Vorwort

Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude, und tatsächlich ziehe ich seit einigen Jahren eine Menge positiver Energie aus dem Gedanken an die nächste Islandreise. Aus diversen Gründen bot sich dazu schlicht nicht die Möglichkeit, wobei Ulli wiederholt mit der These: "Ach wenn wir da jedes Jahr hinfahren, dann wird das irgendwann langweilig und verliert seinen Zauber" punktete. Insgeheim teilte ich diese Ansicht und schlug jedes Jahr den Trip erneut vor, wohl auch um mich von Ulli's unverändertem Standpunkt zu überzeugen. 2016 hatten wir schließlich wieder eine große Tour geplant. Wir verabredeten uns mit Freunden und planten das "große Ding" auf der Insel. Wir schmiedeten im Unimog-Kreis ordentlich Reisepläne, trafen uns zum Abendessen mit unseren Reisegefährten und fieberten voller Erwartung und Tatendrang der lange im voraus bezahlten Fährpassage entgegen. Wir träumten davon, schöne Pisten im Konvoi anzugehen und freuten uns darauf, diese Leidenschaft mit anderen zu teilen.
Das Schicksal wollte es anders. Nach nunmehr 4 Jahren kündigte sich einigermaßen überraschend der lang ersehnte Nachwuchs an und ich kann mich bei aller Freude über diese Nachricht besonders gut an das berechnete Geburtsdatum erinnern, da es beinahe auf den Tag mit der längst gebuchten und bezahlten Überfahrt der Norröna nach Island zusammenfiel.
Damit gerieten wir natürlich in Erklärungsnot und baten unsere Reisegefährten um Entschuldigung . Die Worte "Ausrede"  und  "Enttäuschung" passten aber trotzdem irgendwie nicht zu Fines neuem zauberhaften Brüderchen. Der Zauber Islands würde also ein weiteres Jahr auf sich warten lassen und sich möglicherweise prima in die kommende, angestrebte Elternzeit  einfügen.
"Der Zauber Islands", ja wie ist das eigentlich gemeint? Tatsächlich setzten wir uns damit intensiv auseinander und fanden in unserer inzwischen fünfjährigen Tochter eine überaus aufmerksame Zuhörerin. Selbstverständlich interessieren sich Kinder für die gelebten Leidenschaften der Eltern, aber hier fand noch etwas anderes statt. Josefine zog sich teilweise mehrfach die Filme und Bilder unserer zurückliegenden Islandreisen rein und ihre Youtube-Favoriten drehten sich mehr und mehr um die Insel. Sie wollte "unbedingt in das Land fahren wo auch die Erwachsenen an Elfen glauben". Offenbar interessierte sie sich ebenfalls für die Magie, die das Eiland verströmt. "Ja aber worin besteht diese nun?"
Vermutlich ist es der Charme, der von der Insel ausgeht. Es sind die Stimmungen, die schönen Momente, die Erinnerungen, die Atmosphäre, der Geruch und das intensive Lebensgefühl, welches wir suchen und dort mehrfach erlebten. Wir zogen so viel Positives aus unserer letzten Tour 2012, dass mir der schiere Gedanke an die Reise heute noch warme Gedanken machen kann. Das ist gar nicht so einfach zu beschreiben, denn mitunter löst ein Grashalm, der sich einsam und verloren auf einem schwarzen Lavafeld im Wind wiegt, mehr Islandfeeling aus, als eine sonnige Snowmobiltour zum Grimmsvötn. Unter Umständen berührt mich eine ruhige Minute im Hochland mit Blick in die Ferne mehr als ein Regenbogen über dem Gullfoss bei Rückseitenwetter. Mit Sicherheit  halte ich eine stürmische Regennacht im Unimog für weitaus romantischer und gemütlicher als jede Warmbadesession im Hotelpool mit Polarlicht im Mondschein. Zusammengefasst sind es nicht jene Dinge, mit welchen die isländische Tourismusindustrie so nachdrücklich Werbung betreibt.  
Unterstrichen werden diese einfachen Erlebnisse der schönen Natur noch durch die erzwungene Wohnsituation. Wir werden beinahe 7 Wochen auf 7 Quadratmetern leben und das wird mit Sicherheit für unsere inzwischen vierköpfige Familie viele bleibende Erinnerungen schaffen. So viel Nähe und Zeit werden wir in Zukunft so schnell nicht wieder gemeinsam verbringen und verbringen können, unter Umständen sogar niemals mehr. Ich selbst sehe in unserem Sommer 2017 in Island die große Chance auf eine einzigartige Reise, von der wir wieder lange zehren werden. Wenn da nur annähernd so viel hängenbleibt wie bei den vorangegangenen Trips, dann dürfen wir uns sehr glücklich schätzen. Voller Dankbarkeit über die Möglichkeiten, die sich uns hier boten, fieberten wir unserer großen Auszeit entgegen. Durch unsere Elternzeiten hatten wir beide zusammen 2 Monate frei, unsere Kinder waren noch nicht in der Schule, wir befanden uns alle in einem Gesundheitszustand, der so eine Reise zuließ, wir verfügten über ein geeignetes Fahrzeug für diese Art von Urlaub, kein naher Verwandter war auf unsere Anwesenheit direkt angewiesen, und die derzeitige politische Situation erlaubte es einer deutschen Familie grundsätzlich, nach Island zu fahren.
Nur wollen die Isländer uns überhaupt noch sehen da oben? Sind wir angesichts des aufkommenden Massentourismus auf der Insel überhaupt noch willkommen? Die deutsche Island-Szene diskutiert heftig, und auch in Island selbst gibt es neuerdings Auseinandersetzungen, die unter anderem zum Verbot des "Wildcampens" bzw. "Freistehens" geführt haben. Ja, richtig gelesen, in Island darf man seit 2016 nicht mehr außerhalb von Campingplätzen übernachten, es sei denn, der Grundstückseigentümer stimmt dem explizit zu.
Es stellt sich daher die Frage, ob Island überhaupt noch eine richtige Expeditionsmobil-Wildnis ist. Das, was aus dem Nordwesten in letzter Zeit rüberkommt, erinnert in Sachen Überwachung doch eher an eine deutsche Schrebergartenkolonie. Damit verkauft das Eiland schon einen gewissen Anteil seines Rauen-Charakters und die Isländer machen einen großen Schritt auf das Festland zu. In 10 Jahren stehen sie dann nicht mehr mit Strickpulli im Schneesturm und lassen den Blick über das Hochland schweifen, sondern lehnen am Lattenzaun und passen auf, dass niemand die Gartenzwerge schief anguckt. Genau darin besteht dann am Ende auch der Interessenkonflikt bei dieser Debatte. Der Einheimische will ein richtiges Land, was eigentlich keines ist, und der Tourist will eine Wildnis, welche eigentlich auch keine ist.
Und was machen wir Deutschen? Tja, einige von uns lesen nun Reiseblogs im Netz ausschließlich mit der Motivation, etwaige Gesetzesübertretungen aufzudecken und zu melden. Offensichtlich wird unser Volk die Leidenschaft, Anzeigen auszusprechen und in der Konsequenz gewisse Menschengruppen an den Pranger zu stellen, nicht wirklich los. Ob Rechts- oder Unrechtsregime ist völlig egal. Dabei verschwindet der Unterschied zwischen problematischen Gewohnheiten, Traditionen oder einer falschen Gesinnung hin zu konkreten Vergehen schnell und beinahe spurlos. Vermutlich existiert hier auf Volksebene ein gewisser "Stau" an negativen Emotionen, den wir in dieser Epoche unserer Geschichte nicht kanalisieren können. Da nun diverse bekannte Zielgruppen ausfallen, wenden wir uns nun den Spurenziehern, den Müllhinterlassern und den Walfleischessern zu. Sicher, das klingt zunächst sehr weit hergeholt und riecht verdammt nach Satire, aber der Abgrund, aus dem diese Suppe hoch kocht, ist vermutlich noch derselbe. Unter Umständen stellen sich diese verhinderten Aktivisten sogar heimlich vor den Spiegel und prüfen, ob ihnen der sozialistische oder gar der deutsche Gruß besser stehen. Der Verdacht liegt nahe, dass auch eine Generationen zurückliegende sexuelle Revolution einem richtigen Deutschen das Totalitäre nicht auszutreiben vermag. Ginge es nach diesen Tarnhippies, dann gäbe es für überführte Gänseblümchenausreißer und Mooszertrampler natürlich eine Sandsackwand, einen Holzpfahl, 12 Kugeln und einen zackigen Schießbefehl. Ob dieser dann von einem bärtigen Langhaarigen mit Batikhose, Greenpeace-T-Shirt und Bhagwan-Kette kommt, oder von einem strammen Uniformierten, ist jenem egal, auf den zwölf mal 10 Gramm Blei mit 600 m/s zufliegen. Nur eines ist sicher, die letzten Worte, die er vernehmen wird, werden vermutlich in deutsch gebrüllt. Möglicherweise macht es, den jüngsten Entwicklungen auf der Insel geschuldet Sinn, dem Erschießungskommando auch etwas isländisch beizubringen.
Das intoleranteste aller Regime, der Neo-Umwelt-Faschismus, hat seine Schreckensherrschaft angetreten und seine Feinde identifiziert. Die edlen Ziele, die einst das Wohl und den Fortbestand unseres Planeten betrafen,  sind bei so viel extremistischer Gesinnung kaum noch auszumachen.
Daher lade ich auch alle verhinderten Umwelt-Imperatoren und Hobby-Parkranger ganz herzlich dazu ein, diesen Reisebericht zu lesen.

 




05.08.2017
Die Packerei war dieses Mal schon recht umfangreich, schließlich wollten wir diesmal eine Weile bleiben. Stundenlang trug ich den Krempel, den wir jeweils im Etappen im Hausflur bereitstellten, in den Aufbau des Ullimog. Anschließend hakte ich die geladenen Utensilien entsprechend auf der Packliste ab. Es war schon erstaunlich was da am Ende in dem Kasten verschwand. Ulli und ich blieben im Alltag überzeugte Kleinwagenfahrer und hielten es zunächst für unmöglich, den gewaltigen Haufen Zeugs unterzubringen. Wir behielten nach der Geburt unseres zweiten Kindes beide unsere kleinen Autos und kauften nicht etwa irgend so ein geräumiges Familienvehikel. Bei Bedarf beschlossen wir, eben ein großes Auto zu mieten. So kam es, dass wir vor einigen Wochen übers Wochenende einen Ford S-Max ausliehen. Ein riesiges Raumschiff, welches  alles an Bling-Bling und Komfort-Gadgets hatte und nicht mal schlecht fuhr. Da war ordentlich Platz drin, und da staunten wir schon darüber, was in ein entsprechend großes Auto alles hinein passte. Der Ullimog schluckte aber ein Vielfaches, obwohl durch die neuen zusätzlichen Sitze im Aufbau sogar noch einiges an Kapazität ausfiel. Als Familienurlaubsfahrzeug zeigte sich der Ullimog einfach ungeschlagen und konnte beim Innenvolumen jeden derzeit erhältlichen Pampersbomber auf die Plätze verweisen. Sollten wir mal ans Meer fahren, puste ich das Schlauchboot schon daheim auf und lasse es während der Fahrt im Waschbecken schwimmen.
Voll Déjà-vu mäßig widmete ich mich am Vortag wieder dem Rasenmähen, und sogar die Flasche Weißwein, die wir vor unserer letzten Islandreise 2012 noch gemeinsam leerten, fehlte auch diesmal nicht. Als die Kinder endlich schliefen, saßen wir noch lange im Dunkeln auf unserer Terrasse und feierten die letzte laue Sommernacht mit Grillenzirpen, Kerzenflackern und warmem Wind.
Am nächsten Morgen, dem Reisetag, rollerten wir ebenfalls um 8:45 Uhr an. Wir beschlossen, zunächst in der Konfiguration Ulli sitzt mit Fine hinten im Aufbau und ich sitze mit Felix vorne, loszufahren. Das diente dann quasi der Eingewöhnung. Auf halber Strecke beschlossen wir aber unsere geplante, endgültige Aufteilung, Fine sitzt mit Felix hinten und Ulli sitzt bei mir vorne, auszuprobieren. Das wäre sehr praktisch, wobei wir uns schon Gedanken machen, einer Fünfjährigen so etwas zuzumuten. Zudem besteht nicht wirklich die Möglichkeit, im Notfall etwas auszurichten, weil es keinen echten Zugang gibt. Das ging aber in besagtem Ford Wahnsinnsvan-Supermarktparklatzschreck auch nicht wirklich. Unser Mädchen hatte aber alles schnell kapiert und kümmerte sich prima um Ihren kleinen Bruder. Sie nahm Ihren Posten als "Aufbaumanagerin" sehr erst und versorgte Ihren kleinen Brüder mit Hingabe. Ulli sprach mit Ihr durch unseren kleinen Durchstieg, reichte Ihr die Verpflegung weiter. Ich bekam als Fahrer recht wenig davon mit.
Während einer Pinkelpause auf irgendeinem Rastplatz musste ich Felix mitnehmen, da Ulli mit Fine schon aus gleichem Anlass auf und davon war. So ein Einjähriger auf dem Arm, der zudem recht schwer und kräftig geraten ist, machte so eine Aktion nicht einfacher. Aber mich überkam der Ehrgeiz und ich wollte das einhändig hinkriegen. Da ich den kleinen Fratz nicht absetzen wollte, behielt ich Felix schlicht auf dem Arm. Der Mann neben mir grinste und nickte anerkennend.
Aber meine gute Laune über die geglückte Aktion und die als "erfolgreich" bewährte Sitzkonstellation mit den Kindern hinten erhielt mit dem 32 km Stau auf der A7 ein jähes Ende. Mist, man kann wirklich die Reisezeit gut wählen, antizyklisch fahren und sich über den Verkehr informieren, aber in Deutschland einen Tag Auto fahren birgt schlicht solche Unannehmlichkeiten. Es nervte einfach und so suchte ich für meine aufkommende negative Energie Ziele auf der anderen Seite der Windschutzscheibe.
Just in diesem Moment quetschte sich ein Landcruiser vor uns rein, der einen Vorteil darin sah, in einem 32.000 Meter langen Stau 5 Meter gut zu machen.
Die Karre war hochgelegt, voller Sandbleche, Reservekanister und Bergematerial. Ich konnte sogar die Zipperhosen des Fahrers ausmachen.
"Der hat aber dein Abstandhalten jetzt geschickt ausgenutzt", meinte Ulli beiläufig, aber ich rümpfte nur etwas angepisst die Nase.
"Guck mal, was auf der Karre steht", platzte es dann aus mir heraus. "Rough Terrain Serious Offroad Solutions punkt de" (selbstverständlich nur sinngemäß und entsprechend verändert).
"Der hat bei der Namensgebung doch den gleichen Humor wie du bei deinen Erfindungen", versuchte mich Ulli zu beschwichtigen. "Oder meinst du etwa der meint das ernst" "Am Ende schon und außerdem finde ich das lächerlich", entgegnete ich.
"Ich habe so einen ähnlichen Typ schon mal getroffen, der lackierte sich zum Wichsen die Fingernägel rot und immer wenn er auf ein Geländewagen-Treffen ging, dann hat man ihn am Geruch nach Nagelackentferner erkannt".
"Jetzt hör aber auf", holte mich Ulli zurück. "Das ist wahrscheinlich ein ganz netter Typ, der einfach gerne mit seinem Auto im Gelände fährt wie du".
"Ich bin kein netter Typ, und warum schreiben die nicht ehrlicherweise Normalverdiener oder Weichei auf ihre Autos" fragte ich. "Warum machst Du das nicht?" fragte Ulli.
Ich versprach ihr das schnellstmöglich nachzuholen. "Weichei, Normalverdiener, Hinterradantrieb", Hand drauf.
Nach 9 Stunden Autobahn rangierte ich total geschafft bei unseren Freunden Lara und Micha den Ullimog auf den Hof. Wir machten wieder unseren traditionellen Aufenthalt in der Lüneburger Heide.
Solche Fahrten waren trotz langer Achse immer noch eine Tortur im Ullimog. Gegen Stau und Unterzucker half die geänderte Übersetzung auch nicht. Der gemütliche Abend auf der Terrasse am offenen Kamin brachte das aufkommende Urlaubsgefühl jedoch etwas zurück.




06.08.2017
Da ich am Vorabend meinen Alkoholkonsum mit eiserner Disziplin im Zaum hielt, ging es ausnahmsweise ohne Kater aus.
Wir wollten schließlich heute noch nach Billund in Dänemark, um am Folgetag das echte Legoland zu besuchen.
Vor Hamburg gerieten wir in eine relativ lange einspurige Baustelle. Wir hatten die ersten Meter gerade bewältigt, da vernahmen wir ein forderndes "Mama, ich muss Pipi" von hinten durch die Klappe. Ulli schaute mich fragend an.
"Das geht jetzt nicht, ich kann in der Baustelle nicht anhalten", ließ ich verlauten.
"Schafft die,  das Porta-Potti aus der Halterung zu ziehen?" wendete sich Ulli mir zu. "Nee, ich habe das verzurrt, die soll sich zusammenreißen", sagte ich.
"Mama ich muss ganz dringend Pipi, und es tut schon weh", kam es kurz darauf von hinten, immer noch ohne Baustellenende in Sicht.
"Des arm' Ding, aber ich kann es nicht ändern", entfuhr es mir.
"Fine, schnall dich ab und nimm einen Kochtopf aus dem Küchenregal", wies Ulli unsere Tochter plötzlich an. Meine Frau hatte sich umgedreht und den Kopf in die Durchreiche gesteckt. Sie hatte aber keine Möglichkeit, der Kleinen zur Hand zu gehen. Ob der Idee etwas belustigt und in der Gewissheit eine spannende Sache zu erleben, harrte ich aufmerksam den Dingen.
"Hose runter, setz Dich drauf und los geht's", befahl die Mama bestimmt. "OK" wimmerte es zart von der Hinterbank.
Kurz darauf vernahm ich das blecherne Klappern des Topfes und das unverkennbare Zischen, welches bei unserer Tochter immer nur 2 bis 3 Sekunden dauert.
"Mama, fertig", meldete Fine stolz. "Alles klar, jetzt gib mir den Topf nach vorne", sagte Ulli.
Sie kurbelte das Fenster runter, leerte des Gefäß geschickt im Fahrtwind und schaute mich wohl in der Erwartung einer Reaktion fordernd an.
Ich nickte anerkennend und sagte laut: "Prima gemacht, ihr beiden" "Kein Problem", kam es von hinten. Wir mussten alle lachen.
Befriedigt stellte ich fest, dass unser Navi als Fahrtrichtung schon seit Stunden das "N" für Norden meldete. Ich hielt die Reisegeschwindigkeit bei gut 90 km/h und schwamm ohne viele Überholmanöver gemütlich der Landesgrenze entgegen. Möglicherweise half dabei auch der Sonntag mit.
Alle Getriebetemperaturen verhielten sich normal und selbst unser Hauptgetriebe ließ sich an jedem warmen Tag kaum über 80°C prügeln. Meistens meldete der Getriebewächter Werte um 75°C. Das hintere Differential blieb bei 55°C und fiel bei jedem durchfahrenen Regenschauer auf 30°C zurück. Ich genoss den Westwind, das sonnige Rückseitenwetter und die nun deutlich kühlere und angenehmere Luft durch das heruntergelassene Seitenfenster. Während eines besonders heftigen Schauers bemerkte ich plötzlich Wasser innen an der Frontscheibe und auf dem Armaturenbrett. "Oh Mann, verdammt, die Hütte ist undicht", fing ich an zu jammern.
"Nee guck mal, das kommt senkrecht nach oben aus der Lüftung gesprudelt", lachte Ulli. Tatsächlich, der Regen kam dermaßen hart von der Seite, dass bei maximaler Gebläsestufe eine nicht unerhebliche Menge Wasser ins Innere befördert wurde.
Schließlich erreichten wir den Campinglatz des Legolandes. Er zeigte sich erstaunlich wenig gefüllt und sogar richtig grün und bewaldet. Wir waren da zunächst skeptisch und wollten zum Übernachten eigentlich noch ein Stück weiter fahren. "Ach, das geht schon hier und das spart uns' ne Menge Fahrerei", entschied ich. Ich bezahlte 400 Kr, wobei ich den Wechselkurs immer noch nicht kannte. Ich konnte mich aber an die 395 Kr erinnern, die wir vor 5 Jahren in Blommehavn bezahlten. Also fällt der Legolandfaktor hier überschaubar aus. Josefine war begeistert und setzte sogleich eine Tretautofahrt zur Erkundung des gesamten Geländes durch. Der Ullimog erregte auf dem Campingplatz einiges Aufsehen und wurde als zusätzliche Sehenswürdigkeit verstanden. Ständig blieben Leute stehen, zeigten auf unser Auto und machten Fotos mit ihren Smartphones. Derzeit werden doch in Deutschland 1000 Expeditionsmobile pro Jahr gebaut, und das dürfte sich doch langsam beschwichtigend auf die Exotik auswirken.
Ich fand Josefines Bogenschießübungen mit ihren Saugnapfpfeilen viel interessanter. Sie benutzte den Ullimogkoffer als Ziel und quiekte jedes Mal vor Verzückung, wenn sie einen Pfeil gut platzierte. Ulli und ich hatten ihr einen schönen Holzbogen mit Pfeilen gekauft. Josefine war ein großer "Merrida" Fan und eiferte diesem Disney-Charakter aktiv nach. Felix, ihr kleiner Bruder, krabbelte auf der Wiese und bewunderte seine große Schwester. Ich saß daneben im Klappstuhl und erfreute mich an der Szene mit einer Dose Weizen in der Hand. Als ich feststellte, wie sie immer wieder geschickt und bewusst ihren Bruder an den Saugnäpfen der Pfeile lutschen ließ, um deren Haftfähigkeit zu erhöhen, verschüttete ich vor Lachen mein Bier.




