut aus, hatte aber wenig Ambitionen, sich das anzuschauen. „I have seen enough eruptions“, meinte er. „What is the name of your hotel?“
erkundigte er sich. „It is Geo-Hotel in Grindavik“ antwortete ich ihm. „Address?“
fragte er. Das war natürlich wieder typisch für Island. Als ob es in so
einem Kaff wie Grindavik nötig wäre, Straßennamen zu vergeben. Die spielen
echt Kleinstadt hier draußen. Vermutlich gibt es da nur eine Handvoll
Häuser, die weit auseinander stehen und von einem Punkt aus alle
gleichzeitig zu sehen sind. So viele Hotels kann ich mir dort sowieso
nicht vorstellen. „Volcano-hotel“ flog links an uns vorbei und ich
erwähnte es belustigt. Kurz darauf hatten wir schon die Fischfabrik am
Dorfausgang erreicht und drehten herum. „I think we missed it“, sagte der
Taxifahrer suchend. „Maybe that is the one“, sagte er und fuhr auf den
Parkplatz des Volcano-Hotels. Tatsächlich, das Gebäude sah wirklich so aus
wie auf dem Bild meiner Hotel-Buchungsbestätigung und wie sich wenig später
herausstellte, wurde erst kürzlich der Name geändert. So ist das, da hat
man mit seinem Smartphone alle Informationen dieser Welt in der Tasche, und
wenn es mal wirklich darauf ankommt, bring es doch nichts. Mit ordentlich
Kopfschmerzen und nicht wenig Stressschweiß betrat ich mein kleines
Zimmer, duschte mich im warmen Schwefelwasser und legte ich mich mit dem
Rücken auf die Matratze. Gespannt und etwas ungeduldig wartete ich auf das
Eintreffen des Testergebnisses und das Ende meiner Quarantäne.
Nach genau 5 Stunden erhielt ich eine SMS, die mir bestätigte, dass kein
Covid-19 bei mir gefunden wurde. Ein schriftliches Zertifikat oder gar
einen QR-Code gab es nicht. Ich ging davon aus, die Isländer würden diese
Information meinem Datensatz beifügen, den sie für die Registrierung
erstellt hatten. Ich hatte allen Grund zu der Vermutung, denn wenn ich
nun die Nummer meines „Barcodes“ auf der entsprechenden Seite eingab, dann
leuchtete ebenfalls ein grünes „Negativ-Fenster" auf. Mit den guten
Neuigkeiten im Gepäck trat ich in die Lobby und informierte den Mann am
Empfang über mein Ergebnis. Mit einer Geste deutete er mir an, dann doch
endlich meine Maske abzusetzen. Erst jetzt wurde mir klar, dass in Island
niemand so ein Teil trug, und ich mich in den Jahren schon daran gewöhnt hatte.
Er grinste und gab mir noch Daumen hoch, während ich nach draußen in den
Regen schlenderte. Mir ging es darum, meine nun amtliche Ankunft und neu
gewonnene Freiheit zu genießen und die ganze Umgebung in mich
hinein zu saugen. Island war wieder da und viele Erinnerungen erwachten. Der
steife Südwest blies neben diesem typischen, feinen Nieselregen auch noch
etwas Fischgeruch von der nahen Fabrik herüber. Die Seeschwalben und Möwen
kreischten, und nur selten fuhr ein Auto über die vom Frost ausgefranste
Straße. Gegenüber befand sich eine ganz authentische, isländische
Tankstelle mit Burger-Grill. Jawohl, ja, da hole ich mir jetzt so einen
fettigen, geilen Nordatlantik-Burger, und dann setze ich mich in diesen
verfehlten Stadtpark auf die Bank, mitten auf die Kreuzung, und ziehe mir
in aller Einsamkeit im Regen sitzend das Teil rein. Ich gierte nun nach so
einem Gastronomie-Erlebnis. Ich wollte mich angemessen einstimmen. Als ich
die Tür öffnete und den Innenraum betrat, wurden meine kühnsten Träume
übertroffen. In der Ecke befand sich so ein typischer
Knallbunt-Süßigkeiten-Stand, an dem es sämtlichen ungesunden Schrott zu
kaufen gab. Die drei einheimischen Mädels hinter dem Tresen und in der
Küche hörten laut Rockmusik. Auf den Tischen und auf dem Boden lagen
überall breitgetretene Pommes, Salatreste und zerfledderte Ausgaben der
Tageszeitung. Durch einen Spalt erkannte ich das Girl an der Fritteuse,
die mit der anderen Hand eine qualmende Zigarette aus der halb geöffneten Hintertür hielt und gelegentlich daran zog. Herrlich, hier fühlte ich mich
nun sauwohl, grinste über das ganze Gesicht und genoss den Moment. Die
Milchshake-Maschine stach mir ins Auge. Sie war vermutlich in den letzten
Wochen nicht ein einziges mal gereinigt worden. Die Flecken bedeckten die
Plexiglas-Abdeckung fast vollständig. Ich fand den Laden total abgefahren.