07.08.2017
Die Kinder schliefen gut und nahmen die neue Wohnmobil-Umgebung offensichtlich schnell auf. Wir frühstückten, duschten, checkten aus und fuhren auf den Parkplatz P6, um dort das Fahrzeug für den Tag abzustellen. Dieser Parkplatz ist für Busse vorgesehen, und wir waren eine Stunde vor Öffnung des Freizeitparks die einzigen Gäste.
"Falls die uns die Kiste aufbrechen, machen die einen guten Schnitt", meinte ich beim Abstellen auf dem etwas begrünten Schotterplatz. "Ein aktueller Laptop, eine aktuelle Videokamera, eine aktuelle Digitalkamera mit vielen Objektiven, zwei aktuelle Smartphones, von denen nur Ulli wusste, wie viel sie kosten, nicht wenig Bargeld, ein Navi, ein GPS und noch diverse andere Gegenstände. "Ach, du wolltest doch Abenteuer", lachte mich Ulli aus. Vielleicht sollte ich mir doch so etwas wie "Adventure, Expedition, Outlaw-Action oder Extreme Experience" auf das Auto schreiben. Zu dieser Situation würde es gut passen...
Der Tag im Legoland war bunt, schrill, laut, aufregend und vor allem für Josefine der Knaller. Ich fand die Miniaturwelten am interessantesten und genoss es, mit meiner inzwischen freizeitparktauglichen Tochter die anderen Attraktionen auszuprobieren. Ulli und ich wechselten uns ab und tauschten immer wieder die Aufsicht über das jeweilige Kind. So durfte Fine abwechselnd mit Mama oder Papa Achterbahn, Karussell, Wasserbahnen und was es sonst so gab, fahren. Unterm Strich war das Legoland ganz nett gemacht, aber um 15 Uhr wurde es so brechend voll, dass wir angesichts der einsetzenden allgemeinen Überreizung die Abreise beschlossen.
Wir fanden den Ullimog unversehrt vor. Tja, liebe Autoknacker, das wäre eure Chance gewesen...
"Hirtshals 265 km" meldete das Navi bei der Abfahrt. "Was noch so weit?" fragte ich. "Wir müssen eben noch zurück auf die 45", antwortete Ulli schulterzuckend.
Die Kinder schliefen, der Erschöpfung geschuldet, sofort ein, und wir freuten uns über eine entspannte Weiterfahrt, die sich "wie früher" anfühlte.
"Sollen wir nochmal tanken", fragte ich irgendwo im Norden Dänemarks. "Guck doch mal, ob der Sprit in Island oder in Dänemark billiger ist", forderte ich meine Beifahrerin auf.
"Das ist jetzt nicht dein Ernst, solche Worte von dir?" lachte mich meine Frau aus. Du schimpfst doch immer über die Spritpreisrechner. "Entweder wir sparen Geld oder wir sparen Nerven, beides geht nicht. Also machst du dir den Kopp oder nicht? Was darf es sein", entgegnete sie grinsend. "Kommt noch ne Tanke?" fragte ich beschämt. "Yepp, und der Diesel kostet in Dänemark weniger als in Island", versicherte sie. "Du kannst ruhig sparen, aber ob die Kohle gut investiert ist?". schmunzelte sie. Wir tankten noch in Hirtshals und durchfuhren gegen 19 Uhr das Tor von "Camping Hirtshals" oben am Leuchtturm, checkten ein und bezahlten unsere 250 Kr.
Das Regenwetter war just um die Minuten des Sonnenunterganges abgezogen, und so fieberte Ulli einem Fotoabendspaziergang am Strand entgegen. Wir freuten uns alle vier über die geglückte Ankunft am Meer, und ich tauchte, völlig standesgemäß, Felix' nackte Füßchen in das kalte salzige Wasser. "Jetzt ist auch der Felix getauft wie einst das Finchen", vermeldete ich. Finchen rannte quietschend in der Brandung hin und her und ließ mit ausgebreiteten Armen ihre Haare im Wind flattern. Mit der einsetzenden Dunkelheit schlenderten wir über den Campingplatz zum Unimog zurück und entdeckten, ganz anders als in den vorherigen Urlauben, einige Allradfahrzeuge. Außer einem Doka-Unimog mit Hubkabine und einem Bremach war es ein guter Mix aus Dachzelt-Landcruisern, Defendern und Hiluxen. Die Nacht war hereingebrochen, die Kinder waren schon lange im Bett, und über den Campingplatz wehten Gesprächsfetzen der  "Wagenburgen" herüber. Ulli und ich stellten ebenfalls unsere Klappstühle auf, legten die dicken Decken auf den Schoß und tranken zum Abschluss noch ein Ankunftsbier im Schein der Leuchtturmlampe. Schließlich kam Josefine aus der offenen Einstiegsluke mit Bettdecke unterm Arm und gesellte sich daumenlutschend zu uns. "Ich bin so aufgeregt", piepste sie.





08.08.2017
Aufbruchsstimmung bestimmte die Atmosphäre auf dem Campingplatz. Hier und da begannen die Ungeduldigsten an ihren Fahrzeugen herumzupacken. Wir verkochten unterdessen unsere letzten Eier zu einem riesigen Zwiebelomelett. Nun war Jeepfahrermikado angesagt. Wer sich zuerst bewegte, der hatte verloren. Verstohlen standen überall verteilt kleine Gruppen von Reisenden und steckten scheinbar unbeteiligt und tiefenentspannt die Hände in die Taschen. Aber das war alles nur schlecht kaschierte Fassade. Keiner wollte sich seine Euphorie anmerken lassen, doch sobald irgendwo hörbar ein Diesel gestartet wurde, zuckten alle zusammen und suchten angestrengt die Geräuschquelle. Ich fuhr das Periskop aus und checkte die Kimm. Ganz genau kannte ich die Richtung nicht, aus der die Norröna kommen musste. Ich erinnerte mich aber, dass sie 2012 überraschend weit westlich auftauchte. Einige der Wartenden verwendeten die "Schiffspositios-App" und schauten abwechselnd auf ihre Gadgets und auf das Meer hinaus. Gegen halb acht meinte ich ganz in der Ferne den Schornstein der Fähre über dem Horizont zu sehen. Ich stellte das Periskop auf maximale Vergrößerung und schaltete die gelben Filter. Leider konnte ich das Schiff noch nicht eindeutig identifizieren, weil es recht gerade auf uns zu lief. Trotzdem lief ich zu unseren Nachbarn hinüber und verkündete nassforsch: "Sie kommt, sie kommt, da hinten kommt die Norröna". Alle reckten angestrengt ihre Köpfe, konnten aber mit dem bloßen Auge noch nichts ausmachen. "Haste da ne Optik oben drauf?" wurde ich gefragt. "Ja, von einem Panzer, ich kenne sogar die Entfernung." Ich erntete unter der professionell geführten Reisegruppe Lachen und Kopfschütteln. "Dafür gibt es doch das hier", meinte einer und hielt mir das Display seines Smartphones hin.
Kurz darauf guckte ich erneut durch die Optik, und diesmal war die Identifizierung eindeutig positiv. Jetzt verlor ich die Nerven und damit das Mikadospiel, kletterte ins Fahrerhaus und startete. Geräuschvoll und deutlich lauter als alle anderen Autos fuhr ich an und bog auf die Ausfahrt ein. Ruckzuck folgten uns sämtliche übrigen Allradfahrzeuge und reihten sich ebenfalls am Terminal der Smyril Line ein. Wir erfuhren trotz reichlich vorhandenem Geländewagenaufkommen  wieder viel Aufmerksamkeit. Aus vielen Fahrzeugen heraus wurde auf uns mit dem Finger gedeutet. Besonders unsere winkenden Kinder hinten im Koffer sorgten immer für gute Stimmung.
Mich überkam wieder die Lästerei und ich zog ungestüm über die Fahrzeuge in der Schlange her. "Guck mal, wieder so einer mit ungebrauchten Sandblechen außen drauf." "Das ist wie wenn einer zum Joggen geht und sich Gummistiefel unter die Achseln klemmt, weil es ja regnen könnte." Am Lagerfeuer erzählt der vielleicht sogar, das wäre der Steinschlagschutz für seine Seitenscheiben. "Ein echtes Sandblech ist doch verratzt und verbogen und wird von einem zerfledderten Spanngurt am Dach fixiert", meckerte ich. "Ach lass denen doch den Spaß, und außerdem finde ich manche Aufbauten echt schön", meinte Ulli. "Mir gefallen die zwei selbstgebauten da drüben am besten", gab ich zu.



Den Riesenbrüller erzeugte jedoch der Warnhinweis an einem Jeep-Schnorchel, der plötzlich knapp unter meiner heruntergekurbelten Fensterscheibe vorbeifuhr. Da stand doch tatsächlich "Vorsicht Ansaugbereich" auf einem rot-gelben Schild mit Warndreieck und Ausrufezeichen.
"Ha ha, was für ein Käse, das ist ja wie bei einem Flugzeugtriebwerk, dass kein Bodenpersonal eingesaugt wird, Caution Jet Intake!" prustete es aus mir heraus.
"Bei laufendem Motor ist dann wohl auch noch die Kopfbedeckung abzulegen oder was", konnte ich mich nicht beherrschen.
"Jetzt krieg dich wieder ein, das ist vielleicht so vorgeschrieben", entgegnete Ulli. "Vielleicht können da die Haare eingezogen werden oder so".
Mir fiel da spontan die Schlagzeile "Islandreisende auf dem Parkplatz von Cherokee skalpiert" ein. Ja, bei einem 10000 KW Nachbrennertriebwerk kann ich mir das schon vorstellen. Das hat Luftdurchsatz, aber bei einem Auto ist das doch albern.
"Guck mal, der hat den Kontinent Afrika auf der Tür", rief unsere fünfjährige Tochter.
Verwundert drehte ich mich zu Ulli. "Woher weiß die denn ohne Erdkundeunterricht, was ein Kontinent ist und wie Afrika aussieht?"
"Das habe ich alles schon im Kindergarten gelernt", erklärte sie stolz.
"Darf der jetzt nur nach Afrika fahren?" fragte sie kurz darauf. "Und der da darf nur nach Island fahren", bestimmte sie und zeigte mit ihrem kleinen Fingerchen auf ein weiteres Fahrzeug mit der Silhouette der Insel auf der Tür. "Zumindest will der, dass alle wissen wo der hinfährt. Ich glaube, der führt auch eine Kolone an. Das gehört zum Geschäft", erklärte ich unserer Tochter.
"Jeder wie er mag, aber ich hätte keinen Bock, mich im Urlaub auch noch einem Terminplan zu unterwerfen. Ich fahr doch hier rauf, um gerade das hinter mir zu lassen", wendete ich mich an Ulli. "Ach, manchen macht das in der Gruppe eben mehr Spaß", sagte sie.
Das Boarding verlief prima, wobei wieder nur der Lenker des jeweiligen Autos auf das Fahrzeugdeck durfte. Die übrigen Passagiere mussten über die Fußgängergangway gehen. Zufällig traf ich genau mit Ulli und den beiden Kindern auf unserem Kabinen-Deck wieder zusammen. Ich bog schwer beladen um die Ecke, als sie das Schiff betraten. Unsere Kabine war wie erwartet, und mich überkam eine neue Welle an Erinnerungen. Bestens gelaunt richteten wir uns ein, stellten das Babyreisebett auf die untere Pritsche. So entstand mit der ebenfalls herunter geklappten oberen Pritsche ein effektives Gefängnis für unseren Knirps. Fine bestand auf dem oberen Bett und fand das ganze ungeheuer spannend. Auf dem Achterdeck lernten wir noch ein nettes junges Paar aus Leipzig kennen, die mit dem Motorrad unterwegs waren und unsere Art, mit Kindern zu reisen, aufmerksam beobachteten. "So tauschen sich die Rollen", flüsterte ich Ulli zu. "Vor ein paar Jahren haben wir uns auf die gleiche Art inspirieren lassen."
Wir legten ab, und ich fieberte der Restaurantreservierung entgegen, die ich unbedingt hinbekommen musste. Ulli hatte schließlich morgen Geburtstag und ich wollte sie angemessen zum Dinner einladen. Das Restaurant befindet sich auf der Backbordseite, und wenn man die Zeit richtig wählt, fährt da genau an besagtem Abend die herrliche grüne Kulisse der Färöer-Inseln vorbei. Ich erkundigte mich an der Rezeption über die geplante Liegezeit in Thorshavn.
"As short as possible", konnte ich erfahren. Schnell checkte ich die ETA (Estimated Time of Arrival) auf dem Informationsdisplay auf Deck 5. Die sollte bei 17 Uhr liegen. OK, Wendemanöver, Autos raus, Autos rein, Deckel zu, Ablegemanöver... 19 Uhr könnte gut sein.
"Can I make a table reservation for tomorrow?" fragte ich die Kellnerin, die an dem kleinen Pult die Tische vergab. "Tomorrow?", fragte sie ungläubig. "It's my wife's birthday and I do not want to miss this chance", entgegnete ich. "Ahh, of course sir", hellte sich ihr Blick in verständnisvoller Weise auf. "Can I have Table 14, please. We have had dinner there before and that would make a great anniversary", bat ich. "Absolutely, do you also want a birthday-cake?" fragte sie freundlich. "No thanks, we'd prefer a good wine instead", winkte ich dankend ab.
Zu viert genossen wir den sonnigen Nachmittag auf dem Oberdeck und ließen uns von der dröhnenden und sanft schaukelnden Norröna in Urlaubstrance wiegen.






09.08.2017
Tiefenentspannung, Langeweile und endlich Runterkommen bestimmte den Tag. Ich machte meine obligatorischen Saunagänge mit Josefine, während Ulli auf Felix aufpasste. Dann tauschten wir und Ulli machte mit Fine Fotos auf dem Oberdeck. Ich hatte in den letzten Monaten eine Menge Stress im Job und daher auch schon mit den unvermeidlichen gesundheitlichen Auswirkungen zu kämpfen. Ich litt unter juckenden Hautauschlägen und einer Sehnerventzündung. Einige Symptome plagten mich auch zu Beginn der Reise noch. "Du musst einfach nur runterkommen und dich mal locker machen", pflegte Ulli mich zu trösten. Tatsächlich war erst an jenem Tag auf der Fähre alles wieder wie früher. Ich kaufte mir ein dunkles Bier an der Bar, stellte mich an die Reling, schaute auf die Kimm und stellte mir vor, heute auch ein wenig Geburtstag zu haben.



Die Krönung erwartete uns am Abend. Wir liefen gegen 18:30 Uhr Schiffszeit aus und fanden uns pünktlich um 19 Uhr an unserem Tisch wieder. Der Oberkellner brachte einen Sekt, und die Fahne der Färöer-Inseln schmückte unseren Tisch. Als dann überaus pünktlich, in unmittelbarer Nähe, vor unserem Fenster, die beeindruckenden grünen Felsen vorbeifuhren, trafen sich zwei dünne Gläser mit einem feierlichen "Pling": "Boa, das ist mal eine Kulisse", entfuhr es Ulli. "Hast Du das eingefädelt oder ist das Zufall?" wollte sie wissen. "Kannst Du Dir so oder so wünschen, du hast Geburtstag", entgegnete ich. "Das ist ja echt toll, guck mal die kleinen Häuschen da drüben", freute sie sich. Fine war auch ganz aus dem Häuschen und erkannte sogar Schafe und kleine Wasserfälle.
Ich drehte mich um und sah, dass außer unserem Tisch nur zwei weitere besetzt waren. "Also der beste Platz auf dem Schiff ist echt hier, und an dem Tisch haben wir doch schon mal gesessen", sagte Ulli noch. "Ach?" entgegnete ich amüsiert. Wir genossen das ausgezeichnete Dinner und sahen genau mit dem letzten Schluck Wein das nördliche Kap der Inselgruppe vorbeifahren. Die Wellen wurden größer, und zur Sonne hin führte eine hell glitzernde Straße, die Ulli müde und zufrieden entlangblickte. "Das Schaukeln macht mich gerade ganz schläfrig", sagte sie. Ich brachte noch alle in die Kabine, worauf jeder schnell einschlief. Als sich nichts mehr rührte, konnte ich mir einen Bier-Absacker auf dem stürmischen Oberdeck nicht verkneifen. Der Seegang hatte enorm zugelegt und die Nacht verlief sehr schauklig. Öfter war auch das markante und durchdringende Donnern zu hören, wenn die Fähre eine besonders starke Stampfbewegung ausführte.




10.08.2017
Ankunftstag in Island. Da die Kabinen schon früh zu räumen sind, entfiel das Ausschlafen ersatzlos. Das ist immer etwas doof, da man an diesem Tag eine gewisse Menge Restmüdigkeit vor sich herschiebt. Unsere Tochter, die sich in den vergangenen Wochen über ihren ersten Wackelzahn freute, fing an, mit Zahnseide und erstaunlich viel Motivation an besagtem Objekt herumzuzupfen. "Der fällt bestimmt in Island aus", pflegten wir sie aufzumuntern. "Dann kommt die Zahnfee gerade recht, und außerdem ist das dann der Beweis, dass es in Island tatsächlich Feen gibt."
"Ladies and Gentlemen, we have just entered the Fjord of Seidisfjörður. Please prepare to leave your cabins soon", kam es über Lautsprecher.
"Hab ihn", rief plötzlich das Finchen und hielt stolz ihr kleines Milchzähnchen in der Hand. "Mensch, das ist ja super", klatschte Ulli in die Hände, und ich versuchte mich zu erinnern, ob ich wohl noch eine von den schön golden glänzenden 20-Kronen-Münzen im Geldbeutel hatte.
Wir nahmen die Taschen auf und wollten gerade die Türklinke drücken, als es draußen klopfte.
"Please leave your cabin.....ohh", forderte uns die Dame der Crew auf. Sie war überrascht, dass wir sogleich pünktlich losmarschierten. Deutsche Pünktlichkeit...
Das Geschehen war von herumstehenden ungeduldigen Passagieren geprägt, die endlich loslegen wollten und angesichts der Kabinenräumungen 1 Stunde vor dem Anlegen bepackt in den Gängen standen. Wir waren die letzten, die sich bis an die Kapazitätsgrenze beladen das enge Treppenhaus zum Fahrzeugdeck hinunterquälten. Nun standen wir aber vor einem Problem. Die Ladungsmeister hatten die Autos so dicht geschachtelt, dass wir unsere Heckklappe nicht öffnen konnten. Aus irgendeinem Grund hatte ich zudem den Durchgang verschlossen. Nun konnten wir weder die Kinder noch die vielen Taschen, das Kinderbett oder die Rucksäcke einladen. Die Autos weiter vorne begannen schon anzufahren und dröhnend füllte sich die große eiserne Halle mit Abgasen. Hupen, quietschende Reifen auf dem Stahlboden und rumpelnde Stahlplanken forderten uns nachdrücklich auf, endlich in die Puschen zu kommen. Mir kam eine Idee; Ich überlistete schnell das Schloss des Durchstiegs, welches von der Fahrerhausseite eigentlich nicht zu öffnen ist. Dann sollte Josefine durch die Klappe klettern und alle Gepäckstücke annehmen. Sie spielte mit und bewegte sich zackig und effektiv. "Siehst Du, wenn es drauf ankommt, ist auf das Finchen Verlass", sagte Ulli anerkennend. Sie schnappte sich Felix und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Just als der Bus vor uns losfuhr, startete ich den Ullimog und folgte der sich langsam in Bewegung setzenden Schlange. "Zum Glück war noch genug Druck auf dem Kessel", entfuhr es mir. Sämtliche Wohnmobile schafften die Kehrtwendung zur Ausfahrt im Schiffsbauch nicht in einem Zug. Der Ullimog hingegen packte das Manöver auf Anhieb und so rollten wir trotz der späten Ankunft scheppernd die eiserne Rampe hinunter ins Freie.
Vor uns kam der rote Feuerwehr-Unimog zum Stehen, den wir in Thorshavn schon in der Warteschlage gesehen hatten. Der Fahrer stieg aus, trat spontan an mein Fenster und reichte mir die Hand. "Hallo, ich bin Jochen. Ihr seid doch der Ullimog, ich habe Euren Reiseblog gelesen."  "Das freut mich aber, ich bin Thomas", entgegnete ich und schüttelte ihm die Hand. Er bestieg schnell wieder sein Fahrzeug, da es in der Warteschlange zum Zoll stetig weiterging.
Der Zöllner, ein großer schlanker und kräftiger Mann mit Bart, eben ein echter Wikinger, sprach uns freundlich an: "Anything to declare?" "No, Sir", antwortete ich.
"Do you carry gasoline or other fuels?" fragte er. "Yes sir, Diesel and camping gas", antwortete ich. "Just the Diesel in the Tank, no canisters?" fragte er. "Yes, Sir, just the Diesel in the tank and no extra canisters. And the camping-gas bottle, of course", antworte ich wahrheitsgemäß. "Have a nice stay in Iceland", winkte er uns weiter.
Wir parkten auf dem Schotterplatz hinter dem Zoll, um unsere Gepäckstücke zu sortieren und die Kinder reisefertig zu verstauen. Jochen parkte ebenfalls dort und wir lernten die ganze Familie kennen. Die waren ebenfalls mit einer Tochter im gleichen Alter unterwegs, und die Mädchen begrüßten sich, indem sie voller Stolz ihre Zahnlücken verglichen. Eine Minute später rannten sie kreischend und lachend um die Unimogs. Jochen war mir sofort sympathisch, und so hielten wir vor der Kulisse der sich fortwährend entleerenden Fähre noch ein schönes Schwätzchen. Ohne Zweifel sorgten die offensichtlichen gemeinen Interessen und die passenden Reisepläne für die gegenseitige Bereitschaft, sich doch auf der Insel zu dem einen oder anderen Trip zu treffen. Wir tauschten Mobiltelefonnummern, winkten uns zu und verabschiedeten uns mit einem ernst gemeinten: "Man sieht sich."
In Seidisfjörður herrschte Stau, und die schier endlose Schlange von Fahrzeugen quälte sich den Pass hinauf. "Ich biege jetzt ab und hole hier Geld und Karten", ließ ich Ulli wissen und stellte ab. Die Warteschlange am Geldautomat war überschaubar. "Welchen Knopf muss ich denn drücken? Wie viele Kronen gibt es denn für den Euro?", fragte ich in die Runde. Ganz positiv überrascht stellte ich fest, dass es niemand so genau wusste. "Ich glaube, so ungefähr 120 Kronen gibt es für den Euro", meldete sich ein Herr zu Wort. Damit war auch das geklärt, und so nahmen auch wir den Pass in Angriff. Wird mein Elektrolüfter das mitmachen bzw. ausreichen, den Ullimog da über den Buckel zu schieben? Die Kühlleistung reichte aus, wenngleich der Ventilator nach wenigen Kilometern schon ansprang und die Angelegenheit nicht unter 95° Temperatur vonstatten ging. Wieder unten im Tal angekommen, bogen wir im Gegensatz zu den ganzen übrigen Autos von der Fähre rechts ab, Richtung Bakkergerði. Ganz alleine rollten wir die Straße mit 65 km/h entlang und mich erwischte wieder die totale Erinnerung. Das entspannte Brummeln des OM352 bei 1600 U/min, der leichte Dieselgeruch, der ölige Hauch der Heizung und das sanfte Wippen der schlechten, nicht asphaltierten Straße. "Das ist Island, das ist Unimog, und das habe ich mir gewünscht" musste ich einfach loswerden. "Na dann", lächelte Ulli.
Bei der Fahrt über den Pass trafen wir während einer Fotopause  auf eine Gruppe von fünf Geländewagen, die von einer deutschen Frau professionell angeführt wurde. Die Dame entsprach so sehr meiner Vorstellung, was Ihren Berufsstand anging, dass ich keine Probleme hatte, sie sofort unter ihren Kunden heraus zu deuten. Gespielt beiläufig erkundigten wir uns gegenseitig über die weiteren Reisepläne, wohl auch um einander aus dem Weg zu gehen. Sie versuchte, mir die geplante Strecke 946 angesichts des schlechten Wetters auszureden. "Wenn man nichts sieht, dann bringt das auch nichts." Auch verschwieg sie geschickt, dass am Ende der Strecke durchaus die Möglichkeit einer legalen Übernachtung bestand.
Mit den folgenden Worten bestieg ich den Unimog: "Also Ulli, die wollen dahin, wo wir auch hin wollen. Die sind aber in der Gruppe nicht so flexibel wie wir, und viel Zeit haben die auch nicht. Komm, wir machen in Bakkergerði Mittagsschlaf, dann einen kleinen Spaziergang und fahren erst morgen früh da hinter. Die Gruppe ist nur drei Wochen hier, war fünf Jahre nicht da, die Kunden haben bezahlt und müssen daher sicher schnell wieder weiter. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es eine Art Terminplan gibt", erklärte ich.



Wenig später kam Jochen mit seinem Feuerwehr Unimog auf den Platz gefahren, und sogleich tollten unsere Mädchen wieder lachend um unsere Fahrzeuge. Die Mädchen sahen aber auch wirklich niedlich aus mit Ihren G-1000 Hosen und den knallbunten Gore-Tex Klamotten. Als Fine zum Bilder ausmalen bei Ihrer neuen Freundin im Feuerweh-Mog verschwand, stellte ich Jochen die Frage: "Pils oder Weizen?". "Och, Du ich bin mehr für Pils", antwortete er, auch wenn das keine Rolle spielte.
Wir plauderten noch lange über Karten und vereinbarten eine gemeinsame Hochlandtour. Vor dem Einschlafen erinnerte mich Ulli noch: "Vergiss nicht, dass heute die Zahn Fee kommt". "Genau, dann darfst Du die Unimogtür nämlich nicht abschließen", tönte es einen Stock tiefer. Ich betrachtete zufrieden das golden glänzende dänische 20 Kronen-Stück in meinen Händen.




11.08.2017
Wie abgemacht, kamen wir früh in  die Gänge. Unser Zwerg, der bereits um 6 Uhr Schiffszeit "wach" meldete, hatte daran auch einen nicht unerheblichen Anteil.
Kurz darauf befanden wir uns auf der Piste, die sich in Serpentinen über die Pässe der Fjörde schlängelte. Die Sicht wurde gut, wenngleich es ab und zu noch leicht regnete. Ich wollte mich wieder an das Pistenrumpeln gewöhnen und war überrascht, wie weit man bisweilen runterschalten muss. Tja, die lange Achse hat nicht nur Vorteile, und unter 30 km/h, wo der Unimog eigentlich hingehört, ist sie nicht immer ein Gewinn. In dem Gelände war aufgrund der engen Kehren ohnehin Teillast angesagt, und da mag ich den Unimog sowieso am liebsten. So mit halber Leistung und 1500 U/min die Hänge rauf und runter fühlte sich der Unimog spürbar in seinem Element. Gar nicht aufdringlich und ohne Mühe nahm er alle Steigungen. Der Hubraum sorgte effektiv für eine angenehme Dynamik, denn die langsamen Passagen gingen ohne Schalten, und bei kurzen steilen Stücken punktete er mit Reserven. Ich wünsche jedem Unimog-Fahrer diese Erfahrung, bevor er die lange Achse oder das Splitgetriebe oder eine Turbonachrüstung und diverse weiter im Internet gelobte Goddies für die Autobahn nachrüstet. Ich versichere Euch, wenn der Unimog da fährt, wo er hingehört, dann ist der Originalzustand eine wahre Freude.
Die Gegend sah herrlich aus und Ulli klatschte, wie in solchen Situation üblich, begeistert in die Hände. Die Kinder hielten sich friedlich und genossen das Geschaukel auf Ihre Art. Wir hatten beide den Eindruck, die Bewegungen des Fahrzeug stressten sie gar nicht. "So ist das eben, Kinder kosten zwar Nerven, haben aber selber ein sehr dickes Fell", erklärte mir Ulli die Entspanntheit des Nachwuchses.
Auf der ersten Anhöhe tauchten aus dem Nebel plötzlich jede Menge Wanderer auf, die sich farbenfroh, auf Ihre Stöcke stützend, im Gänsemarsch den Pass hinaufschleppten.
"Ach du liebe Zeit, das sind ja mindestens 50", meinte Ulli. Als sich die Leute, kurz innehaltend, zu uns umdrehten und einen Schritt zurück zum Straßenrand machten, entfuhr es mir:
"Du meinst wohl, die sind mindestens 50", entgegnete ich. "Mensch, die schauen aber böse." Ulli winkte freundlich und auch Josefine wurde angewiesen, lächelnd das Händchen zu heben. Immerhin freuten sich einige über die Kinder hinter der Scheibe. Vielleicht minderte auch Fines frische Grinse-Zahnlücke die uns entgegengeschleuderte negative Energiewelle ein wenig. Letztendlich störte aber der qualmende, brummende alte Stahlbrocken das Naturerlebnis der Rentner doch recht vollständig. Wie oft jetzt wohl das Wort "Weichei, Dekadent, Faulpelz oder Drückeberger" ausgesprochen wurde?
Selbstverständlich begegneten uns auch die fünf Allradler mit ihren Wohnaufbauten. Sie befanden sich erwartungsgemäß auf dem Rückweg und grüßten freundlich. Der letzte in der Schlange gab mir ein eindeutiges Zeichen, da ich zum Ausweichen etwas an die Seite gefahren war und das Passieren des Konvois abwartete. "Na was habe ich gesagt, die sind jetzt wieder weg?" wendete ich mich an Ulli. "Prima, dann ist hinten im Fjord schon mal weniger los", meinte sie.
Die Piste wurde steinig, aber wir fuhren langsam und genossen die spektakuläre Aussicht auf den Fjord. "Du, ein Tal weiter ist schon Seydisfjörður", behauptete ich.
Wir parkten an der kleinen Wanderhütte im Loðmundarfjord und stellten ab. Ein isländisches Paar, ganz offensichtlich die Hüttenwirte, winkte uns freundlich, und ihr Hund rannte mir zur Begrüßung schwanzwedelnd entgegen. "Can we stay here for our lunchbreak?" fragte ich die beiden. "Of-course, you may also spend the night out here. It is a very peacefull area with many beautifull waterfalls", entgegnete die Frau. "Please do not forget to leave some money", sagte sie noch im Einsteigen und fuhr davon. Die Einsamkeit umgab uns und wir waren die einzigen Personen in dem ganzen weiten Tal. "Jetzt machen wir Mittagessen und dann einen langen Spaziergang zu der alten Kirche und zu den Ruinen der verlassenen Farmen", schlug Ulli begeistert vor. "Hier gefällt es mir." "Und dann nehmen wir auch die Bonbons für die Elfen mit", ergänzte Josefine. Felix stand auf dem Bett, guckte aus seinem Fenster und kommentierte alles mit ausgestrecktem Zeigefinger und mehreren begeisterten: "Da, Da". Die Umgebung war aber auch allerliebst und verströmte einen ganz eigenen Charme. Die alte, kleine, verlassene, aber noch gepflegte Kirche verkörperte angemessen das verlassene Tal, welches einst bevölkert war.





Ich stellte mir vor, wie einsam, still und vermutlich auch ein wenig traurig das einfache Landleben hier draußen gewesen sein musste. Ich dachte an den Pfarrer, der in seiner schlichten, im Wind pfeifenden Holzkirche jeden Sonntag vor denselben Nasen die Messe lesen musste. Ich dachte an die Farmer, die hier, stets am Existenzminimum schuftend, versuchten, dem Boden ein Leben für ihre Familien abzutrotzen. Hier befand sich mehr oder weniger der "Arsch der Welt", und irgendwie galt das nach wie vor. Aber friedlich und wunderschön war es eben auch, und das machte die Stimmung aus.
Ulli übernahm den Fahrersitz auf dem Rückweg, um den Unimog auch wieder kennenzulernen. Auf dem Pass begegneten wir einem Polizeiauto, das am Straßenrand parkte. Das Fahrzeug stand beinahe vollständig neben der Straße, und das machte mich neugierig. Wir hatten so wenig Chancen, ohne mit mindestens 2 Rädern die Piste zu verlassen, an dem Hindernis vorbeizukommen. "Jetzt stellt sich heraus, wie ernst die das mit dem offroad-Getue wirklich meinen", nickte ich Ulli zu. "Ach, ich fahre da jetzt einfach vorbei, die interessiert das nicht", sagte sie. Ich grüßte freundlich, zog meine Mütze und wir rollten, mit 2 Rädern die Piste verlassend, an dem weißen Geländewagen vorbei. Die Beamten nickten uns zu, lächelten dienstlich und reagierten nicht weiter. "Siehst Du, anders wären wir da sowieso nicht vorbeigekommen", freute sich Ulli. "Wenn die uns jetzt böse wollten, dann hätte es uns vermutlich nichts genützt, dass die selbst auch neben der Straße standen", antwortete ich. Wir erreichten Bakkagerði am späten Nachmittag. Ohne Aufenthalt fuhren wir im dichten Nebel bei leichtem Regen weiter zu unserem nächsten Ziel.




12.08.2017
Den Hof Stóra-Sandfell kannten wir noch von unserer Islandreise 2010. Ulli und ich erinnerten uns gut an den schönen Tagesritt, und Ulli erzählte auch jahrelang davon, hier wieder reiten gehen zu wollen. Ulli schwärmte von der Führung des Pferdeanwesens und beschloss, so oft wie möglich wiederzukommen. Leider schafften wir das 2012 nicht, und so lag das Gehöft ganz oben auf der Liste unserer Wunschziele. "Hier würde ich so gerne auch mit der Fine mal ausreiten, und denen traue ich das auch zu", hörte ich sie nun mehrere Jahre träumen. Die Chefin des Hofes, die nebenbei als Kindergärtnerin in Egilstaðir arbeitete, hatte meine Frau wohl nachhaltig beeindruckt. Tatsächlich erinnerte sich die Dame, die inzwischen als Seniorchefin das Pferdegeschäft an die Tochter weitergegeben hatte, an uns. Sie hatte mich damals angewiesen, die Gerte auf dem Ausritt nur mitzuführen, eine Anwendung sollte jedoch nicht nötig sein, um den Gaul gefügig zu machen. Daran und an mich konnte sie sich, sehr zu meinem Erstaunen, bestens erinnern. "I remember I was surprised when you jumped across the river", sagte sie. "You also made the horse töldt very fast" fügte sie hinzu. Als ich dann noch den Namen des Pferdes nennen konnte, auf dem ich damals, vor immerhin 7 Jahren, ausritt, war die Situation von gegenseitiger freudiger Erinnerung und Sympathie geprägt. Wir freuten uns einfach alle, uns unter diesen Umständen nach so langer Zeit wieder zu treffen. Danach war es auch völlig klar, dass sie die Tour mit uns als Kunden natürlich persönlich übernehmen würde. Das erforderte allerdings noch einige Vorbereitungen und so verabredeten wir uns für den Nachmittag. Das passte prima, denn irgend etwas stimmte nicht mit der Kühlmitteltemperatur des Unimog. Nach einiger Zeit ging die einfach hoch und blieb bei 100°C stehen, obwohl der Elektrolüfter, der bei 95°C einschalten sollte, nicht anlief. Dazu rutschte bei starken Lenkbewegungen der Keilriemen der Hydraulikpumpe durch. Das lag vielleicht an dem reduzierten Luftdruck, mit dem wir seit einigen Tagen durch die Gegend rollten. Im strahlenden Sonnenschein fuhren wir auf die Wiese, und ich überbrückte die Wartezeit mit einer Schraubaktion.