Sofort musste ich einen
großen Becher bestellen, sonst wäre ich geplatzt, so viel Dankbarkeit
empfand ich für die mir gebotene Vorstellung. Hier hatte sich nichts
geändert und das sollte es auch nicht. Das Mädel zapfte aber erst zwei
ganze Becher ab und entsorgte den "Anstich", bevor sie meinen Becher füllte.
Vorher reinigte sie mit einem
großzügigen Schwall Wasser alles in Reichweite. Das war typisch
isländisch. Zuerst wirkt es auf seine Art heruntergekommen, ja sogar
kaputt, aber die Leute wissen damit umzugehen und verkennen keineswegs,
worauf es ankommt. Ich möchte nicht falsch
verstanden werden und in keiner Weise möchte ich das Lokal diskreditieren. Die Burger sind
hervorragend und vielleicht sind die hygienischen Verhältnisse in
Wirklichkeit auch nicht so schlecht, wie ich mir das unter Umständen
wünschte. Nur dort befindet sich noch ein echtes Stück Island, dort vermag
der Tourist einen unverfälschten Eindruck von dem Land zu bekommen. Mein
finnischer Cousin pflegt stets zu sagen: "In Finnland darf manches auch
mal ein bisschen scheiße sein. Das ist nicht so wie in Deutschland, so mit
Reinheitsgebot, 100% Bio-Rindfleisch oder Spitzenqualität oder so. Jeder Finne weiß,
dass das einheimische Bier wie Pisse schmeckt und in den Würsten im Supermarkt
Sägemehl drin ist. Das ist in Finnland aber auch jedem egal, hier geht es
um andere Dinge". Daran musste ich in diesem Moment denken und das
passte auch zu Island. Der
abgekaute Golden-Circle, der volle Laugarvegur und der dämliche Strokkur mit seinem Gebetskreis aus Selfijägern sind doch nur Touristenattraktionen und haben mit dem eigentlichen Land nichts zu tun.
Was können denn die albernen, teuren Exkursionen, Day-Trips und Rides,
wenn man noch nie einen riesigen Bärtigen aus einem 45-Zoll-Jeep hat steigen
sehen, der ganz selbstverständlich einen rosafarbenen Slushy mit
Einhorn-Glitzergeschmack an der Tanke gekauft hat.
Vom echten Island gibt es keine Fotos und keine Werbeplakate, das echte
Island gilt es zu erleben. Man muss es vielleicht etwas suchen, aber es
ist noch da und die
Chancen, ein Stück davon zu finden, sind nun mal in einer Fritteuse größer,
als
an jedem Kack-Wasserfall. Hochzufrieden hockte ich mich auf die
nasse Parkbank und packte aus. Der feine Regen durchnässte langsam die
kleine Papiertüte mit den heißen Pommes darin. Ich biss herzhaft in meinen
frischen, fettigen, warmen, saftig-würzigen Burger und schluckte nach und
nach den ganzen Frust über Corona, die dämlichen Digitalkapriolen, die
Vorschriften, die QR-Codes und die ganzen anderen verkorksten
Behörden-Albernheiten herunter. Hier oben, weit weg vom restlichen
Geschehen in der Welt, in einem Land ohne Masken, konnte ich für eine
Weile die ganze Scheiße ausblenden. Das frisch gebratene Fleisch schmeckte
einfach genial, und die Regenpfütze in meinem Saucen-Schälchen aus Plastik
störte mich überhaupt nicht. Wenn es fettig genug ist, dann löst sich im
Wasser auch nichts auf. Definitiv einer der besten Burger, die ich jemals
gegessen habe. Mit der vom Wetter befeuchteten Serviette wischte ich meine
Hände ab und blickte etwas forsch zu meinem Zimmerfenster rüber. Da könnte
ich jetzt auch im Trockenen vor dem Fernseher sitzen, aber ich pfiff
drauf. Bestens gelaunt schlappte ich ins Hotel zurück und fiel erschöpft von dem ganzen Auf und Ab in einen traumlosen Schlaf.