Josefine konnte die Tatsache, dass nun beste Aussicht auf einen Abenteuerausritt bestand, auf dem sie völlig selbstständig reiten würde, gar nicht fassen. "Let's see, how she behaves among the horses", schlug unsere inzwischen gänzlich weißhaarige Gastgeberin vor. Ulli hatte ihr zuvor ausführlich erklärt, wie sie unsere Tochter auf dieses lange herbeigesehnte Ereignis vorbereitet hatte. Fine saß schon viele Male auf dem Rücken unseres eigenen Pferdes zuhause und zeigte bei Tieren allgemein eine gewisse Begabung. Sie verfügt einfach über ein für ihr Alter erstaunliches Einfühlungsvermögen.
Die Chefin bestimmte, welches Pferd unsere Kleine erhalten würde und zeigte ihr in der Herde die zarte "Regina". Daraufhin kletterte Josefine, man stelle sich vor, mit fünf Jahren, auf die Koppel und schritt ganz gelassen und ohne Furcht unter die vielen wartenden Pferde. Alle 30 Tiere beschnupperten den Eindringling neugierig, verhielten sich jedoch ruhig, wie auch unser Finchen das tat. Dann strich das kleine Mädchen Regina zart über die Nase und führte das Pferd ganz ohne Halfter, Trense oder Strick, die Nase zwischen beiden Händchen haltend, aus der Herde heraus. Wir waren alle beeindruckt, und besonders unsere isländische Pferdfarmerin nickte anerkennend. "She really has a good feeling for horses", kommentierte sie Fines Vorführung. Mir standen beinahe die Tränen in den Augen vor Stolz. Das Pferd erhielt Trense und Zügel, Fine wurde ohne Sattel aufgesetzt und bekam die Anweisung, sich in aller Ruhe an das Tier zu gewöhnen. Nach kurzer Zeit war sie in der Lage, Regina im Ansatz zu bewegen, und das überzeugte unsere Chefin letztendlich, Josefine ohne Strick und ganz selbstständig auf den bevorstehende Ausritt mitzunehmen. Ich würde mit Felix zurückbleiben und auf die Mädchen warten.
Inzwischen waren Jochen, Nevin und Selli eingetroffen und parkten ihren roten Feuerwehr-Unimog neben uns. Während Ulli und Josefine ihren Ausritt machten, unterhielten wir uns, auf Klappstühlen in der Sonne sitzend, über Reisen, Island und die kommenden gemeinsamen Ziele. Wie erwartet, verplapperten wir uns gehörig, was am Ende dazu führte, dass ich in aller Eile meine Kamera schnappte und rüber zur Koppel rannte, um das Eintreffen der Reitergruppe zu filmen. Leider verpasste ich den für den Film so wichtigen Moment.
Ulli und Fine waren hin und weg. Ich freute mich für die beiden, den diesem Ausritt hatten sie mehrere Jahre lang entgegengefiebert. Es hatte einfach optimal hingehauen. Josefine musste auch etwas weinen, als sie sich von ihrem Pferd verabschiedete. Ulli grinste breit und bedankte sich mehrfach. "It was just perfect", sagte sie zu unserer Gastgeberin, die ebenfalls in bester Laune war. Wir trafen uns mit Jochen und Nervin bei den Unimogs und brachen gemeinsam auf. Unser nächstes Ziel sollte der Snaefell sein. Die kleine Kolonne, bestehend aus dem roten Feuerwehr-Unimog "Siggi" und unserem lichtgrauen Ullimog "Pauli" setzte sich in Bewegung. Da unser Ullimog nicht so einen coolen Namen hatte wie "Siggi", hatte sich Fine kurzerhand für "Pauli" entschieden. "Daran wirst Du Dich wohl gewöhnen müssen", unterstützte Ulli ihre Tochter. Auf der bestens ausgebauten "Staudammstraße" fuhren wir über eine herrliche Ebene unserem Vulkanberg entgegen, der schneeweiß in der Ferne erstrahlte.





13.08.2017
Wie angekündigt präsentierte sich das Wetter von der besten Seite. Wir waren mit unseren beiden Unimogs die einzigen motorisierten Gäste auf dem kleinen improvisierten Campingparkplatz. Der Boden war vom Raureif gefroren, als die ersten Sonnenstrahlen das kalte Blech unseres Wohnkoffers streiften. In solchen Situationen überkommt mich immer die Outdoor-Euphorie, was das Aufstehen richtig einfach macht. In der kalten, stillen Morgenluft unternahm ich sogleich einen Spaziergang um die Fahrzeuge in die gewaltige schwarze und von lächerlichem Grün gesprenkelte Gegend hinein. Kein Lüftchen regte sich, kein Vogelgesang war zu hören, und selbst das Rauschen des nahen Baches blieb wegen des Eises verstummt. Solche Stimmungen genieße ich, und ich gönnte meiner Familie das Ausschlafen. Jochen ging es vermutlich genauso, denn aus der Entfernung sah ich ihn ebenfalls zufrieden durchatmend neben den Unimogs stehen. Er winkte mir und lief auf mich zu. Wir unterhielten uns über den schönen Sonnenaufgang und schwärmten von dem Kaiserwetter. Selli erwachte als zweite, kam zu uns herübergelaufen und fragte ganz aufgeregt, ob Josefine zum Spielen herauskommen würde. Sie konnte es gar nicht abwarten, mit ihrer neuen Freundin ins Abenteuer zu starten. Die zwei Komplementärmädchen, so nannten wir unsere Kleinen wegen ihrer knallbunten Anoraks, tollten wenig später lachend und quietschend in der Nähe und in der Ferne herum. Ja, auch in der Ferne, denn manchmal waren die beiden nur als Punkte am Horizont auszumachen. Nach einer Weile kehrten sie aber immer wieder zurück, waren stets tief beschäftigt und komplett eingetaucht. Sie gaben sich Namen, erfanden Elfengeschichten und existierten nur noch in der sie umgebenden imaginären Phantasiewelt. Wir Erwachsenen wirkten sogar wie Störenfriede, die zu den Essenszeiten geduldet und nicht mehr ganz so vehement ignoriert wurden. "Die kannst Du hier echt laufen lassen", sagte ich zu Jochen, der, wie ich, die beiden entfernten Mädchen am Horizont beobachtete. "Echt wahr, aber das ist gut für die. Kein Verkehr, kein gefährlicher Fluss, kein Abgrund, da kann eigentlich gar nichts passieren" antwortete er. "Die genießen hier eine Freiheit, die sie daheim so nicht haben", waren wir uns einig. Wir Erwachsene konnten dabei entspannen, weil wir die beiden stets im Auge hatten.



So schlenderten wir nach dem Frühstück gemütlich zur Hütte hinüber und fragten beim Warden nach den aktuellen Bedingungen am Berg. Als uns der junge Mann im Vorraum des kleinen Hauses die Details des Aufstiegs erläuterte und genau beschrieb, wo Schnee und Eis begannen, da gesellten sich plötzlich zwei junge Österreicherinnen hinzu, die zu einer kleinen professionell geführten Bergsteigergruppe gehörten. Offenbar würden wir Gesellschaft bekommen. Mit dem Snæfell hatte ich ja noch eine Rechnung offen. All die Jahre hoffte ich innig, Ulli würde mitkommen können. Leider war sie dazu noch nicht in der Lage, und für zwei Fünfjährige erschien mir die Tour dann doch zu knackig. "Alle gehen wir nicht da hoch", ließ ich Jochen wissen, und ich versuchte dabei meine Enttäuschung etwas zu verbergen. "Wir auch nicht", beschloss er. Dies galt es jetzt den Frauen zu erklären, die sich gerade in einem der Unimogs trafen. Ulli ahnte, was in mir vorging, dass ich mich jahrelang auf das Ereignis gefreut hatte und nun wohl wieder mal in Reichweite des Ziels kapitulieren musste. "Ich trage den Lix und Du kümmerst Dich um die Fine", schlug sie vor. Dann drehen wir um oder warten auf Dich, während Du auf den Gipfel kannst. Die Freude über diesen Ansatz ließ ich mir noch nicht anmerken. Jochen würde dann aber zurückbleiben und gegebenenfalls sogar mit den Mädels umdrehen müssen. "Geht das für Dich klar?" fragte ich. "Wir können auch wieder alle zusammen zurück, und anschließend machen wir beide heute Nachmittag einen Versuch, wenn alle schlafen. Ich habe zwei Paar Steigeisen dabei", bot ich Jochen an. "Nee, lass mal, besten Dank. Ich will da sowieso nicht rauf", versicherte er mir. Damit bestand wirklich eine reelle Gipfel-Chance. Es kam mir jedoch einigermaßen egoistisch vor und gespalten kaute ich auf meiner Lippe herum. "Mach schon, sonst gibst Du ja eh keine Ruhe", durchschaute mich Ulli. Ich beschloss jedoch, trotzdem zunächst mit der Gruppe wieder umzudrehen, um gemeinsam zurückzulaufen. Meine Besteigung kann schließlich auch noch einen Tag warten oder ich mache das eben heute Nachmittag, tröstete ich mich.



Die kalte Morgenatmosphäre hielt noch an, als unsere knallbunte Truppe das kurze Stück Piste bis zum Anfang des markierten Pfades entlangwanderte. Die Mädchen knackten mit ihren Wanderstöcken die Eispfützen, und wir vier Erwachsenen genossen den Beginn des ersten richtigen Bewegungstages. Jochen und ich erzählten über dies und das, die Frauen hatten ebenfalls ein intensives Gespräch, und die beiden bunten Mädchen waren ohnehin nie zu bremsen. Felix gluckste unterdessen freudig herum. Die Stimmung befand sich auf dem Höhepunkt, und jeder von uns sog diesen spektakulären Auftakt in sich auf. Als wir in den Pfad nach der Biegung einstiegen, erklärten wir den Kindern das "Stickelsuchspiel". Das funktionierte so: Jenes Kind, welches von der jetzigen Position aus die jeweils nächste Markierung zuerst sah, erhielt einen Punkt. Fünf Punkte bedeutete, der betreffende Führende erhielt auch fünf Gummibärchen. Nun schritten zwei hochmotivierte Vorschülerinnen mit Elan voran. Schließlich schlossen die Österreicher zu uns auf, überholten uns bedeckt grüßend und stapften wortlos stramm an uns vorüber. Ich musterte die Gruppe, die neben einem älteren Paar, aus ergrauten Herren und jungen Damen bestand. Meine Vorurteile waren gerade im Begriff, die Oberhand zu gewinnen, da entschied ich mich kurzentschlossen für eine zünftige Vater-Tochter Aktion. Ich sollte Recht behalten.



Der Pfad kreuzte einen kleinen Einschnitt mit Bach, der nur über ein Altschneefeld wieder verlassen werden konnte. Wir bildeten eine Kette und wie gewohnt musste ich Ulli die Hand geben. Inzwischen trug ich den kleinen Felix, um sie zu entlasten. Selli und Fine stellten sich geschickt an und brauchten neben einigen beschwichtigenden Worten keine Hilfe. Nun gewannen wir aber Höhenmeter. Die Freude auf einen immer schöner werdenden Ausblick trieb uns den Hang hoch. Ulli spürte ihre Hüften, die sie noch an die Geburt unseres Sohnes erinnerten. "Mist, das dauert einfach zwei Jahre, bis Du Dich nach einer Geburt wieder gescheit bewegen kannst", jammerte sie. "Viel weiter gehe ich nicht", kündigte sie die bevorstehende Wende an. Wir stiegen alle noch auf eine kleine Anhöhe, die eine fantastische Aussicht auf den Gletscher und das bergige Umland mit seinen vielen Flussarmen bot. "Das reicht mir", beschloss Ulli und setzte sich hin. Ich öffnete meinen Rucksack und verteilte Gummibärchen, ließ die Trinkflaschen herumgehen und bot Äpfel an.
"Das Wetter ist gut, meint ihr, ich könnte von hier aus weiter?" fragte ich in die Runde. "Wenn Jochen mir über den Bach die Hand gibt, packe ich das", versicherte Ulli. "Das ist gebongt, ich drehe hier auch um", antwortete er. "Ist das wirklich ok, wenn ich jetzt einfach weiter steige?" versuchte ich es erneut. "Kein Problem, mach ruhig", bestätigte mir auch Nevin ihr Einverständnis mit meinen Plänen. Josefine und Selli bekamen von all dem nichts mit und fragten, wann sie wieder an dem kleinen Fluss bei den Unimogs spielen könnten.
Irgend etwas passierte nun mit mir. Ich packte wie in Trance den heißen Tee und die Müsliriegel in den Rucksack, checkte kurz Handschuhe, Mütze, Sonnenbrille, GPS, Steigeisen, Eispickel, Mobiltelefon und die Unterjacke aus Filz. Dann verabschiedete ich Ulli mit einer kurzen Umarmung und einer voraussichtlichen Ankunftszeit am Unimog.
In meinem eigenen Tempo begann ich nun, dem Berg zu Leibe zu rücken. Mit den Informationen, die ich hatte, würde es noch rund 2 Stunden bis zum Gipfel dauern. Die Bewölkung zeigte viele sonnige Lücken, es könnte also klappen, wenngleich die Wettervorhersage für den Nachmittag etwas schlechter ausfiel. Der erste Schweißtropfen rollte von meiner Stirn, mein Herz klopfte, und ich fühlte, wie mein Körper begann, in der grandiosen Umgebung in den Leistungsmodus überzugehen. Damit befand ich mich mitten in dem Spiel, welches ich auch jeden Sonntag auf meiner 28-km-Laufrunde gegen den Frankenstein im Odenwald spiele. Ich wiege mein physisches Potential gegen den Berg bzw. gegen die Strecke auf. Da ist dann auch irgendwann Schluss, aber meine Erfahrung und mein Einschätzungsvermögen ließen mich in freudiger Erwartung voranfliegen. Ich war nun völlig alleine, scannte konzentriert die weitere Route und beurteilte immer wieder die Schneesituation. Es war so vollkommen still, dass ich die Österreicher, denen ich offenbar auf den Fersen war, lange hörte, bevor ich sie in einiger Entfernung entdeckte. Die Ösis marschierten noch einigermaßen geschlossen, gingen sehr gleichmäßig und machten einen recht bergerfahrenen Eindruck. Als sie mich näherkommen sahen, reagierten sie überrascht, was mir die Wortfetzen verrieten, die der Wind zu mir heruntertrug. Im Bereich der letzten Markierung überholte ich unsere Nachbarn, winkte kurz und nutzte den hart gefrorenen Schnee, um schnell noch etwas Abstand zu gewinnen. Die beiden schlanken, jungen Mädels aus der Gruppe stiegen dicht hintereinander, sahen mich und stiegen mir nach. Es folgte ein steiles Stück, bei dem sich loses Material und hart gefrorener Altschnee abwechselten. In kleinsten Serpentinen führte der Pfad auf den ersten Grat. Hier war ich damals noch mit Ulli, und ich konnte mich sogar an einzelne Passagen erinnern. Die jungen Alpinistinnen fanden es offenbar gar nicht so prickelnd, sich von einem durch eindeutiges Vokabular identifizierten Flachland-Preußen am Berg vorführen zu lassen. Schweigend und keuchend folgten mir beide dichtauf. Ich hielt jedoch meinen Schritt und beschloss, in gar keinem Fall meine Geschwindigkeit zu verändern. Hier lag meine Dauerleistung an, dies halte ich, wenn nötig, noch 2 Stunden durch, entweder ihr geht mit oder eben nicht, beschloss ich. Nach weiteren 200 Metern ließen sie ab und verloren nun immer mehr an Boden. Ich fand den Gedanken vom "Bergrennen" nun eher lächerlich und redete mir ein, meine Tempowahl unabhängig getroffen zu haben. Ja, Entspannung ist das nun mal nicht. Ich wollte jeden Höhenmeter am Ende des Tages mit jeder kleinsten Faser meines Körpers spüren. Ich wollte meinen Blutzucker abkacken merken, ich wollte hier Schweiß und Blut lassen, und ich wollte erschöpft ankommen, nicht etwa erholt oder gar relaxt oder dergleichen.
Immer dem Grat folgend, stellte ich fest, dass die im GPS angezeigte vorgeschlagene Route irgendwie nicht stimmen konnte. Ich verwendete, wie immer, die geniale Karte von Ourfootprints. Hier führte die gestrichelte rote Linie, die den Weg markierte, zu weit westlich den Hang hoch. Ich erinnerte mich, damals mit Ulli das große Schneefeld praktisch in der Falllinie durchstiegen zu haben. Oben auf dem quer verlaufenden nächsten Grat konnten wir 2010 den Gipfel sehen. Genau da musste die Route verlaufen. Daher querte ich kurzerhand besagtes Schneefeld am oberen Ende nach Osten und stand wenig später genau an der Stelle, an der ich mit meiner Frau seinerzeit umdrehte. Meine Steigeisen hatte ich nicht angelegt, da der Schnee so schön griffig war. Außerdem ist das Gehen mit den Dingern sehr anstrengend, da man immer die Füße so weit heben muss. Ich verwende diese Hilfen eigentlich nur, wenn es richtig eisig wird. Zur Sicherheit gegen das Abrutschen am Hang bevorzuge ich den Eispickel. Diesen band ich mir mit der Schlaufe fest um das Handgelenk und übte mehrfach die typische Bewegung. Dabei lässt man sich mit dem Oberkörper quer auf das Kletterwerkzeug fallen und rammt die Spitze in den Boden. Dabei sind Steigeisen eher hinderlich, denn wer jetzt versucht, die Füße in den Boden zu rammen, der wird sich nur ungünstig herumdrehen. Es klappte wie früher. Sofort stoppte mich der Eispickel an dem doch recht steilen Hang. Das funktioniert wie bei einen Gitarrengriff, der morgens einfach ein paarmal wiederholt werden muss, um dann den Rest des Tages zu sitzen.
Der weitere Aufstieg war offensichtlich. Es konnte praktisch nur den nun tief verschneiten Grat entlang gehen, um dann knapp unter dem Gipfel wieder abzubiegen. Hier war jedoch die Gipfelpyramide, bestehend aus einem spitzen dreieckigen Siebdruckplatten-Konstrukt, bereits auszumachen. Hochzufrieden über diefen Fieg rammte ich die Haue in die Eis-Fahne der Markierung, stemmte keuchend die Arme in die Seiten und brüllte eine lautes "Yeah".



Der Schnee lag hoch hier oben, und wenn man nicht aufpasste, versank man bis zum Bauch. Der 360°-Ausblick war sagenhaft, und tatsächlich lagen die Wolken nicht auf, wenngleich auch nicht viel fehlte. Mitunter wurde es unter der nahen Bedeckung auch richtig dunkel. Die Österreicher ließen lange auf sich warten und trafen erst nach einer Dreiviertelstunde am Gipfel ein. "Berg Heil", sagte der Vorsteigende und hielt mir die ausgestreckte Hand entgegen. Diesen Brauch kannte ich aus den Alpen. In Deutschland heißt das "Sieg Heil", wollte ich dem Mann schon entgegenschleudern, da erinnerte ich mich daran, dass ich dafür irgendwie die Gesinnung nicht aufbringe. Noch nicht einmal hier oben nach einem solchen "ftahlenden Fieg", hurra der "Fieg ift mein, mein ift der Fieg". 
"Berg Heil", wünschte ich den anderen Kameraden, und schließlich schüttelte ich auch die Hände der Mädels. "Machst Du Speed hier oder was", grinsten sie durch ihre Sonnenbrillen. Anschließend gab es die üblichen Gipfelfotos. Dann vesperten wir alle unsere Müsliriegel und tranken mitgebrachten heißen Tee. "Sag mal, gehst Du ohne Grödeln?" fragte mich eine der jungen Frauen. Sie war höchstens 25 Jahre alt und daher empfand ich das "Du" als Kompliment. "Ja, ich hab zwar welche dabei, gehe aber lieber mit Eispickel. Da muss ich die Füß' nicht so heben", antwortete ich. "Stöck' hoast ah net", kommentierte ihre Freundin. "Ähh, nö", gab ich zu. "Na ja, schnöll aufi kimma isser trotzdem", lästerten die beiden.
Das Gipfelerlebnis noch auskostend, packte ich langsam meinen Kram wieder zusammen. Das Gipfelbild enthält einen Link zu einem kurzen Video der Tour. Dann verabschiedete ich mich, winkte den Zurückbleibenden und stapfte in großen Schritten den Schnee wieder hinunter. Die Bedingungen waren ideal und ich machte schnell Strecke. Die Ösis folgten erneut dichtauf, als ob sie die Revanche nun bergab suchten. Hatten die etwa immer noch nicht genug? Das war doch kein Wettbewerb, was wir hier veranstalteten. Oder hatte ich mich wieder einmal schamlos in der Rolle des "Frauenüberspurters" bestätigt? Da käme ich ja vollends als Arschloch rüber. Ich lenkte mich ab, indem ich mich auf meinen Rhythmus konzentrierte. Die frische Luft und das schöne Gefühl, sich in der Natur zu bewegen, ließen mich schließlich jeden Atemzug genießen. Schnell baute ich meinen Vorsprung weiter aus, verlor meine Verfolger aus den Augen und erreichte schneefreies, trockenes Terrain. Hochzufrieden spazierte ich die folgende Stunde im Sonnenschein den parkenden Unimogs entgegen.
Die Wartenden hatten schon gegessen und ruhten sich an diesem warmen Nachmittag draußen in den Klappstühlen aus. Das Wetter präsentierte sich deutlich besser als vorhergesagt. Die Kinder wurden mit "Shaun das Schaf" im Ullimog alias "Pauli" digital sediert. Auf die Händchen gestützt und in die Flimmerkiste starrend, lagen sie auf dem Bett in unserem Unimog-Kinderzimmer. Am Abend spendierten Jochen und Nevin einen guten Rotwein und Ulli und ich kochten dazu. Zu viert etwas eng im Ullimog sitzend beschlossen wir beim gemeinsamen Dinner diesen schönen Urlaubstag. Die beiden Mädchen guckten währenddessen im Feuerwehr-Mog ein Filmchen. Felix schlief tief und fest bei uns, und wir freuten uns immer, wenn er ganz zart schnarchte. Ein kurzes Wort noch zu dem angehängten GPS Track. Die Route funktionierte an diesem Tag und unter den gegebenen Bedingungen. Das kann zu eine späteren Zeitpunkt ganz anders aussehen. Es handelt sich zudem nicht in vollem Umfang um einen offiziellen Pfad.