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26.06.2021
Am nächsten Morgen schmissen mich der Jetlag und die Island-Euphorie
schon früh aus dem Bett. Erwartungsvoll zog ich die Vorhänge auf. Die
arktische Morgensonne strahlte schon hell an dem absolut wolkenfreien und
tiefblauen Himmel. Die Fahnen am Parkplatz gegenüber flatterten stramm im
Wind. „Yes“, zischte ich und ballte die Faust. Der Samstag war tatsächlich
so schön sonnig wie angekündigt. Frühstück würde es erst in drei Stunden
geben und die Triebkraft dieser Reise ließ mich in meine Laufklamotten
schlüpfen. "Jetzt jogge ich mal da raus zur Lava, checke die Lage und
anschließend gibt’s frischen Kaffee", motivierte ich
mich. In Grindavik regte sich noch gar nichts, niemand war unterwegs, und
weit und breit war kein Auto zu sehen. Ich bog tief atmend auf die
Küstenstraße ein und ließ mich von dem strammen Südwestwind auf dem
Asphalt voran schieben. Während meine Muskeln langsam warm wurden und ich
meinen Körper koffeinfrei in den Tag zwang, passierte ich die üblichen
Müllhalden am Stadtausgang. Unter den ausrangierten Küchengeräten, die zu
einem rostigen Klumpen gestapelt waren, klemmten einige Plastiktüten. Die
knatterten im Wind und leisteten einen akustischen Beitrag zu dem allgegenwärtigen Möwengeschrei. Herrlich, wieder ein Gruß aus Island
und authentischer als jede CD mit isländischer Volksmusik. Offensichtlich führte die
Straße durch die Brutgebiete der Seeschwalben, denn urplötzlich gingen die
Biester laut schimpfend auch mich los. Einige mutige Flattermänner stürzten sich immer
bis auf wenige Zentimeter auf mich herab, um dann ganz plötzlich meckernd
abzudrehen. Das kannte ich aber schon und wusste, dass man eigentlich nur
bei den Raubmöwen aufpassen muss. Zu allem Überfluss wurde jeder
Schwarm-Angriff von einer klatschenden Salve weißen Kotes auf den
schwarzen Teer um mich
herum begleitet, und ich fragte mich, ob die Bande das wohl mit Absicht
machte. Glücklicherweise verfehlten die kleinen Vögel stets ihr Ziel,
mitunter allerdings sehr knapp. Den Verlauf der Straße hatte ich noch im
Kopf und erreichte bald die Schleife, in deren Scheitel der Weg zum Vulkan
abzweigen würde. Umfassende Straßenarbeiten und Parkplatzbauten ließen
mich vermuten, dass die Investoren hier mit einem länger währenden
Ausbruch bzw. Geschäft rechneten. An jenem Morgen war aber niemand zu
sehen, kein Auto, kein Wanderer und kein Ranger störten meine Einsamkeit.
Nach exakt 9 Kilometern, vom Lokus bis
zur Lava, stand ich nun unten an der dampfenden
Front auf der Natthagi. Zufrieden blinzelte ich in den Himmel,
streckte meine Knochen, dehnte meine alten Beinchen und freute mich, den in
den letzten Wochen haufenweise auf Bildern und Videos recherchierten Ort
nun in echt zu sehen. Ich war tatsächlich angekommen.

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Auf
dem Rückweg kamen mir dann doch schon die ersten Gäste zu Fuß entgegen,
die ich nickend grüßte. Die schauten alle etwas verwundert und hielten
mich bestimmt für einen Einheimischen. „Guck mal, der Typ ist hier raus
gejoggt“, kommentierte ein junges Paar mein Passieren. Nach 9 weiteren
Kilometern mit einer herrlichen Sicht auf die tosende Küste, viel frischer
Seeluft und nach diversen Seeschwalben-Attacken, stand ich wieder unter
der warmen, schwefeligen Dusche im Hotel.
Gespannt beobachtete ich durch die große
Scheibe im Frühstücksraum das Erwachen des Städtchens. Die ersten Landsbjörg-Fahrzeuge bogen ab
zum Vulkan, einige Möwen plünderten einen Mülleimer und
erstaunlich viele Rennradfahrer brausten mit Rückenwind die Küstenstraße
entlang. Der Mann am Empfang erkundigte sich nach meinen Plänen für den
Tag. Wir unterhielten uns eine ganze Weile, und er hatte viele
aktuelle Informationen über den Ausbruch. Er hielt sich allerdings auch mit dem
neusten lokalen Klatsch nicht zurück: „A man got lost near the volcano
yesterday”, flüsterte er mit vorgehaltener Hand. “His wife stays in here and she is watched by the Red Cross”, meinte er und wies
mit einer Kopfbewegung auf die uniformierte Frau, die in der Lounge saß
und einen Arztkoffer neben sich abgestellt hatte. „They have been
searching for him all night“, fügte er hinzu. “Oh my god, I really hope
they will find him alive”, entgegnete ich leise. Ich wollte den Eindruck
eines umsichtigen und vorbereiteten Wanderers machen und hielt ihm zur
Rechtfertigung die Safetravel-Seite auf meinem Display hin. Er machte
große Augen und staunte, weil er diese Quelle wohl noch nicht kannte. Am
nächsten Tag sollte ich einen Ausdruck im Foyer finden, worauf den Gästen
die Seite empfohlen wurde. Er bot mir an, eine Shuttlefahrt zum Parkplatz
zu organisieren, aber ich lehnte ab. Zu schön fand ich die Strecke und
wollte die schöne Landschaft einfach nochmal erleben. Außerdem war ich doch kein
„Ich lass mich von der Mama bringen“ Weichei. Der Tag würde noch lange
genug dauern, und die nächste Chance auf gutes Fotolicht würde es erst in
vielen Stunden geben. Schwer bepackt mit Wasser, Proviant, Stativ und
Rucksack machte ich mich auf den Weg. Ein wenig verstand ich es auch als
Prüfung für meinen alten Kadaver, von dem ich schon erwartete, dass er so
eine Tour noch konnte. Ja, ich will das zu Fuß selber schaffen, und ich will
hinterher müde Beine haben, auch wenn es hier andere Möglichkeiten gegeben
hätte. Es darf alles eben auch ein bisschen scheiße sein... Inzwischen hatte
der Verkehr auf der Straße ordentlich zugenommen und auf dem Parkplatz vor Ort befanden
sich nun mindestens 200 Autos. Sogar Busse parkten in Reihen auf dem
grünen Feld etwas abseits. Eine lange, breite Kette Menschen verschwand
zwischen den Hügeln. Auf dem ersten Bergrücken, wo der Pfad „C“
hinaufführte, sah man ganze Scharen von Pilgern. Bei dem Großteil der
Besucher handelte sich tatsächlich um Isländer, gefolgt von amerikanischen Gruppenreisenden.