      Kartenansicht der Wanderung

      GPS Track der Wanderung




14.08.2017
Das Luftablassen hatten wir gestern beim Verlassen des Asphalts versäumt oder besser verdrängt. Dies holten Jochen und ich gleich nach dem Aufstehen nach. Zufällig schafften wir es wieder in derselben Minute vor die Unimogs und grinsten uns gegenseitig an. Leise zischte die Luft aus den Reifen. "Wieviel machst Du?" fragte er. "Ach, so 2 bar, wie immer", ließ ich ihn wissen. Sein Feuerwehr-Mog rollte auf den gleichen MPT81-Reifen wie unserer. In der Nähe stand nun auch ein Landrover, hinter dem ein kleines Zelt errichten worden war. "Den haben wir gestern getroffen, als wir uns beim Warden von der Bergtour zurückgemeldet haben", flüsterte Jochen mir zu. "Der hat sich tatsächlich bei dem Hüttenwirt über das Waschhaus und über den Stellplatz beschwert", sagte er mit rollenden Augen. "Tja, manche bringen eben auch Ansprüche mit hier raus", gab ich meinem Kameraden recht. "Also ich find es echt ok hier", bestätigte er. "Hier ist es absolut traumhaft, und das Waschhaus ist mir dabei völlig wurscht", entgegnete ich.
Da wir am Vorabend die Reisepläne schon abgesprochen hatten, saßen wir schnell auf und fuhren sofort an. Siggi rauchte mächtig in weiß und unser "Pauli-Ullimog" blies wie immer zartblau auf den ersten Metern. Das Geräusch hatte unsere neuen Nachbarn offenbar aufgeschreckt. Sofort flog das Zelt auf und der Herr, selbstverständlich ein Deutscher, baute sich demonstrativ auf und hielt sich weit mit dem Arm ausholend die Nase zu. Böse kopfschüttelnd stellte sich seine Frau mit verschränkten Armen daneben. "Guck Dir die an, die wünschen uns gute Fahrt", nickte ich Ulli zu und machte sie auf die beiden aufmerksam. "Na ja, vermutlich haben die schlecht geschlafen", sagte Ulli leise und gleichzeitig dem Pärchen draußen winkend. Ich blickte in den Rückspiel und stellte zufrieden fest, dass Jochen und Nevin in etwa genau so reagierten. Jochen rollte mit den Augen und Nevin winkte unbeeindruckt ab. "Is ja cool, dass Frauen in solchen Situationen unabhängig voneinander eher die beschwichtigende Position einnehmen", rief ich meiner Beifahrerin zu." "Die Tante von dem Jeep-Typ hat aber munter mitgemeckert", sagte sie. "Wer hat gemeckert?" wollte Josefine von hinten aus dem Aufbau wissen. "Die Leute, an denen wir vorbeigefahren sind", antwortete Ulli. "Die haben gedacht, der Unimog stinkt, aber das macht der nicht, sagte Josefine. "Der Felix kann viel mehr stinken." Bei soviel Wahrheit auf einen Haufen mussten wir einfach allesamt laut loslachen. Felix klatschte begeistert in die Hände, obwohl er nicht verstanden hatte, worum es gerade ging. "Kinder an die Macht, kann ich da nur sagen"
Weil das Wetter so schön war, hielten wir auf dem völlig leeren Besucherparkplatz des Kárahnjúkar-Staudamms an und spazierten neugierig auf der Anlage herum. Ein wahrhaft imposantes Bauwerk! 


 
Als nächstes stand der warme Wasserfall Laugarvellir auf dem Programm. Ich wollte dort unbedingt mit meinen Kindern baden und hatte im Vorfeld Josefine von dem zauberhaften Ort vorgeschwärmt. Sie schien sich jedoch an nichts dergleichen zu erinnern und tauchte wie gewohnt mit ihrer Freundin Selli wieder in eine imaginäre Geschichte ab. Die beiden Mädchen banden auch die Schafe, die hier überall herumliefen, in ihre Story mit ein. Sie schienen unzertrennlich, und wir vier Erwachsenen freuten uns mit den Kurzen. Welches Glück, genau im richtigen Moment die richtigen Reisegefährten getroffen zu haben.



Schließlich war Baden angesagt, obwohl wir das besondere Fleckchen Erde mit einigen anderen Touristen teilen mussten. Aber auch ohne Absprache wurde höflich durchgewechselt, so dass jeder mal nur mit seiner Familie drankam. Jochen und ich badeten beide mit unseren Töchtern in dem warmen Wasser. Die Mädchen interessierten sich aber schon nach kurzer Zeit nur wieder füreinander und übten das Tauchen in dem nicht allzu klaren Tümpel. Schön sauber geduscht ließen wir Männer uns von der Sonne trocknen. Ich schwärmte Jochen von der schönen "Nordausfahrt" aus dem Tal vor. "Da gibt es ein paar schöne Passagen, und kleine Furten sind auch dabei", versuchte ich ihn zu bewegen, die mir bekannte Piste mitzufahren. Wir hatten als weiteres gemeinsames Reiseziel die Askja vereinbart. Er hatte auch Lust, seinen Unimog mal etwas zu fordern und willigte ein. Ich fuhr voran, und schon, als es aus dem Tal heraus etwas steiler und rauer wurde, war Jochen nur noch am Grinsen. Das schöne an diesen tief ausgefahrenen Anstiegen ist, dass man sich mit dem Unimog keine Gedanken machen muss. Einfach einen kleinen Gang einlegen und ganz langsam durchkrabbeln, war die Devise. "Ist schon toll, was die Dinger alles mitmachen", schwärmte er. "Und dazu noch völlig entspannt." Ich freute mich auch über die erste Geländestrecke, die wir in diesem Jahr fuhren und hoffte nach jedem Buckel, dass es noch rauer werden würde. Da sahen wir unten im Tal einen Isländer, der mit seinem höher gelegten 35-Zoll-Jeep ebenfalls den Hang in Angriff nahm. Das Auto setzte mehrfach auf, und der Fahrer nahm das billigend in Kauf. Er schien die Strecke genau zu kennen, und mit viel Tamtam und Staub schrubbte sich das Fahrzeug schließlich über die Buckel. "Das geht echt besser mit dem Mog", rief ich zu dem roten Feuerwehr-Unimog herüber, der den Einheimischen ebenfalls beobachte. Jochen machte einen spitzen Mund und nickte zustimmend. Mehrfach den Fluss kreuzend, durchfuhren wir das grüne Tal. Die Piste lief langsam, und manchmal war die Ein- oder Ausfahrt über die Uferböschungen des kleinen Gewässers etwas holperig. Die Unimogs bewältigten aber alle Hindernisse, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich hielt nach jeder interessanten Passage an, stieg aus und schaute genau zu, wie mein Kollege wohl die Sache angehen würde. Er wählte meist einen anderen Weg, wurschtelte sich aber natürlich auch immer durch. So kam es, dass der Isländer, der wohl irgendwo Pause gemacht hatte, wieder an uns vorbei wollte. Wir hatten gerade langsam eine Furt durchkrabbelt und standen kurz nach der Ausfahrt mitten auf der Piste. Der Isländer nahm ordentlich Anlauf und preschte mit Volldampf durch die Furt. Das Wasser spritzte meterhoch, und der riesige Schwall verfehlte mich nur um einen Meter. Wenn der das mit Absicht so hingekriegt hatte, hätte er mich schwer beeindruckt. Er war offensichtlich in der Lage, einen 10-Meter-Wasserschwall kontrolliert von einem 11-Meter-Wasserschwall zu unterscheiden. Er schätzte wohl die Geschwindigkeit, die Flusstiefe, die Flussbreite und den Fahrzeugverdrängungsfaktor entsprechend richtig ein. "Hut ab, Kamerad,oder wolltest Du mich etwa treffen und hast knapp versagt?" Er schaute mich hinter seiner Frontscheibe finster an und in seinen Augen konnte ich lesen: "Was wollt Ihr zwei Anfänger mit euren dicken Karren hier draußen. Ihr habt doch keine Ahnung, so wird das gemacht, schaut nur her ihr Pfeifen." Ich ließ mir den Schreck nicht anmerken und grinste fröhlich zurück. Er umfuhr beide haltenden Unimogs im Gras, pflügte demonstrativ den Boden neben der Piste um und rumpelte, mit beiden Differentialen eine ordentliche Spur in die bewachsene Böschung ziehend, in den Hohlweg zurück. "Sag mal, wirklich cool war der nicht", kommentierte Jochen die Aktion. "Klarer Fall von Räderkomplex", antwortete ich. "Manche Wikinger kriegen schlechte Laune, wenn sie einen Ausländer mit größeren Rädern treffen." Wir erreichten wieder die F910 und bogen nach Westen ab. Die Piste war im Vergleich zu unserer kleinen Ausfahrt staubig und eintönig. Wegen der starken Staubentwicklung hielten wir einen halben Kilometer Abstand voneinander. Das war kein Problem, denn der Blick reichte üblicherweise sogar weiter. Plötzlich bemerkte ich einen drastischen Temperaturanstieg des Kühlwassers. Selbst bei längeren Talfahrten bewegte sich die Nadel des Kombiinstruments jenseits der 100°C. "Das gibt es doch nicht, seit 2 Jahren fahre ich das Ding über alle Buckel, und noch nie habe ich solche Temperaturen gesehen", weihte ich Ulli in das Problem ein. Nach einer kleinen Furt hielt ich an, öffnete die Motorhaube und schaute nach meinem Elektrolüfter, der überraschenderweise stillstand. Die angezeigte Temperatur betrug 110°C. "Mensch, der müsste doch längst laufen", ärgerte ich mich und überbrückte den Temperaturschalter mit dem Schraubenzieher meines Leatherman-Tools. Der Lüfter sprang sofort an."Laufen tut er doch", schüttelte ich meinen Kopf. "Wird er heiß?" fragte Jochen, der in diesem Augenblick neben mich trat. "Keine Ahnung, vielleicht zu wenig Wasser oder der Thermostat hängt. Jedenfalls zeigt er 110°C an", jammerte ich. "Also der hat keine 110°C", meinte mein Kollege und nahm die Hand vom Kühler. "Vielleicht spinnt auch nur die Anzeige rum", mutmaßte ich. "Ich überbrücke mal den Schalter, dass der Lüfter dauerhaft läuft, und wir fahren weiter", schlug ich vor. Da hielt ein Landrover Defender neben uns und ein netter Herr mit Hamburger Akzent sprach uns an. "Na, is was kaputt?" fragte er. "Keine Ahnung, die Temperatur macht Ärger", antwortet ich und hatte wenig Lust, über die Angelegenheit zu sprechen. Daran war meine miese Laune schuld, die ich aufgrund dieses Defektes hatte. Da kümmert man sich ewig um die Mühle, fährt das Scheißding pausenlos im Alltag, und wenn man sich drauf verlassen muss, dann kackt die Karre ab. "Kommst Du von der Askja?" fragte ich den Mann, um das Thema zu wechseln, er nickte. "Da ist die Hölle los", ließ er uns wissen. "Wie viele Autos stehen denn da, zehn oder zwanzig?" fragte ich neugierig. "Also da stehen so um die hundert", behauptete er. Jochen zuckte ungläubig zusammen. "Was, so viele, das gibt es doch nicht", schüttelte er den Kopf. "Echt einhundert, das wären tatsächlich viele", antwortete ich ungläubig. Es zog sich noch eine ganze Weile und erst nach 20 Uhr erreichten wir endlich den großen Campingplatz bei Dreki. Ulli zählte sofort die anwesenden Fahrzeuge, die allesamt von Nachtlager bereitenden Reisenden umwimmelt wurden. "Ohne den Bus und ohne die Ranger-Jeeps sind es 17 Autos", sagte sie. Ich parkte den Unimog auf dem leicht abfallenden Gelände und drückte aufatmend den Absteller. "Jetzt reicht es aber für heute, morgen guck ich nach dem Wasser."





15.08.2017
Alle vier schliefen wir wie die Steine. Die Fahrt gestern hatte offensichtlich die ganze Familie ziemlich geschlaucht. Felix forderte jammernd, in seinem Reisebettchen stehend,  den Platz zwischen Ulli und mir ein. Er musste sich auch gegen Josefine durchsetzen, die ebenfalls kurz nach dem Aufwachen zu uns hinauf kletterte. Am Ende reichte es für alle und wir kuschelten uns family-mäßig in den Tag. Nach einer Stunde verließ ich als erster die Koje und begann unseren mittlerweile etablierten Womo-Alltag. Zunächst verschloss ich das Hauptbett mit unserem Kindergitter, dann baute ich das Reisebett des Babys ab, klappte anschließend den Tisch hoch, wusch und rasierte mich und startete den Kaffee. Ulli passte in der Zwischenzeit auf den Nachwuchs auf, wickelte Felix, sorgte für angezogene Kinder, und schließlich gesellten wir uns alle gemeinsam zum Frühstück. In diesen Tagen fütterten wir Felix jedoch immer zuerst und alleine, da er stets seinen Brei ablehnte, wenn alle Personen am Tisch andere Dinge aßen. Leider vertrug er unsere Kost noch nicht so gut, was diesen kleinen Trick nötig machte. Ulli las Josefine in der Zwischenzeit, auf dem Bett liegend, Geschichten vor. Die Morgensonne schien unterdessen schön auf unseren Blechkoffer. Also ging ich kurz vor die Tür und machte das folgende Foto.



Wenig später saß ich barfuß in Boxershorts und Heavy-Metal-T-Shirt am Tisch und schaufelte mit Zimt und Zucker angerührten Grießbrei in meinen einjährigen Sohn. Er strahlte, gluckste und schien von dem Zeug gar nicht genug zu bekommen. Meinen dampfenden Kaffee hatte ich außer Reichweite der kleinen forschen Händchen platziert. Die Gebläseheizung war gerade eingeschaltet worden und schnell erwärmte sich der Innenraum. Durch das große Fenster konnte ich das bunte Treiben der vielen Gäste draußen gut beobachten. Der Platz erwachte und alle waren am Räumen, Verstauen, Wasserkochen oder liefen mit Waschbeuteln und Handtüchern bewaffnet zu den nahen Holzhütten. Direkt gegenüber hatten einige Schweizer eine Expeditions-Wagenburg aufgebaut, die mich irgendwie an die Kulisse der Indiana-Jones-Attraktion der Universal-Studios in Orlando erinnerte. Die Szene hätte sich auch im Schaufenster eines Outdoor-Geschäftes abspielen können. Jedenfalls stellten die repräsentativen Ausrüstungsgegenstände jedes Camel-Zigaretten-Werbeplakat in den Schatten. Klappstühle, Benzinlampen, Dachzelte und Kanister sorgten neben den Sandblechen und Schaufeln für die richtige Abenteueratmosphäre. Sie hatten den Krempel auch gestalterisch ansprechend aufgestellt und saßen in khakifarbenen Zipper-Hosen am Klapptisch und tranken aus Aluminiumtassen.
"Schau Dir die Kasper da drüben an, die haben wohl zu viel Quatermain-Filme geguckt oder zuviel im Explorer-Magazin geblättert", lästerte ich.
"Was hast Du denn schon wieder, lass doch jedem seinen Urlaub", wies mich meine Frau vom Bett aus zurecht.
"Die kommen sich vielleicht cool vor, aber ich wette, die rauchen noch nicht einmal filterlose Zigaretten", konterte ich.
"Du bist natürlich viel cooler", sagte Ulli.
"Klar, ich hocke hier nackig in Rock'n'Roll-Unterwäsche im Warmen, füttere unseren Kleinen am Tisch und kann meinen Kaffee langsam trinken, bevor er kalt wird."
"Die da drüben glauben wohl, wir sind die Expeditionsmobil-Weicheier, aber die Weicheier sind sie selber. Unsere Khaki-Offroad-Helden haben sich nämlich mit diesen albernen Plastikkeilen die Karren geradegerückt, damit sie nachts schlafen können. Mir macht das nichts aus, wenn ich nicht waagrecht pennen kann", gab ich zurück.
"So wie Du redest, hast Du aber echt schief gelegen, und das Blut ist aus Deinem Kopf rausgelaufen", stellte Ulli fest.
Wir frühstückten gemütlich zu Ende und beobachteten, wie alle Leute eilig zusammenpackten und aufbrachen. Gegen halb zehn waren nur noch unsere beiden Unimogs da, und wir trafen uns mit der Besatzung von Siggi um den Tag zu besprechen. "Wo sind die denn alle hin", fragte ich in die Runde. "Die haben alle keine Zeit", kamen wir überein. Daher bot sich die Chance, die nahe Drachenschlucht zu besuchen, die keiner von uns je bei so schönem Wetter gesehen hatte. Die Mädchen waren vom dem Gedanken fasziniert, hier tatsächlich eines der Fabelwesen vorzufinden und führten zunächst mutig unseren Zug an. Vor jeder Biegung hielten sie jedoch ängstlich inne und fragten uns leise: "Kommt jetzt der Drache?" Wir erklärten ihnen, dass die Geschichten über Drachen wichtiger sind als die Drachen selbst. Sie schienen es zu verstehen.



Nach unserem kleinen Ausflug schnappte ich mir einen leeren Kanister und drei leere, große Wasserflaschen und ließ das Kühlwasser bis unter das Niveau des Thermostats ab. Nicht ein einziger Tropfen der wertvollen und hier draußen unersetzbaren Flüssigkeit ging verloren. Das ist nun das echte Automobilabenteuer, redete ich mir ein. Der Thermostat war, wie ich mich erinnerte, relativ neu und sah auch noch gut aus. Ich prüfte den Hub des Bauteils, indem ich es in kochendes Wasser hielt. Es erwies sich als praktisch, eine komplette Küche dabei zu haben. Das Teil schien zu funktionieren, wenn ich auch nicht genau die Temperatur des sprudelnden Wassers kannte. Bei dieser Gelegenheit prüfte ich auch den Temperaturschalter, der ebenfalls sehr zuverlässig den Kontakt schloss, sobald ich ihn in den Kochtopf tauchte. Schneller als geplant hatte ich alles wieder zusammen und meldete, dass der Ullimog nun wieder klar sei.
"Komm, dann fahren wir Jochen und Nervin noch hinterher zum See hinauf. Die sind erst eine Stunde weg", schlug Ulrike vor. "Au ja, zu Selli", freute sich Fine und riss die Arme hoch. Die Mädchen hatten sich zwei ganze Stunden nicht gesehen, wie furchtbar. Die Piste F894 von Dreki zum Öskjuvatn stieg leicht an und war bestens ausgebaut. Der Unimog hielt ganz exakt die Temperatur, was sich durch den gewohnt waagrecht stehenden Zeiger der Anzeige äußerte. "Es scheint wieder zu gehen, vielleicht hat ja nur der Thermostat gehangen oder es war Luft im Kühlsystem", vermutete ich. "Prima, Du bist der Reparier-Mas", freute sich meine Frau. Oben auf dem kleinen Parkplatz befanden sich die meisten Gäste schon auf dem Rückweg. Josefine, Ulli und ich saßen ab und liefen den langen, geraden Weg in Richtung See. In der Ferne, mindestens einen ganzen Kilometer weit weg, konnten wir Selli an ihrer knallorangefarbenen Jacke erkennen. "Da hinten ist Selli", jubelte Fine und rannte mutig voran auf ihre Freundin zu. "Mal schauen, wie lange die das Tempo durchhält", wendete ich mich an Ulli. Josefine hielt aber vehement ihre Geschwindigkeit, bis sie nach mehreren Minuten bei Selli eintraf. Der türkisfarbene und der orangefarbene Punkt hatten sich wieder. Die beiden Mädchen umarmten sich und tanzten umeinander herum im Kreise. Wenig später trafen wir auch auf unsere neuen Freunde, die spontan entschieden, nochmal mitzukommen, obwohl sie sich eigentlich schon auf dem Rückweg befanden. Wir waren inzwischen die einzigen Touristen hier draußen und hatten, so weit das Auge reichte, das Gelände für uns alleine. "Überfülltes Island, erstes Kapitel", kommentiere ich die Überraschung. Jochen lachte und die Mädchen bekamen die strikte Anweisung, immer mindestens zwei Körperlängen vom steil abfallenden Rand des kleinen Kraters "Viti" wegzubleiben. Wir schärften unseren Töchtern ein, dass solche Anweisungen immer automatisch für beide galten.