Vereinzelt zeigten sich Europäer.
Ich mischte mich unter die voran steigenden Massen und folgte dem
ausgetretenen Pfad. Die beachtliche Gaswolke hob sich kontrastreich
von dem blauen Himmel ab und kündigte drohend den nahen Ausbruch an.
Zahlreiche Hubschrauber befanden sich in der Luft, und auch einige
Flugzeuge umkreisten brummend das Geschehen. Schon nach wenigen
Höhenmetern bot sich der Blick auf das Tal, welches die Lava, von mehreren
Seiten kommend, in den letzten Wochen geflutet hatte. Ein ehemaliger
Aussichtsberg war inzwischen zu einer Insel in der schwarzen, erkalteten
Masse geworden. An eigen Stellen dampfte es aber noch. Hier fand
offensichtlich etwas Größeres statt, und ich staunte über die Mengen des
Ausstoßes und über die Dimensionen dieses Naturereignisses. Hin und
wieder war ein Fauchen und Rumpeln zu vernehmen, was aber durch den Wind
und das Geknatter der Hubschrauber immer wieder unterbrochen wurde. „War
das etwa schon der Vulkan?“ hielt ich inne. Kurz darauf erreichte ich die
erste Anhöhe und sah ganz kurz die rote Lava über dem noch weit entfernten
Kraterrand aufblitzen. Wahnsinn, auf die Distanz und bei dem gleißenden
Sonnenlicht leuchtete das trotzdem so hellrot herüber. Dem Geschehen stets
näher kommend, bemerkte ich auch die schwankende Intensität des Ausbruchs.
Zwischenzeitlich sah man gar kein Feuer mehr, und
sogar der Rauch aus dem Krater war gänzlich verschwunden. Dann, urplötzlich
und von einem zeitverzögerten Donnern und Rauschen begleitet, explodierte
der Vulkan wieder und schleuderte ganze Vorhänge aus grell-orangefarbener Suppe
in die Höhe. Die dünnflüssige Glut ergoss sich in meterhohen Wellen durch
tiefe Rinnen in das Tal. Die Dynamik und die Schnelligkeit des grell
leuchtenden Flusses erschienen unfassbar. Trotzdem hörte es sich so ähnlich
wie ein Wasserfall an. Ich hockte mich etwas unterhalb des „Gipfels“ in
eine windgeschützte Spalte und machte Brotzeit. Wer auf das Bild klickt,
kann sich ein Filmchen davon anschauen. Gebannt verfolgte ich jede neue Eruption und empfand eine tiefe Dankbarkeit, jetzt und
hier sein zu dürfen, um dieses grandiose Spektakel ohne Zeitdruck in vollen Zügen
und in
mehreren Akten zu
erleben.
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Hin und
wieder kamen kleine Gruppen von Amerikanern auf die Anhöhe, die ja nun endlich
auch das Ziel des Ausfluges erreicht hatten. Aber statt eines Gruppenfotos
oder eines Selfis machten sie stets anmoderierte Live-Streams mit dem
Vulkan im Hintergrund. Nach 15 Minuten war deren Sensationsdurst
allerdings meistens gestillt. Vermutlich entsprach das ebenfalls dem
Zeitraster einer Attraktion eines Amüsement-Parks. So machten die sich
nach relativ kurzer Zeit wieder aus dem Staub. Außerdem galt nach so einem
tagesfüllenden "Hike" rechtzeitig zum Dinner wieder im Hotel zu sein. Zurück blieben die
längerfristig Interessierten, die sich, etwas im Hang verteilt, leise
unterhielten. Insgesamt verlief sich die Besucherschaft. Eine
Volksfestatmosphäre kam nicht wirklich auf, dafür waren noch zu wenige
Leute da. Die Show war einzigartig, in hohem Maße spektakulär, und schließlich
dauerte es 900 Jahre bis in dieser Gegend endlich mal wieder ein
Vulkan ausgebrochen ist. Ich fand, da kann man auch mal ein paar Stunden
sitzen bleiben. Die 30 Generationen vor uns hatten keine Chance dies zu
sehen, völlig wurscht wie lange sie gewartet hätten. Ich unterhielt
mich nett mit einem Paar aus Israel, die ebenfalls länger auf dem Berg
blieben. „Just one more“, pflegten wir zu sagen, und wir konnten uns einfach
nicht von den Eruptionen lösen, die etwa alle 4-5 Minuten donnernd unsere
Aufmerksamkeit erregten und effektiv jedes Gespräch unterbrachen. Zu
unserer Gruppe gesellte sich noch ein freundlicher Herr aus Kroatien, der
ebenfalls nur wegen des Ausbruchs nach Island gekommen war und wie ich, die 2.
Impfung nicht abwarten konnte. Der Tauchguide aus Split hatte auch die
neuesten Nachrichten von dem „verlorenen Touristen“, der allem Anschein nach
mit großem Aufwand gesucht wurde. „More than 200 rangers are looking for
this guy and they use dogs and thermal imaging“, berichtete er. Vermutlich
war das auch der Grund, warum der SAR-Hubschrauber praktisch eine ganze
Stunde lang an der selben Stelle am Himmel stand und sich nur sehr langsam
drehte. Nachdem ich den ganzen Tag in der Sonne und am Hang verbracht
hatte, meine Wasservorräte zur Neige gingen und sich auch eine gewisse
Erschöpfung zeigte, beschloss ich den Rückmarsch. Die ersten Wolken
kündigten die Wetteränderung an, und der Stand der Sonne wurde immer
ungünstiger. Die meisten Zuschauer
liefen ebenfalls den Hang wieder herunter. Nur vereinzelt kamen uns noch
Leute entgegen. Am Parkplatz sah ich auf meine Garmin-Uhr, die an diesem
Tag schon 44 km Wegstrecke aufgezeichnet hatte. Mensch, heute knacke ich
tatsächlich noch die 50 km, stellte ich zufrieden fest und korrigierte
nochmal die Trageposition meines Stativs. Zwar brannten meine Sohlen, und
müde war ich inzwischen auch, aber ich wusste, ich kann es noch, und
ich würde es ohne Überanstrengung zurück ins Hotel schaffen. Außer mir war
niemand auf der Straße zu Fuß unterwegs und tatsächlich hielten mehrere
Autos und boten an, mich mitzunehmen. Dankend lehnte ich ab, träumte
während des Marsches von der Lava und stand bald
wieder unter der ersehnten Dusche. Zufrieden stellte ich fest, dass ich
mir auch ein wenig Sonnenbrand geholt hatte. „Jetzt schnell noch rüber in
die Tanke und einen Burger holen“, trieb ich mich wieder an. Die drei Mädels
von der Tanke erzählten umgehend, dass der gesuchte Vermisste tatsächlich gefunden
wurde. Der Flur-Funk funktionierte echt gut in Island. Man war stolz auf
den Erfolg der einheimischen, freiwilligen Suchmannschaften, die ganz
offensichtlich wissen, was sie tun. Wenig später
bestätigte mir der Mann am Hotelempfang die Neuigkeit. Ich konnte gerade noch
den Daumen hoch zeigen, und zustimmend nicken um dann erschöpft auf die
Pritsche zu fallen.
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27.06.2021
Am nächsten Morgen brannten meine müden Beine
doch etwas heftiger als vermutet. Allerdings hatte sich das Wetter auch gehörig
verschlechtert und für die entsprechende Ausrede gesorgt. Ich konnte also
eine Pause machen und musste diese Bewegungsarmut noch nicht einmal vor
mir rechtfertigen. Dicker Nebel
hing über Südisland, und es sah etwa so aus, wie bei meiner Ankunft.