Die Frauen unterhielten sich rege und so übernahmen wir Männer die Kinder. Mit Begeisterung untersuchten Fine und Selli die überall herumliegenden Bimssteine. Die teils fußballgroßen Brocken waren so leicht, dass auch Fünfjährige sie locker über den Kopf stemmen konnten. Das fanden die beiden Mädchen natürlich spannend und versuchten sich beim Heben immer größer werdender Steine zu übertreffen. Schließlich mussten wir einschreiten, weil die scharfkantigen Riesendinger zu schwer wurden. Die offene, menschenleere Landschaft genießend, spazierten wir zu den Fahrzeugen zurück und stellten fest, dass Felix nicht der jüngste Besucher weit und breit war. Ein deutsches Paar war gerade eingetroffen und bereitete sich mit einem vier Monate alten Baby auf den Spaziergang vor. Wir grüßten die beiden und unterhielten uns kurz von Eltern zu Eltern.
Leider mussten wir während der Rückfahrt feststellen, dass unser Temperaturproblem doch weiter bestand. Obwohl der Unimog die ganze Zeit bergab rollte und ich praktisch keine Leistung brauchte, bewegte sich die Anzeige über der 100°C-Marke. Etwas angefressen über diesen unglücklichen Umstand, zerbrach ich mir bis zum Eintreffen auf am Campingplatz Askja erfolglos den Kopf.
Wir kochten zusammen, aßen zu Abend und trafen uns anschließend mit Jochen und Nervin zum Quatschen bei uns im Ullimog. Die beiden großen Kinder wollten wieder unbedingt zum Video-Schauen nach nebenan. Hin und wieder hörten wir sie drüben durch die geöffneten Fenster lachen.




16.08.2017
Am Morgen war ich wieder mit Jochen verabredet. Wir wollten uns gemeinsam bei den Rangern über die geplante Ausfahrt durch das Dyngjufjalladalur erkundigen. Wir beide hatten zwar sämtliche Geländewagen-Reiseführer darüber gelesen und verfügten auch jeweils über mehrere Berichte aus dem Bekanntenkreis. Trotzdem hielten wir es für sinnvoll, aktuelle Informationen einzuholen. Im Norden führt die Piste über Farmland und durch nasses Gebiet. Da kann es nach längeren Regenfällen schon schlammig werden, und dann richtet man mit der Befahrung viel Schaden an, ob man nun durchkommt oder nicht. Außerdem könnte es ja sein, dass aus irgendwelchen Gründen die Durchfahrt von den Bauern nicht mehr gestattet wird oder dergleichen. Also nahmen wir eine Karte mit kleinem Maßstab und klopften an die Tür der Ranger-Station in Dreki. Die Mannschaft saß noch beim Frühstück, und ich war schon im Begriff, die Sache zu vertagen, da kam schon eine junge Dame mit den Worten: "Can I help you?" freundlich lächelnd auf uns zugelaufen. Wir erzählten von unseren Plänen, und sie führte uns zu einer Wandkarte im Hausflur. "Does your car have some ground clearance?" fragte sie verschmitzt. Jochen und ich grinsten uns an und ich antwortete: "I guess so." Sie zog etwas ungläubig die Augenbrauen hoch und entgegnete: "This track is for cars with tires greater than 35 inches only." Sie fuhr mit dem Finger die Strecke auf der Karte nach, und als sie auf die Botni-Hütte zeigte fuhr sie fort: "The road splits somewhere around here. Please note the western part is closed due to water problems. Just make sure you turn east." "You can not miss it, because it is very slow driving on the lava", ergänzte sie. Ich interessierte mich für das Farmland, welches aufgrund der anderen Wasserprobleme ja auch Schwierigkeiten machen könnte. "I know, the track can be impassable after heavy rain in this area", richtete ich mich an die Frau und zeigte auf die Karte an der Wand. "Yes, but only after many days of rain. It has been pretty dry lately, so I do not think you will have a problem." "Ok, thanks. I learned the track has a soft shoulder that sometimes comes very close to the river", hielt ich das Gespräch am laufen. "Our cars are rather heavy and wide, so we have to be very carefull", ließ ich sie wissen. "We will not hesitate to turn around if it is critical or dangerous."
"You are right and you sound like you are well prepared. I do not have doubts to let you drive there", sagt sie. Wir nickten uns dankbar zu und Jochen bedankte sich ebenfalls.
"When are you going to leave?" fragte sie bevor wir zur Tür herausgetreten waren. Ich drehte mich um und berichtete, dass wir demnächst aufbrechen würden. "There is a guided tour to the Holuhraun Lavafield at 10 o'clock." "Just be there at the parking area around here." Sie tippte erneut auf die Karte, verabschiedete uns und verschwand wieder hinter der Tür des Dienstzimmers. Jochen und ich traten ins Freie und waren beide recht angetan von der Idee, die Führung zur Bárðarbunga Lava mitzumachen. Nebenan parkte der Landsbjörg Unimog der improvisierten kleinen Siedlung, den wir natürlich auch nicht ausließen.



"Guck mal, wir gehen auch noch bei dem gelben Unimog vorbei", schlug er vor. Am Vorabend hatte sich nämlich noch ein gelber Unimog mit Doppelkabine zu uns gesellt und da mussten wir einfach mal "Guten Tag" sagen. In der Morgensonne tratschten wir an der geöffneten Flügeltür des Gelben mit der Besatzung. Die Mannschaft teilte sich das Fahrzeug mit einigen Familienmitgliedern, die nach und nach per Flugzeug anreisten und jeweils den Unimog übernahmen. Mit Sicherheit ist das ein effektives und günstiges Verfahren. Sie waren nett und hatten ebenfalls von der geführten Tour erfahren. "Bist Du der mit dem Unicat-Aufbau?" wollte der Fahrer wissen. "Nee, das ist ein Selbstbau", antwortet ich. "Von UNICAT bin ich zwei Gesellschaftsklassen und 4 Gehaltsstufen entfernt", fügte ich mit ebensoviel Genugtuung hinzu. Alle lachten und winkten zum Abschied. "Bis dann am Parkplatz", riefen sie uns hinterher.
Ulli wollte fahren und steuerte unseren Unimog demonstrativ neben das gelbe Schild am Südende des Campingfeldes. Unser weithin sichtbarer Unimog starte die große Aufbruchsstimmung. Schnell reihten sich alle anwesenden Unimogs in die Kolonne ein, die wir anführen sollten. Als letztes Fahrzeug fuhr der Pickup der Parkwächter auf die Piste. Das Wetter schien nass zu werden, und aus der inzwischen geschlossenen Wolkendecke nieselte teilweise schon dünner Regen. Das machte die Sandpassage zwischen Dreki und dem Holuhraun-Lava-Feld einfacher befahrbar, aber vor allem staubfrei. Ich filmte aus dem Fenster, filmte die Unimogs von der Straße aus und war bester Laune. Ulli spielte richtig schön mit bei meinem Filmprojekt, und es entstanden schöne Aufnahmen.
"Du, die Temperatur steigt wieder", sagte sie plötzlich und zeigte mit dem Finger auf die Anzeige. Ich reckte den Hals und ärgerte mich: "Mist, das habe ich fast schon befürchtet, ausgerechnet hier." Gleich darauf schrie sie auf, als dicke Dampfwolken unter der Motorhaube hervorquollen. "Scheiße, der kocht", rief sie und schaute mich mit aufgerissenen Augen fragend an." Verdammt, anhalten und Motor laufen lassen", bestimmte ich, schwang mich vom Sitz und hechtete nach vorne. Der Unimog kam in dem Sand sofort zum Stehen. Ich riss die Motorhaube auf, und dicke Dampfwolken quollen mir entgegen. Der Unimog blies über den Deckel des Ausgleichsbehälters kräftig ab. Ich kniff die Augen zusammen und überbrückte den Temperaturschalter mit dem Vierkantschlüssel. Der Lüfter, der längst hätte laufen müssen, sprang sofort an. "Die Anzeige ist voll am oberen Anschlag", meldete Ulli, den Kopf aus dem Fenster gestreckt. Schon nach wenigen Sekunden stoppte das Abblasen. Der Lüfter hatte offensichtlich die Maschine schnell wieder heruntergekühlt.
Der Kühler fühlte sich jedoch irgendwie kalt an, und auch die Luft, die das Gebläse nun fleißig schaufelte, war nicht allzu warm. Der dicke Schlauch oben an der Wasserpumpe war völlig leer und ließ sich ganz leicht zusammendrücken. Mit diesem einfach Test kann man normalerweise feststellen, ob das System unter leichtem Druck steht oder ob der große Kreislauf aktiv ist. Nichts dergleichen war der Fall. Ich konnte mir auf die Sache keinen Reim machen, was mich mächtig ankotzte. Da beschäftigt man sich ohne Ende mit dem Auto, baut alles ab, was kaputt gehen kann. Dazu verzichtet man auf undurchschaubare, anfällige Elektronik, macht alles so simpel wie irgend möglich und dann schimmelt das Kackding so "mir nichts dir nichts" ab, wenn es drauf ankommt.
"Die Temperatur ist auf ungefähr 95°C gefallen", meldete meine Frau, die Nadel ständig beobachtend. Ich schaltete den Lüfter wieder auf "dauerhaft aktiv", verschloss kopfschüttelnd die Motorhaube und gab der hinter uns wartenden Kolonne "Daumen hoch" zur Weiterfahrt. Mit einer konstanten Anzeige von 95°C erreichten wir den kleinen Parkplatz, der mit ein paar Holzstickeln und Nylonschnüren markiert war. Ein Schild wies auf den Pfad hin, der von hier aus auf die Lava führen würde. Als letztes bog die Parkwächterin mit ihrem Wagen ab, stieg aus und wartete, dass sich die kleine Gruppe sammeln würde. Neben den Unimog-Besatzungen warteten nun auch noch die Deutschen mit dem kleineren Baby darauf, dass es losgehen möge. Felix war also nicht das jüngste Kind im Umkreis von hundert Kilometern. An dritter Stelle der Alters-Rangliste kam schon die Lava unter unseren Füssen. Die war von 2014, alle anderen Anwesenden, inklusive der mitgebrachten Autos, waren älter. "Die Lava-Führung macht heute die Kollegin", flüsterte mir Jochen zu, der eigentlich auch die Dame, die uns beraten hatte, erwartete.
Die Tour selbst war hochinteressant, sehr schön wissenschaftlich, spannend und unterhaltsam. Alle Besucher hingen an den Lippen der jungen Frau und schienen die Beschreibung des Ausbruches an Ort und Stelle zu genießen. Die grauen Wolken hingen tief, der Wind pfiff, und in dem pechschwarzen Sand war in Sichtweite noch nicht ein einziges Grashälmchen zu sehen. Die entsprechende Endzeit-Atmosphäre stellte sich ein. Drohend erhob sich am Horizont der Kraterrand der Ausbruchspalte.



Der gelbe Unimog und alle anderen Fahrzeug fuhren nach Norden zurück. Binnen Minuten war unsere kleine Unimog-Reisegruppe wieder alleine in der gewaltigen, von der Schöpfung so kürzlich betroffenen und lebensfeindlichen Umgebung. Der Regen traf uns nun von der Seite und auch der Wind wurde heftiger. "Willst Du mit Deinem Thermostatproblem wirklich weiterfahren?" fragte mich Jochen. "Wir drehen auch mit Euch um", bot Nevin an. Tatsächlich stellte ich mir die Frage, ob es eine gute Idee wäre, in diesem Zustand der Unkenntnis noch weitere 100 km in die Wildnis hinein zu fahren. Sollte die Mühle noch weiter draußen komplett den Aal machen, könnte das ein ganz schönes "Kerfuffle" werden. Ich beriet mich mit Ulli und wollte mich dabei auf die Fakten und Tatsachen und nicht auf meine Ängste stützen.
"Wenn der Lüfter dauerhaft pustet, haben wir tagelang immer konstant 95°C gesehen", stellte ich fest. Es könnte auch sein, dass der heute nur abgeblasen hat, weil ich den Wasserstand an der Askja gestern ergänzt habe. "Der Unimog pustet immer so lange Wasser ab, bis er das nötige Luftvolumen zum Ausgleich hat. Dann steht der Kühlwassertand nur knapp über Minimum. Das kann er aber erst, wenn er warm genug ist", argumentierte ich. "Vielleicht ist er erst hier im Sand mal richtig warm geworden, hat abgepustet und sich wieder richtig eingestellt", mutmaßte ich nicht ohne Hoffnung. "Es könnte also alles auch nur ein Anzeigefehler sein", erklärte ich Ulli. "Es ist definitiv nicht die Zylinderkopfdichtung, denn wir brauchen kein Wasser, das Öl ist sauber, er qualmt nie, springt bestens an und zieht gut", schloss ich ab. Wir waren uns einig, wir würden weiterfahren.
Es folgten einige Steigungen im weichen Sand, die im Vergleich zur bisherigen Strecke eine weit höhere Leistung forderten. Teils fuhr ich im dritten Gang den schwer arbeitenden Ullimog über die schwarzen Sandbuckel. Die Temperatur bewegte sich kein Stück und schien nun bei 95°C festgenagelt zu sein. Die Piste machte Spaß und wäre da nicht ständig die Befürchtung, hier draußen nun doch liegen zu bleiben, dann käme in unserem wetterumtosten Führerhäuschen tatsächlich entspannte Gemütlichkeit auf. Wir begegneten, außer wenigen Fahrradfahrern, niemandem mehr auf der F910. Die kleine bunte und vermummte Gruppe schaute uns zornig an, blieb demonstrativ auf der Piste stehen und grüßte auch gar nicht. Ulli und ich wiesen Fine an, besonders intensiv und freundlich aus dem Fenster zu winken. Schließlich sahen wir sie im Rückspiegel doch auf uns zeigen. "Guck mal, die haben Kinder dabei", konnte ich förmlich von ihren Lippen lesen. "Tja, die haben wohl gedacht, hier ist Abenteuerland für Erwachsene oder so was in der Art", kommentierte ich das Gesehene. Die Spuren verrieten uns, dass die armen Teufel ihre voll bepackten Drahtesel schon seit vielen Kilometern durch den tiefen Sand schoben. Wir befanden uns auf einer der höchsten Ebenen im zentralen Hochland, und jede Ecke verriet, dass die Erosion hier oben ganze Arbeit leistete. Die grimmige Natur draußen ließ keinen Zweifel an ihrem Herrschaftsanspruch aufkommen.