"Ach, jetzt in die Blaue Lagune, die Beinmuskeln schön durchwärmen und
einfach mal ein paar Stunden ausruhen", das wäre jetzt was. Der Fahrer des
Shuttles, der mich vom Hotel die kurze Strecke ins Schwimmbad fuhr,
berichtete natürlich die Neuigkeiten vom "verlorenen Mann". Dieser hatte sich wohl
verlaufen, stürzte dann in ein Loch und konnte sich aus eigener Kraft
nicht befreien. Nach 30 Stunden wurde er endlich gefunden, und wir lobten
beide die Teams von Landsbjörg, die dem Kerl ohne Zweifel das Leben
gerettet hatten. Auf dem Parkplatz zur „Blue Lagoon“ stand nur ein
einziger Bus und vielleicht 5 PKWs. Offensichtlich hatte die
Tourismusbranche noch immer mit der Pandemie zu kämpfen. Dicht
drängten sich die Wartenden in der engen Empfangshalle und warteten auf
die kurz bevorstehende Öffnung. Nur ganz vereinzelt trugen die Gäste eine
Maske. Ein Einweiser erklärte die Handhabung des Schlüsselarmbandes und
selbstverständlich hatte er weitere Updates von dem wiedergefundenen Amerikaner.
„He was knocked out and he had completely lost orientation, although he
claimed to be an experienced hiker“, erfuhren wir. Unglaublich, im Stundentakt machte
die größte Schlagzeile der Insel die Runde, ganz egal, wo man sich gerade
befand. Eine Zeitung oder gar das Netz erschienen vollkommen überflüssig.
Der Bademister musste abschließend nur eine einzige Frage aus der
Warteschlange beantworten, die aber offensichtlich mehrere Gäste stellen
wollten: „Can we take our Cellphones to the water?“ Das kapierte ich ganz
und gar nicht. Was will ich denn mit so einem Ding im Wasser?
Staunend stieg ich kurz darauf in das
trübe, warme Nass. Die Einrichtung, hatte ich weitaus kleiner in Erinnerung,
und nachdem ich prüfend eine Handvoll Silikatschlamm vom Boden des Beckens
untersuchte, fand ich sehr zu meinem Erstaunen keine Haare mehr darin. Das
hatte mich bei meinem letzten Besuch vor beinahe 20 Jahren schon echt
angewidert. Na ja, vielleicht haben die auch erst geputzt. Außer meiner
Wenigkeit hielt
fast jeder weitere Gast ein Smartphone in einem Plastikbeutel mit
Schwimmkörpern in der Hand. Und was machten die alle damit? Natürlich,
anmoderierte Live-Streams für die Daheimgebliebenen. „Für wen ist denn
nun der Urlaub?“ fragte ich mich. Egal, ich dümpelte ganz
in Ruhe, mehr oder weniger alleine in einer stillen Ecke vor mich hin,
genoss den kühlen Wind im meine Nase, die teilweise das einzige Körperteil
war, was sich nicht im Wasser befand. Alle 2 Stunden gönnte ich mir ein
Bier von der Bar und streckte regelmäßig meine geschundenen Beine.
Herrlich so ein Vormittag der Regeneration und Entspannung und der
Schwerelosigkeit. „The most
famous women of Iceland has just checked out“, wurde ich im Hotel grinsend
begrüßt. Die Dame war wohl auf dem Weg zum Krankenhaus, wo ihr Mann nach
der Tortur noch einige Zeit überwacht wurde. „I am am glad this story had a
happy end“, kommentierte ich den neuesten Klatsch. „What are your plans
today?“ fragte der Hotelier. „I am going to try the other path that leads
to the backside of the crater“, antwortete ich. „But you are not going to
see much“, meinte er und verwies mit einer Kopfbewegung auf den
großen Monitor in der Lobby, der die Webcam vom Ausbruch zeigte. „Yes, I know“,
antwortete ich etwas enttäuscht. „Maybe I can hear it, though“, fügte ich
hinzu. Eine zweite Tour zum Vulkan wollte ich dann schon machen, denn ganz
satt war ich noch nicht, und eine Chance auf Sicht besteht immer. Dieses Mal
würde ich mich aber zum Parkplatz fahren lassen, um genug Kraftreserven
für den Rückweg zu haben. Das Taxi zum Flughafen würde mich schon um 0530
abholen, und um Mitternacht wollte ich schließlich noch im Geldingadalir
sein. „Send me a short message, once your are back allright“, schlug er vor
und ich willigte gerne ein. Der Transporter des Hotels setzte mich an dem völlig leeren Parkplatz
ab, und ich verfolgte die roten Rücklichter, wie sie sich entfernten. Ich
war wieder mit der Gegend alleine und freute mich, wie
die langsam beginnende Dämmerung sich wie ein Schleier auf die feuchte,
grüne Umgebung legte. Es herrschte völlige Stille, ich atmete tief ein und
aus und tauchte in den dicken Nebel ein, der alles, was mehr als 20 Meter
entfernt war, verhüllte. Wie in einer Seifenblase folgte ich dem
Pfad über die Hügel. Zur Sicherheit prüfte ich mein GPS, welches meine
vermutete Position bestätigte und mir die Orientierung erleichterte. Da
bemerkte ich, dass sich die Schlüsselkarte zu meinem Hotelzimmer nicht
mehr in meiner Beintasche befand. Mist, ich war mir sehr sicher, sie da
hineingesteckt zu haben. Vermutlich hatte ich sie beim Aussteigen oder beim
Prüfen der Handyverbindung im Auto verloren. Scheiße aber auch, ich
muss doch morgen ganz früh in mein Zimmer, meinen Koffer holen, bevor die Rezeption
wieder besetzt ist. Ich
ärgerte mich über diesen Akt der Nachlässigkeit und wählte die Nummer, die
ich eigentlich zur Bestätigung meiner Rückkehr erhalten hatte. „No problem,
I will prepare a replacement-key card and I will hide it outside“, bot
mein Gesprächspartner an. „Wau, was für ein Service“, dachte ich mir. Die
haben echt für die größten Pfeifen vorgesorgt. Die Dankbarkeit und die
erreichte Problemlösung brachte
sofort meine gute Stimmung zurück, und erwartungsvoll schritt ich weiter voran. Der
Pfad führte einen Steilhang hinauf, wo ein Halteseil angebracht war.
Hier traf ich auf zwei junge Isländer, die ebenfalls zum Vulkan unterwegs
waren und
natürlich wieder Neuigkeiten vom gefundenen Touristen hatten. „He fell in the only
hole there is and it was quite far away from where they expected him to be“,
berichteten sie mir. Es war schon beinahe lustig. Hier wusste wirklich
jeder Bescheid, auch mitten im Nebel im gefühlten Nichts. Die Burschen
waren nett, und während wir etwas verschnauften, kamen wir ins Gespräch.
Natürlich ging es um die hohen Touristenzahlen und deren Auswirkung auf
die Einheimischen. Die kürzlich durchgeführte Suchaktion gehörte da
zweifelsfrei irgendwie dazu. Ich fühlte mich schuldig, und ja, auch meine
Anwesenheit barg ja einen potentiellen Einsatz der Rettungskräfte, und
dann waren dann noch die umfangreichen Baumaßnahmen, die nur wegen der
zahlreichen Vulkanbesucher nötig waren. „Im a big fan of Iceland“, redete
ich mich entschuldigend heraus. „Many Germans are“, fügte sein Kumpel
hinzu. Mist, da verhält man sich echt zurückhaltend und zivilisiert, aber
so richtig haben wollen die einen nicht mehr. Trotzdem verstanden wir uns irgendwie,
denn wir mochten alle drei den Nebel, die Stille und die Spannung. Der Weg führte über den
kleinen Hügel und die
Sicht betrug teilweise nur noch 10 Meter. Wir blieben zusammen und folgten
den Holzpfählen, die es auszumachen galt, wenn man brav die grobe Richtung
hielt. Zwei Stickel befanden sich nie gleichzeitig im Blickfeld, das gab die Sicht
nicht her. „Let's check the wind“, unterbrach ich unser Stochern im
Gelände. „Yes, the eruption is east of from where we are. If the wind
changes, we have to run“, kamen wir überein. Plötzlich vernahmen wir das
Rumpeln und Rauschen des Ausbruchs, und ich hatte zudem den Eindruck, hin
und wieder auch ein Knistern oder Klirren zu vernehmen. Ein Ohr in die
Marschrichtung haltend, stimmten mir die beiden Isländer zu. Eine Sekunde
darauf erkannten wir in dem grauweißen milchigen Schleier vor uns einige
orangefarbene Lichter. Der Nebel hob sich nur um wenige Meter und gab den
Blick auf die riesige, glühende Lavafläche vor uns frei. In der
unmittelbaren Nähe konnten wir die Rückseite des Kraters ausmachen, der sich
gegen den hellen Hintergrund abzeichnete.
Die glühende Masse ergoss sich in unzähligen kleinen Flüssen in unsere
Richtung und lief großflächig in die Breite. Die Hitze, die nun spürbar zu
uns herauf strahlte, hatte wohl bei der Auflösung des Nebels gehörig
nachgeholfen. Völlig geplättet von diesem neuen Blickfeld hielten wir inne
und staunten über den neuen Horizont. Beinahe gleichzeitig fingen wir uns
wieder und bewältigten noch die letzten Meter bis hinunter zur dampfenden
Lavafront. Auf dieser natürlichen Tribüne saßen noch etwa 10 weitere Personen etwas verteilt auf dem Boden. Sie unterhielten sich leise, aber jedes Mal, wenn sich am Vulkan etwas tat,
dann gab es ein vielstimmiges Raunen und Staunen.