Der Regen prasselte geräuschvoll auf unser Blechdach und die Scheibenwischer standen niemals still. Nur langsam arbeiteten wir uns auf der gewundenen Piste, jede kleine Lavaformation umfahrend, voran. Schließlich bogen wir nach Norden auf die Dyngjufjalladlur-Piste ab. Wer auf das Lavawüstenbild klickt, kann sich einen Film dieser Piste anschauen. Eine Welle der Euphorie durchfuhr mich, da ich diese Passage schon seit langem mal fahren wollte. Gelaufen bin ich sie ja teilweise schon, und da wollte ich einfach auch mal mit dem Unimog hinterherfahren. Ein Verfahren, welches ich seit Jahren anwende und welches mich von vielen sogenannten "Geländewagenfahrern" unterscheidet. Auch die Gasavatnaleid hatte ich seinerzeit erst einmal im abgesessenen Kampf bezwungen. So sollte es nun auch hier laufen, zumindest von der Dyngjufell-Hütte aus nordwärts. Ich erkannte sogleich den tiefen, grauen Canyon, der das obere Ende des Tales säumt. Die Piste kreuzte mehrfach einen kleinen Fluss mit flachen steinigen Furten. Die Steine waren teilweise groß und vom Wasser stark geformt, besonders, wenn der Fluss über größere Platten hinweg floss. Die Fahrerei kostete einige Mühe, da es zeitweise nur im Schritttempo vorwärts ging. "Ab der Hütte wird es besser", erinnerte ich mich. Schließlich erkannte ich die Hütte, die westlich im Tal auf einer kleinen Anhöhe lag. Der Tag begann sich bereits zu neigen, als wie die schneller laufenden Streckenabschnitte erreichten. Nun drehte die Piste aber heftig auf. Über steile, scharfe Lava führte die nunmehr vollends unebene Strecke voran. Ich fuhr gestoppte 30 Minuten ausschließlich im ersten und im zweiten Gang, was ich bisher nicht kannte. Es machte tierisch Laune, den Unimog so einzusetzen und hinter jeder Biegung ein neues tolles Hindernis vorzufinden. Es mag wohl diese Begeisterung gewesen sein, die Jochen und mich in diesen Stunden vor der totalen Erschöpfung bewahrte. Für alle die, die diese Erfahrung noch nicht gemacht haben: Es ist verdammt anstrengend, in Schrittgeschwindigkeit für Stunden den Fahrweg auf wenige Zentimeter bestimmen zu müssen. Allein die vielen Lenkbewegungen werden mit der Zeit ermüdend. Trotzdem muss man wie ein Schießhund auf die Reifenflanken achten, die in diesem scharfkantigen Terrain immer einer gewissen Gefahr ausgesetzt sind. Dabei geht es darum, sowohl den Weg der Vorderachse als auch den davon abweichenden Weg der Hinterachse genau zu beurteilen und vorauszusehen. In den engen Kehren war es wichtig, genau in die Rückspiegel zu schauen. Alle hohen, herausstehenden Spitzen sollten tunlichst mit der starken Lauffläche der Reifen genommen werden. Uli zeigte eine erstaunliche Geduld in diesen Stunden, die auch für den Beifahrer sehr zehrend sein können. "Ich habe einfach beschlossen, nicht loszuheulen", behauptete sie. Die Kinder ertrugen die Tortur mit Leichtigkeit, knabberten Kekse und spielten miteinander.
"Mensch, da ist überhaupt kein Weg, kein Pfad und schon gar keine Piste", beurteilte Ulli eine besonders langsam zu durchfahrene 1.-Gang-Passage. "Da stehen nur ab und zu Stickel herum." In der Tat wäre zu Fuß gehen auf diesen Teilstücken deutlich flotter gewesen. "Darf ich dich dran erinnern, dass das einzige vernünftige Transportmittel auf Island das Pferd ist", reagierte Ulli auf diese Krabbelei mit Humor. "Komm, wenn es den ganzen Tag regnet, ist es auf so einem Gaul auch nicht so das Wahre", konterte ich.
Nun erschien neben der Strecke auch schon das eine oder andere grüne Fleckchen. Die Vegetation stellte sich auf dieser stets abwärts und zur Küste hin verlaufenden Strecke langsam und stetig ein. Mit Sicherheit besteht darin einer der reizvollsten Aspekte dieser bekannten Hochlandstrecke. Inzwischen sahen wir auch zusammenhängende Grasflächen in der sich in alle Richtungen des dreidimensionalen Raumes windenden Dyngufjalladalur-Strecke. Ich genoss das Gefühl, jede vor dem Fahrzeug auftretende kitzlige Passage auf die Fähigkeiten des Unimogs hin zu beurteilen. Es war klar, der Unimog würde die jeweiligen Stellen stets mit Leichtigkeit nehmen. Dies verschaffte mir eine Menge Zuversicht, und einmal mehr freute ich mich über ein so fähiges Gerät in meinen Händen. Keine hohe Kuppe und keine noch so viel Verwindung einfordernde Formation konnte den Unimog hier in ernste Bedrängnis bringen, mit zwei kleinen Kindern an Bord und angesichts des Mistwetters eine Mordssache.
Ich steuerte gerade über eine etwas schräg hängende und Bauchfreiheit einfordernde Felsenstelle, da tauchte vor uns ein VW T6 auf, der neben der Strecke, in unsere Richtung weisend, wartete. "Ach Du Scheiße, was will der denn mit der Karre hier?" wandte ich mich an Ulli. Sie blickte erstaunt nach draußen und meinte: "Vielleicht sollte der besser umkehren." Als wir auf seiner Höhe waren, stieg er aus und kam zu mir ans Fenster gelaufen. "Hello, how is the track further up. Is ist getting better?" fragte der braungebrannte, hagere Holländer in Jeans und Hawai-Hemd. Ich überlegte zunächst, was ich sagen sollte, und antwortete:
"Well it is kinda like this, but for a long time." Seine Frau saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz und würdigte uns keines Blickes. Ich schaute mir den Volkswagenbus genau an. Offenbar fuhr der einen nagelneuen T6-Synchro mit Straßenreifen, die sogar einen recht niedrigen Querschnitt hatten. Das Auto hatte so eine Art Unterfahrschutz-Schweller in Form eines silbrigen Rohres, welches die gesamte Distanz zwischen Vorderachse und Hinterachse einnahm. Das Teil war im ersten Drittel etwa 20 cm nach oben geknickt, und augenscheinlich hatte auch die Originalkarosserie bei dem Aufsetzer Schaden genommen. Der Kerl leistete sich eine nicht unerhebliche Materialverachtung. "Do you think I can do it in this?" fragte er mich. "I can lift it up a little more", erklärte er mir auf unserem Trittbrett stehend und auf sein Auto zeigend.
"I do not know, but I certainly would not do it in this car", antwortete ich. Er schien diese Antwort erwartet zu haben und es hatte beinahe den Anschein, als wollte er mit der Frage nur das Erstaunen eines Unimog Fahrers provozieren. Ich muss zugeben, das hatte er geschafft.
Jochen hielt hinter uns, stieg aus und meinte: "No way", dabei zeigte auf den goldfarbenen Kleinbus. Wir sprachen eine Weile zu dritt über die Strecke. Dabei behielten Jochen und ich unsere eher ablehnende Haltung. Schließlich schlug ich Folgendes vor: "There is an obstacle, just 150 meters from here. Let's see if you can do that.""If I can make that obstacle, will I be able to make it all the way up?" fragte er sogleich zurück. "Well, there will be more obstacles like this one and some of them are worse", hielt ich dagegen. Er sprang auf seinen Fahrersitz und fuhr sofort los. Ich stieg aus und rannte hinterher, das wollte ich mir dann doch nicht entgehen lassen. Jochen folgte dichtauf und hatte wohl denselben Gedanken. Der kleine Kerl stand mit dem nun ganz hochgefahrenen Fahrwerk auf der kitzligen Passage und nutzte seine Bodenfreiheit bis auf den letzten Zentimeter. Er überfuhr den Steinbrocken diagonal und stand teilweise nur noch auf drei Rädern. Dann kippte er vorne über, berührte mit dem gegenüberliegenden Rad den Boden und rumpelte, das Hinterbein hebend, über das Hindernis. Wir beiden Unimog-Fahrer staunten nicht schlecht. "So geht's auch", meldete ich. Er winkte uns und fuhr davon. Jochen und ich gingen langsam zu unseren Autos zurück. "Ich bin da einfach gerade drüber", sagte ich. "Ich auch", kam es zurück. "Trotzdem hat der ne' Meise, mit so einem Auto hier langzufahren", setzte Jochen hinzu. "Vielleicht hat der einfach nur genug Kohle. Sein komischer Schweller sah ja auch nicht mehr so gut aus." "Am Ende packt der das da hoch", rief ich meinem Kollegen zu, als ich einstieg. Ulli schüttelte nur den Kopf und konnte auch eine gewisse Anerkennung nicht verleugnen. "Immerhin ist der viel cooler als die ganzen Offroad-Aftermarket-Zurschausteller", entschied ich. "Jetzt gucken wir mal, was der auf dem Weg hierher schon alles bewältigt hat", schlug ich vor und zeigte auf die Strecke vor uns. Ulli nickte und spähte ebenfalls neugierig aus dem Fenster.
Tatsächlich folgten einige Durchfahrten, die nicht ganz ohne waren. OK, für den Unimog war das immer kein Ding, aber es brauchte schon hin und wieder den zweiten Gang und Allradantrieb. Ich ertappte mich dabei, wie ich die jeweils nächsten Steigungen und Senken hinsichtlich des T6-Busses anstatt des Unimogs beurteilte. Je weiter wir fuhren, desto sicherer wurde ich, der T6 würde das schaffen. Die Dunkelheit zog herauf, was glücklicherweise in Island lange dauert. Jetzt ging es darum, Strecke zu machen. Die war nun eher sandig, glatt und führte durch tief ausgefahrenes Grasland. Mitunter ragte die Grasnarbe bis unter die Fensterkante des Führerhauses. Endlich tauchte im Halbdunkel die Farm auf, hinter der die Ringstraße beginnt.
Unser Ziel, der Campingplatz in Reykjahlið, war so schnell erreicht. Einstimmig beschlossen wir, diesen gelungenen Tag mit einem gemeinsamen Dinner zu feiern. Auf Kochen im Unimog hatte keiner mehr Lust. Daher spazierten wir alle sieben Personen rüber zu der mehr oder weniger einzigen Kneipe des Kaffs. Das Gasthaus nannte sich Gamli Bærinn, war urgemütlich, gut gefüllt, und es befanden sich tatsächlich auch einige isländische Lokals unter den Gästen. Ein Gruppe junger isländischer Männer besang mehrstimmig und in regelmäßigen Abständen die Sammlung Bierkrüge, die vor ihnen auf dem Tisch stand. Vermutlich handelte es sich dabei um eine organisierte Touristenattraktion, die den Kerlen das Freibier sicherte, aber schön gesungen haben sie schon. Ulli geriet aus dem Häuschen, weil die Sänger wirklich wunderbar jeden Ton trafen. Am Nachbartisch saßen fünf amerikanische Frauen, die den Wikingergesang oder gar die Wikinger selber besonders toll fanden. Sie flirteten dezent mit den Einheimischen und klatschten nach jeder Darbietung ausgiebig. Felix begann seinerseits mit den Damen zu flirten und quietschte, mit den Armen rudernd, aus seinem Stühlchen heraus. "He is beautiful", sagte schließlich die uns am nächsten sitzende Amerikanerin. Sie witzelte noch eine Weile mit ihm herum und beide lachten mitreißend.
Sehr zum Erstaunen ihrer übrigen Tischgenossinnen fütterte ich meinen Sohn hin und wieder mit einer Fingerspitze Bierschaum aus meinem Glas. "He is german", kommentierte ich diesen Skandal. Schließlich rollte Ulli mit den Augen und verbot mir das lustige Spielchen: "Jetzt ist aber Schluss!" Die Amerikanerinnen nickten zufrieden. Wenigstens entpuppte sich die Mama als vernünftig und durchsetzungsfähig.




17.08.2017
Nach dem Aufstehen putzten wir den Unimog ausgiebig durch. 4 Personen auf 7 Quadratmetern, das hinterließ natürlich Spuren. Peinlich inspizierte ich das Fahrwerk, unter dem Auto auf dem Rücken liegend. Immer wenn wir auf einer Wiese standen, nutzte ich diese Chance. Besonders die Reifen sah ich mir nach der Belastung der letzten Tage an. Außer einem leicht schwitzenden Stoßdämpfer vorne links war alles in der Reihe. Na bitte, geht doch, jetzt galt es nur, das leidige Temperaturproblem zu lösen.
Mit der Druckluftpistole beförderte ich ganze Dreckwolken hinten aus dem Aufbau heraus, und auch Josefine kehrte fleißig mit dem kleinen Besen die Ecken. Ulli kümmerte sich um die Wäsche, die hier abgegeben werden konnte. Wir planten die Angebote in der Nähe zu nutzen und keine große Fahrt zu unternehmen.



Wir Erwachsenen, allesamt erfahrene Islandfahrer, betrachteten mit einiger Aufmerksamkeit und Sensibilität das geschäftige Treiben in der Umgebung des Mývatn. Natürlich hatten wir viel über die angebliche Überfüllung Islands durch immer mehr Touristen gehört und wollten uns nun selbst ein Bild machen. Die Campingplätze waren gut gefüllt, und viele reagierten angesichts des Ansturmes mit improvisierten Einrichtungen, wie zusätzlichen Waschzelten. Vielfach sah man auch lauter kleine "Kuku-Camper" und "Mini-Camper" mit jungen Paaren in umgebauten einfachen Lieferwägen herumfahren. Das neue Geschäftsmodell, welches die weniger zahlungskräftigen Kunden anlocken sollte, zeigt sich bereits vollständig etabliert. So versuchten wir vergeblich, einen Platz in dem berühmten "Kuhstall Restaurant" zu bekommen und drehten angesichts der vielen Autos und Busse auf dem Parkplatz vor Dimmuborgir wieder um. Aber eine Pizza essen gehen wollten wir dann doch. "Wir laden Euch ein", verkündeten Nervin und Jochen und bogen in Vogar von der Straße ab. Weil auch hier Überfüllung herrschte, bekamen wir nur einen Platz im Freien, was nichts ausmachte. Es war warm und trocken, und die Kinder hatten ohnehin ein Problem, still zu sitzen. Fine und Selli bestanden darauf, einen Tisch für sich zu haben. Ich schaue ja in Island selten aufs Geld, aber ich hielt es für nötig, wenigstens ungefähr zu wissen, was sich unsere Freunde mit der großzügigen Einladung aufluden. Eine kleine Pizza kostete immerhin 4300 Kronen. Da kann es durchaus vorkommen, dass man insgesamt eine € 200,- Restaurantrechnung hat, dabei auf Klappstühlen auf dem Parkplatz sitzen muss und die Cola aus Pappbechern trinkt. Zum Pinkeln nach dem Schlüssel fragen kam noch dazu. Ein Vergleich mit der Heimat erschien müßig.
Der Parkplatz am Námaskarð stand so voll, dass ich mit dem Unimog bis an die Attraktion heranfuhr und eine Viertelstunde abwartete. Endlich machte ein Auto Platz. Darin bestand die einzige Chance auf einen Parkplatz, denn die Gäste hatten den gesamten Zufahrtsweg bis hin zur Ringstraße bereits zugeparkt.
Der Platz wimmelte förmlich vor Touristen. In solchen Situationen zeigt sich häufig ein bekanntes Phänomen. Sobald die Heckklappe unseres Wohnaufbaus herunterfuhr, kamen die Leute gerannt und wollten "mal hinten rein schauen". Ich hatte kaum die Tür in der Hand, da ging es auch schon wieder los. Wenig später kam ich mit Felix auf dem Arm zurück und schritt in eine im Kreis aufgestellte Menschenmenge. Einigen Neugierigen kam die Sache nun selbst irgendwie peinlich vor. Sie wollten offensichtlich den beschäftigten Papa nicht auch noch nerven. Ein Herr hatte uns anhand des Nummernschilds identifiziert und rief: "Muss man wirklich nach Island fahren, um einen Darmstädter zu treffen?" Irgendwie freute ich mich über das von den anderen Zuschauern ablenkende Gespräch des Landsmannes. "Woher kommen Sie denn?" fragte ich höflich zurück. "Aus Wiesbaden", antwortete der Mann, über meine Antwort sichtlich erfreut. "Sagen sie mal, wie bringt man denn so einen Unimog hier her?" wollte er wissen. "Mit der Fähre, die geht einmal die Woche", antwortete ich. Ich hatte dieses Gespräch schon viele Male geführt und war auch nicht genervt. Es zeigte sich aber, dass die Touristen, die mit dem Schiff kamen, eindeutig in der Minderzahl blieben. "Na dann viel Spaß noch", wünschte er und winkte.
Vielleicht doch etwas unangemessen, gerieten wir alle in beste Lästerlaune. Keiner brachte so wirklich den nötigen Anstand auf, sich dem zu entsagen. Es war aber auch einfach zu komisch. So rannten über das ganz Geothermalgebiet haufenweise Senioren mit blauen Plastiktüten an den Füssen herum. Sie hatten die Dinger, die an Badekappen erinnerten, über ihre Schuhe gezogen. Zunächst machte uns das stutzig, und ich vermutete, dass hier Patienten aus einer Fußklinik unterwegs sein würden. Dann erfuhren wir den Hintergrund dieser Maßnahme. Die Busfahrer händigten jedem, der das Gefährt verlassen wollte, ein Paar von den Dingern aus. Das sollte wohl den Schlammeintrag im Bus verhindern, wenn die Gäste von ihrem Spaziergang im Matsch zurückkamen. 
"Guck Dir die ganzen Leute in Tütenschuhen mit ihren Vollpfostenantennen an", lachte Nervin. Ich kannte den Begriff "Vollpfostenantenne" bislang noch nicht, aber angesichts der vielen ausgefahrenen Selfi-Sticks war klar, was gemeint war. Ich konnte mich vor Lachen kaum noch einkriegen und beruhigte mich erst bei dem steilen Aufstieg, auf den Námasfjall. Neue Vokabeln lernen hatte mir selten so einen Spaß gemacht. Hier oben trafen wir nur noch vereinzelt andere Gäste. Das Gros zog es wohl vor, in der Nähe der Autos zu bleiben.



"Und jetzt gehen wir ins Mývatn-Nature-Bath", schlug ich nach unserer kleinen Wanderung vor. Der Parkplatz quoll ebenfalls aus allen Nähten. Die Warteschlange am Eingang wirkte nicht gerade einladend. Die Entscheidung, das ganze Wellness-Erlebnis auszulassen und lieber in das alternative einfache Schwimmbad im Ort zu gehen, wurde erleichtert, als wir über den Zaun schauten. Ist ja schön für die Isländer, wenn das Geschäft mit der Entspannung läuft, aber so läuft dass für mich mit der Entspannung leider nicht. Das alte Schwimmbad in Reykjahlið existierte allerdings nicht mehr, es hatte schon vor Jahren wegen der Konkurrenz am Berg oben den Betrieb eingestellt.
"Na dann nutzen wir den Rest des Tages zur Reparatur des Unimogs", bestimmte ich.
Richtig ortskundig war ich nicht, aber die vielen zerlegten LKW, die auf dem schlecht betonierten Innenhof an der Ringstraße standen, sahen irgendwie nach Autowerkstatt aus. Tatsächlich gab es auch ein kleines unscheinbares Schild, welches die alten völlig unbeleuchteten Gebäude beschrieb: "Karl Vidar Mývatnsveit". Ich spähte mit der Hand an der Stirn in die großen Fenster der heruntergekommenen Werkshallen und konnte zunächst kein Lebenszeichen entdecken, obwohl es Donnerstag Nachmittag war. Gegenüber gab es eine Tür, in der just in diesem Moment ein Mann verschwand. Er hatte sich große Mühe gegeben, mich zu ignorieren, obwohl ich mitten auf dem Hof parkte und winkend "Excuse me Sir" rief. Es regnete heftig, was ihn nicht zu stören schien und schon gar nicht davon abhielt, mir die Tür vor der Nase zuzumachen. Etwas irritiert hielt ich inne, riss mich aber dann doch zusammen und drückte ebenfalls auf die Klinke. Sogleich stand ich mitten in der Werkstatt. Der typische, mir vertraute Automobilgeruch lies mich erleichtert ein-und ausatmen. Meine Kleidung tropfte vom Regen, und in diesen Sekunden kam ich mir auch pudelnass und total deplatziert vor. Ich war hier eindeutig der Fremdkörper, der Eindringling, der Störenfried, der es gewagt hatte, das ihm zugedachte Territorium zu verlassen. Der Mechaniker, der es zuvor so eilig hatte, stand, mir abgewandt, schräg am Fenster, schaute schläfrig nach draußen und trank Kaffee aus einem Plastikbecher. Er schien mich wieder ignorieren zu wollen, was ich ihm aber diesmal nicht so leicht machen würde. "Good afternoon, Sir. I have a problem with my car", sprach ich ihn freundlich an. Er reagierte zunächst nicht, drehte dann den Kopf in Zeitlupe zu mir rüber und dann, wirklich kaum wahrnehmbar, wies er wortlos mit einem klitzekleinen Nicken in Richtung der Grube am anderen Ende der Halle. Darauf stand ein großer modifizierter Geländewagen, der von unten mit einer Stablampe beleuchtet wurde. Diese Lampe war neben der Fensterzeile die einzige Lichtquelle in dem großen Raum. Die Motorhaube des Toyotas stand offen, und der Zylinderkopf lag neben dem Fahrzeug. Sämtliche Einzelteile lagen schön in Montagereihenfolge aufgereiht auf ausgebreiteten Decken herum. An dem Auto arbeiteten zwei verschmierte Mechaniker. Der ältere der beiden, vermutlich der Chef bzw. "Karl",  sah kurz zu mir auf und schickte dann ebenfalls wortlos den jüngeren, großen Mann mit einer kleinen eindeutigen Bewegung zu mir rüber. Das ist ja wie im Film, dachte ich mir. Auf seine eigene Art wirkte das Ganze jedoch trist und traurig, und so wirklich lustig schien das Mechaniker-Dasein hier oben auch nicht zu sein. Dies war jedoch das echte Island, das war das graue Island, das leere Island, das einsame Island, das langweilige Island, für das sich niemand interessierte und das stets an der Depressionsgrenze entlangvegetierte. 10 Meter von der Ringstraße entfernt entdeckte ich diese authentische kleine Ecke, die von dem Touristentaufschwung total unberührt blieb. "Warum steht das hier in keinem Reiseführer?" fragte ich mich. Da kommen die Leute wegen der heißen Quellen, den Vulkanen, der Lava, den Pferden, dem Nordlicht oder gar wegen der dämlichen Papageientaucher angeflogen, hocken sich in so einen bescheuerten Wifi-Kuku-Camper, fahren einmal außen rum und laden Island als Hintergrund für ihre beschissenen Hackfressen-Selfis ins Interblöd. Dabei findet Island hier drinnen statt, hier drinnen herrschte die richtige Atmosphäre, dieser Laden war authentisch. Ich war derart besoffen, ja fasziniert von dieser Erfahrung, dass ich schon um einen Praktikumsplatz bitten wollte. "Mensch, hier mal einen Winter Autos schrauben, interessante Reparaturen machen und sich betrunken in der Dunkelheit herumfrieren", träumte ich. Da erinnerte ich mich daran, das draußen im Unimog drei Familienmitglieder auf meine baldige Rückkehr warteten und dieser Traum wohl bis auf weiteres einer bleiben würde.
"Can I help you?" fragte mich der Kerl, der mir inzwischen gegenüber stand. "Yes, my car seems to have a thermostat problem", meldete ich. Er stellte mir einige Fragen, und wir unterhielten uns über meine Beobachtungen, die mögliche Ursache und über Ersatzteilbeschaffung. Schließlich winkte mich der Chef, der inzwischen ebenfalls zu uns getreten war, in sein Büro. Er machte kein Licht und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Überall lagen aufgeschlagene Werkstatthandbücher diverser Fahrzeuge herum. Die Seiten hatten alle Ölflecken, und mehrere Stellen waren mit Textmarker-Stiften oder Kugelschreiber grob markiert. Ich erkannte den Toyota-Zylinderkopf auf einer der Seiten. Der Meister hatte viele Notizen gemacht und die Drehmomente an die Schrauben geschrieben. Offenbar machten die hier so ziemlich alles. Der ältere Herr mit den von der Arbeit gezeichneten Händen nahm einen kleinen Zettel und schrieb mir den Namen einer Firma in Akureyri auf: "Trukkurinn".
"My friend, 100 km down the road is the man for you", sagte er und hielt mir den Zettel hin. "Thank you, Sir" verabschiedete ich mich. Ich wollte diese Autowerkstatt noch ein wenig genießen und beeilte mich gar nicht mit dem Hinausgehen.
"Please, Sir I am looking for a job. I am a qualified automotive engineer and also an experienced car-, airplane- and truckmechanic. I ask no payment and I am willing to take on any work. I do not need accomodation since I am ready sleep on the shop floor" hörte nur der Regen, denn diese Worte verkniff ich mir, bis ich die Eingangstür hinter mir geschlossen hatte.
Etwas enttäuscht, weil ich weder den Job noch den Thermostaten bekommen hatte, stieg ich wieder ein. Ich erzählte Ulli von meinen Plänen und von meiner Begeisterung für den Ort. Sie lächelte nur schweigend und patschte mich tröstend auf den Kopf, den ich ihr hinhielt.
Wir fuhren zurück auf den Campingplatz."Reicht für heute", rechtfertigte ich die Entscheidung. Selli erwartete uns schon ungeduldig, sie war mit Fine zum "Michel aus Lönneberga" im Ullimog gucken verabredet. Zum Einschlafen gab es noch eine Folge Robbi, Tobbi und das Fliewatüt, eine deutsche Filmserie aus den 70er Jahren, die einfach ganz tolle Requisiten hat und wunderschöne Luftaufnahmen enthält. Draußen tobte der Sturm und ließ die Zelte der anderen Camper heftig flattern.