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28.06.2021
Es roch
nach Zündhölzern und hin und wieder erhellte die über den Kraterrand
aufgeworfene Suppe wie ein Scheinwerfer diese natürliche Riesenhalle. Die
schnell fließende Lava bildete große Platten, die sich in Schüben
ausbreiteten. Jeder Schub, bei dem die nur wenige Zentimeter hohe
Lava-Front kollabierte, löste eine hellgelbe, schlitzförmige Lichtemission
aus, die ebenfalls von enormer Infrarotstrahlung begleitet wurde. Sofort
musste man die Hand vor das Gesicht nehmen. Die
Hitze flimmerte über diesem Meer aus kleinen orangefarbenen Flämmchen, die
sich glitzernd, und hier und da grell aufblubbernd, bis an die
Sichtgrenze ausbreitete. Es wirkte ein wenig wie eine Großstadt bei Nacht
mit ihrem Meer aus stehenden und sich in langen Ketten bewegenden
Lichtern. Träge und den Eindruck einer einzigen
zusammenhängenden Bewegung vermittelnd, schob sich das neue Land voran.
Das Klirren und Knistern kam von der Moräne aus erkalteten Krusten, den
dieser im Herzen noch glühende, langsam kriechende Teig vor sich herschob.
Wer auf das obere Bild klickt, kann sich ein kurzes Video aus dieser Nacht
anschauen. In Island hatte ich schon öfter erkaltete und manchmal
Jahrhunderte alte Plattenlava gesehen. Nun jetzt, in diesem
Sekundenbruchteil der Erdgeschichte einmal die unfassbar kurze Zeitspanne
mitzuerleben, in der das Zeug mal frisch ist und leuchtet, empfand ich als
überwältigend. Die Formationen, die sich gerade zu meinen Füssen bildeten,
können unter Umständen noch tausend Jahre zu sehen sein. Auch der nahe
Krater würde irgendwann einer von vielen auf Island werden und in 200
Jahren führen vielleicht auch mal Holzstege hinein. Weit entfernt
diskutieren dann wieder die deutschen Umweltfaschisten über das
empfindliche Moos, welches ja so lange gebraucht hatte um zu wachsen, und
welches immer wieder von ignoranten Besuchern zertrampelt wurde. Jetzt
zerstörte die Lava ganze Quadratkilometer Moos auf einmal und niemand konnte
dafür denunziert werden und an der Wand würde auch niemand stehen müssen.
Dampfend, die angrenzende Moosschicht auflösend, fraß sich das glühende
Erdinnere die Hänge des Tales hinauf. Irgendwann würde es komplett gefüllt
sein, daran bestand kein Zweifel. Die enorme Wärmestrahlung bewahrte die
sitzenden Zuschauer vor dem Frieren, und über die Nähe zum „Ofen“ stellte
sich jeder seine Komforttemperatur ein. Einige mutige Österreicher spielten dann auch
mit der zähen klebrigen Substanz, aber das verkniff ich mir. Ich habe als
Stift mal in einer Gießerei gearbeitet, und in der Tat erinnerte mich das
etwas an den Abguss. „An heißem Eisen bleibst du kleben, auch wenn es nicht
mehr glüht“, warnte uns damals der Meister. Die Lava war gefühlt aber noch mal deutlich heißer,
und „nur mit den Augen gucken“ reichte mir völlig. Mitternacht war längst
vorbei, und niemand aus unserer kleinen Gemeinschaft konnte sich so richtig
von dem Spektakel lösen. Ich reizte die "Nacht" komplett aus und machte
mich erst auf den Weg, als mir die Zeit für meinen 15-km-Rückmarsch, die
ich jede Stunde nach unten korrigierte, doch etwas optimistisch vorkam.
Die Seeschwalben würden mich in der Nacht, die eigentlich keine war, in
Ruhe lassen. Von wegen, diesmal traf mich wirklich eines der Biester mitten
aufs Knie. Egal, die Lichter von Grindavik konnte ich schon sehen, und den
Weg kannte ich inzwischen auch gut. Die
Schlüsselkarte befand sich in dem vereinbarten Versteck, ich kam rein, zog mich kurz um, schnappte
meinen gepackten Koffer und stieg kurz darauf in das Taxi, welches
inzwischen pünktlich erschienen war. Auf dem Rückflug las ich noch mein Buch zu Ende,
welches mir dann doch noch ganz gut gefiel. Die Geschichte wurde spannend und
natürlich wollte ich auch wissen, wie es ausgeht. Aber daheim würde ich
lieber nichts von meiner Pretty-Woman-Lektüre erzählen. Die nur halb
besetzte Icelandair-Maschine landete nach gut drei Stunden auf der zwo-fünf-rechts
in Frankfurt. Die südhessische Schwüle
umgab mich, und es roch herrlich nach Kerosin. Ulli las mich auf dem
Heimweg von der Arbeit wieder auf. Ich brauchte
die ganze Woche, um mich von den Eindrücken, den Reizen, dem Schlafentzug,
den Anstrengungen und den fettigen Burgern zu erholen. Letztere bescherten
meinem an sich eher weniger empfindlichen Magen gehörig Sodbrennen, oder war es doch die
Lava?
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