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18.08.2017
Wir hatten am Vortag mit Jochen und Nervin abgemacht, den Dettifoss anzufahren. Wir wollten ganz früh aufbrechen, um das Ereignis wenigstens einigermaßen menschenleer vorzufinden. Im dicksten Nebel rollten wir heimlich als erste vom Campingplatz und fuhren die Ringstraße ein Stück zurück. Ich wollte die Piste fahren, um wieder auf der "richtigen Seite" des Wasserfalls zu stehen. Daran konnte ich mich gut erinnern. Die Holperstrecke aber gab es nicht mehr. Stattdessen bogen wir auf eine perfekt ausgebaute breite und moderne Straße ab, die weitaus besser als die "Nummer 1" selbst aussah. Die Attraktion war bestens ausgeschildert, und ein riesiger Parkplatz mit Toilettenhäuschen und unzähligen Dixi-Klos kündigte das Ziel an. Auf dem großen Areal standen mindestens zehn illegale Übernachter, die trotz des offensichtlichen Verbotes, hier campierten. Die vielen aufgestellten Schilder, mit durchgestrichenen Wohnmobilen drauf, schienen niemanden zu interessieren. Die meisten waren noch am Pennen, und einzelne standen mit der Kaffeetasse in der Hand neben der geöffneten Heckklappe.
Trotz des dichten Nebels und des strömenden Regens machten wir uns alle sieben auf zur Wasserkante, die bisher nur akustisch zu vernehmen war. Das gewaltige Brüllen des Flusses wurde lauter und lauter. "Fine, jetzt zeige ich Dir gleich den größten Wasserfall in Europa", kündigte ich meiner fünfjährigen Tochter den Dettifoss an. "Das kann gar nicht sein, denn wir sind von Europa drei Tage mit dem Schiff weggefahren", antwortete sie wie selbstverständlich. Ulli prustete sofort los, und auch ich konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. "Doof ist die nicht, das steht fest", waren wir uns einig über den Durchblick der Kleinen. Tatsächlich sahen wir vorne am Abgrund keinen Menschen außer uns, aber den Wasserfall sahen wir auch nicht, jedenfalls nicht komplett. Die Sicht endete etwa in der Flussmitte. Die Gischt verschwamm nahtlos mit dem Nebel und den Wolken. Der Eindruck war daher eher mäßig. Auf dem Rückweg tauchten vor uns plötzlich ganze Schlangen von Besuchern auf, die uns entgegenliefen. Offenbar war 10 Uhr so eine Art Startzeit. Der Parkplatz war inzwischen rappelvoll, die Stimmen der Gäste übertönten den Wasserfall und wir zählten drei Reisebusse. "Auf nach Akureyri", riefen wir uns durch die heruntergekurbelten Fenster zu.
Die Scheibenwischer rannten während der Fahrt fast pausenlos. Mein Temperaturproblem zeigte sich wieder, obwohl der Motor diesmal auch nach langen Bergfahrten mit Vollgas und Höchstdrehzahl nicht mehr abblies oder kochte. "Das kapier ich einfach nicht", rief ich kopfschüttelnd zu Ulli hinüber. Sie gab die Adresse in ihr Smartphone ein und navigierte uns in die Einfahrt der Firma "Trukkurinn".
Hier brannte wenigstens Licht in dem kleinen Empfangsraum, der neben einem hohen Tresen auch eine Verkaufswand mit lauter LKW-Zubehör hatte. LED-Scheinwerfer schienen sehr gefragt zu sein. Zunächst war niemand zu sehen, doch dann trat aus dem Nebenraum ein riesiger Mann mit Bart und blauer Arbeitskombi herein. Ich erklärte mein Anliegen, und er rief auf isländisch nach seiner Kollegin. Die kleine kräftige Frau, offenbar die Chefin, trat lächelnd hinter die Theke und fragte: "Can I help you?" Der Mann kramte unterdessen weiter an seinen Kisten herum.
Ich erklärte ihr, dass ich ein Unimog-Thermostat benötigte. Sie öffnete sofort das EPC, den elektronischen Online Teilekatalog von Mercedes, und schaute mich forsch an. "What's your Vehicle Identification number?" Darauf war ich eigentlich nicht gefasst. Ich hatte nicht damit gerechnet, hier so schnell auf diese Art Hilfe zu bekommen.
Ich ratterte die 14-stellige Nummer aus dem Kopf herunter. Die Frau hatte sofort mitgetippt und knallte zur Bestätigung lautstark auf die Return-Taste.
"You know it by heart?" drehte sich der Hüne um und schaute mich überrascht mit hochgezogenen Augenbrauen, aber amüsiert an. Dann sagte er etwas auf isländisch, was für seine Kollegin bestimmt war. Ich konnte nur vermuten, was er meinte, aber es musste wohl so etwas wie  "Na, der kauft wohl öfter Ersatzteile oder was", gewesen sein.
Sie lachte auch, und nun starrten mich beide interessiert an. "I have worked on this truck for more than ten years", rechtfertigte ich mein Auftreten.
Das erhöhte meinen Sympathiefaktor gewaltig und nun wollten mir beide helfen. Angestrengt widmeten sie sich dem Terminal und ich achtete darauf, nicht auch noch mit auf den Bildschirm zu starren, obwohl ich die Oberfläche genau kannte. Die beiden verfügten über viel Erfahrung und Geschick und navigierten sicher auf den grauen Seiten herum. "I do have your part", sagte sie schließlich.
Ich konnte es gar nicht fassen, aber sie bestätigte die Teilenummer anhand ihrer Inventursoftware. Der Wikinger begann sofort, den Stapel Schachteln durchzuwühlen, auf den seine Chefin nun zeigte. Unterdessen unterhielt ich mich mit ihr und ließ sie wissen, wie begeistert ich von dem isländischen Teilebeschaffungssystem war und welche Erfahrungen ich zuvor schon gemacht hatte. Sie wurde sichtlich stolz und forderte ihren Kollegen auf, die gesuchte Schachtel nun endlich zu finden. Leider blieb die verschollen und sie war ob dieser unbestätigten Vorschusslorbeeren sichtlich enttäuscht. Ihre Stirn legte sich in Falten, und sie eröffnete die zweite Runde und tippte wieder an dem Computer herum. "It is the same as Actros", meldete sie schließlich. "Maybe you are lucky after all", kündigte sie den erhofften Erfolg an. Sie hob das Telefon ab und begann zu telefonieren. Die Dame hatte echt Haare auf den Zähnen und schien in dem lokalen LKW-Geschäft einen festen Stand unter den Männern zu haben. Schließlich wendete sie sich wieder an mich: "My friend Gudini has the part." "Where can I find him?" fragte ich. "He owns the shop next door. Just walk over there", sagte sie und zeigte in die Richtung. Ich bezahlte das Teil bei Ihr, sie würde dann mit ihm den Rest klären. Hocherfreut bedankte ich mich und wurde mir einem zweistimmigen "Good Luck" verabschiedet.
Ganz angefixt lief ich sogleich rüber zu der großen Buswerkstatt und begann, den Eingang zu suchen. Da  fuhr relativ rasant ein Jeep auf mich zu und kurbelte die Scheibe herunter. Der Fahrer guckte wortlos über seine Brille und musterte mich. "Excuse me Sir, I am looking for a gentleman named Gudini", sagte ich schnell. Dabei achtete ich besonders darauf, den Namen exakt so auszusprechen, wie die Dame nebenan es tat. "Thats me", erklärte er. "Are you the one with the Thermostat?"  Ich hatte das schnelle "Yes" noch nicht ausgesprochen, da warf er mir das verpackte Ersatzteil durch die Scheibe zu. Ich fing es dankbar auf, er grüßte und fuhr davon. Etwas ungläubig stand ich nun auf dem Parkplatz und betrachtete das kleine Tütchen.
"Du, ich hab das Teil bekommen. Die haben das echt wieder hingekriegt", hielt ich Ulli meine Beute unter die Nase. "Mensch prima, siehst du, Isländer finden immer einen Weg", freute sie sich."Jetzt fahren wir erst mal ins Laug", schlug ich vor. Das Schwimmbad lag mitten in der Stadt, oberhalb eines kleinen Weihers, der offensichtlich so eine Art Stadtpark zierte. Beides wirkte irgendwie deplatziert und gekünstelt. Die ortsansässigen Enten hatten die karge und struppige Wiese gehörig vollgeschissen, und für meinen Geschmack fand sich auch zuviel Beton außen herum.
Im Bad herrschte die bekannte Geschlechtertrennung, was mich mit Felix auf dem Arm in der Männer-Umkleide verschwinden ließ. Wie immer waren die Schuhe schon im Flur auszuziehen. Das hielt den Dreck draußen und ich fand das System toll. Im Inneren befanden sich Kinderstühle mit Haltegurten, damit sich die Erwachsenen in Ruhe umziehen konnten. Selbstverständlich fand sich auch das berühmte Schild, welches die Körperreinigung vor dem Eintreten genauestens beschrieb. Die Einhaltung dieser Regeln überwachten drei Bademeister, die mit verschränkten Armen alle Gäste kritisch beobachteten. Gut gelaunt achtete ich peinlich darauf, nichts anbrennen zu lassen. In der Vergangenheit gemachte Fehler würde ich diesmal nicht wiederholen. Ich setzte Felix nackt in einen weiteren Stuhl, der in der Dusche stand, und wusch mich streng nach Vorschrift. Eine Gruppe Amerikaner hatte sich die Badehosen schon am Spind angezogen und marschierte flott auf den Ausgang zu. "Please shower without clothing", wies einer der Aufseher sie sogleich zurecht. Offensichtlich wollten sich die prüden Gesellen in der Öffentlichkeit nicht vollständig entkleiden und zierten sich. "Come on it is a man shower", forderte der zweite Bademeister sie auf. Zögernd und nahe an der Wand stehend entledigten sie sich langsam ihrer Kleidung. Dann ließen sie sich vorwärts, an die Fliesen gelehnt, das Wasser über den Kopf laufen. "Use the soap", forderte der dritte Bademeister, und widerwillig machten die Männer schließlich auch dies.
Eigentlich cool, wie die ihre Regeln hier konsequent durchsetzen, dachte ich mir. Da muss sich einfach jeder die Kerbe spülen, bevor die anderen was davon haben...
Das Badeangebot war spitzenmäßig und für Kinder perfekt geeignet. Nach drei Stunden konnten wir nicht mehr und holten uns nach isländischer Tradition noch von den labberigen Hotdogs vom Imbisswagen vor der Türe. Das machte die isländische Schwimmbaderfahrung erst authentisch.
Übernachten wollten wir in Hamrar, dem großen Campingplatz etwas außerhalb, am Hang von Akureyri. Besonders die Stellplätze am Waldrand, ja tatsächlich Waldrand, sind dort hübsch und sogar etwas abgelegen. Zudem würden wir dort auf einer gemähten Wiese stehen, was meine Schraubaktionen immer erleichtert. Damit wollte ich jedoch bis zum nächsten Tag warten, denn heute galt es, was Schönes zu kochen. Ulli und ich hatten eingekauft und schnippelten zusammen in unserer Küche das Abendessen. Jochen und Nervin würden demnächst eintreffen, und wir hatten vor, sie einzuladen. Die Lammkoteletts brutzelten schon duftend in der Pfanne, als der rote Feuerwehr-Unimog neben uns parkte. "Mensch, bei Euch riecht es aber gut", rief Nervin zur Begrüßung. "Na dann kommt doch gleich rüber", erwiderte Ulli winkend. Jochen erklomm kurz darauf mit einer Flasche Rotwein unter dem Arm die Treppe. Die beiden Mädchen tollten draußen herum und schienen sich über das Wiedersehen mächtig zu freuen. "Die kriegen nachher noch Reis mit dem Fond", entschieden wir. Die Gläser klirrten, wir besprachen die kommenden Tage und freuten uns über unsere schöne gemeinsame Zeit. Plötzlich kam Josefine hereingeklettert, schnappte sich in Windeseile ihren Bogen mit Pfeilen und rannte blitzschnell wieder auf die offene Tür zu. Sie stolperte mit einem lauten Krachen, und wir alle hörten den dumpfen Aufprall des kleinen Mädchens unten auf die Wiese. Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie wieder Luft bekam und aus Leibeskräften schrie. "Mann, das, arme Ding, die hat es wieder zerlegt", kommentierte ich das Geschehene mit Augenrollen. Ulli sprang vom Tisch auf und hechtete ebenfalls nach draußen, um unsere Tochter zu trösten. Josefine wird in solchen Situationen öfter zur "Drama-Queen", aber beruhigt sich meistens bald wieder. Diesmal jedoch schrie sie ganz herzzerreißend und wollte gar nicht mehr aufhören. "Mist, die hat sich wohl richtig weh getan", stellte ich fest. Jochen und Nervin scannten die Situation und wir brachen das gemeinsame Dinner ab.
Fine weinte nach gut einer Stunde immer noch und hatte einen Schock erlitten. Zitternd und mit verdrehten Augen wimmerte sie kreidebleich in den Armen ihrer Mutter. "Ich will heim, ich will zum Doktor Hachmann, dass der mich wieder gesund macht", jammerte sie. Jochen und Nervin erkundigten sich mehrfach nach ihr. "Wir warten jetzt erst einmal ab", ließ ich sie wissen. "Morgen schauen wir, was wir machen", verabschiedeten wir uns.
Ulli und ich betasteten vorsichtig das kleine blasse Ärmchen und konnten keine Fehlstellung und auch noch kein Hämatom feststellen. "Ob der gebrochen ist?"  "Vielleicht ist er auch nur verstaucht", mutmaßte Ulli. Zusammen schienten wir das Handgelenk mit einem Esslöffel und einer Heparin-Mullbinde.
Unser Mädchen war trotzdem ganz verzweifelt und weinte in regelmäßigen Abständen. Felix stimmte dann aus Solidarität immer mit ein. Dann packten wir Josefine und gaben ihr ein Schmerzzäpfchen. Das verschaffte ihr eine halbe Stunde Ruhe. Sofort verstand ich die Vorzüge der rektalen Verabreichung von Medikamenten bei Kindern. Deren Kooperation ist systembedingt nicht unbedingt erforderlich, wie das bei oral verabreichten Medikamenten der Fall ist.
Sie war von ihrer Mutter nicht wegzubewegen und so überließ ich ihr für die Nacht meinen Schlafplatz. Ulli erzählte ihr die ganze Nacht lang Geschichten zur Beruhigung. Ich versuchte unterdessen, in Josefines kleiner Koje zu schlafen .

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19.08.2017
Unser Töchterlein war wie weggetreten und hatte immer noch starke Schmerzen, sie blieb im Unimog und weinte praktisch den ganzen Vormittag. Ulli hielt sie ständig im Arm und redete ihr gut zu. Als Felix seinen Mittagsschlaf machte, ging ich vor die Tür, um die nötige Schraubaktion durchzuführen. Beim letzten Tanken glaubte ich, Luft in den Tank zischen zu hören, was auf eine verstopfte Entlüftungsleitung schließen ließe. Das ist eine Krankheit des Unimogs und mein alter ersetzter Tankgeber hatte das Problem auch. Um an die Leitung ranzukommen, musste das Reserverad runter. Außerdem hatte ich glücklicherweise den Thermostaten bekommen, den ich ebenfalls sogleich einbauen wollte. Mit geöffneter Motorhaube und ausliegendem Werkzeug erregte unser Karren wieder einmal große Aufmerksamkeit. Alle Männer, die hier mehr oder weniger zufällig vorbeikamen, blieben stehen und sprachen mich an. So plapperte ich mehr als ich schraubte, was im Urlaub ja irgendwie Sinn der Sache ist. Großes Lob erhielt ich immer für den Aspekt, alles selbst gebaut zu haben und nun mit der Familie unterwegs zu sein. Die Kerle, ein Schwede, ein Amerikaner und zwei Russen, waren allerding selber auch Autobastler und erzählten ebenfalls von ihren Projekten. Meine Tankentlüftung funktionierte einwandfrei, und auch der Thermostat war ruckzuck eingebaut.
Jochen, Nervin und Selli wollten noch nach Snæfellsness und bereiteten die Weiterreise vor. Schließlich verabschiedeten sie sich fürs Erste, denn ein Wiedersehen nach der Klärung unserer neuen "Umstände" hatten wir natürlich geplant. Meine Frau war von der eher unschönen Nacht und von dem nicht viel besseren Vormittag völlig geschafft und bat um Entsatz. "Nimm doch einfach mal die Fine mit nach draußen, damit ich, während der Felix noch schläft, auch mal schlafen kann", bat sie mich. Ich packte daraufhin meine Tochter, die von der jüngsten Entscheidung ihrer Eltern gar nicht angetan war und mit ausgestrecktem Arm immer nur "Mama, Mama, Mama" heulte. Zum Glück hatte auch sie wegen des Schlafmangels wenig Energiereserven und musste sich letztendlich fügen. Wir liefen auf dem kleinen Weg hinter dem Campingplatz ein Stück zu dem kleinen Bach, der hier ganz zauberhaft im Sonnenschein durch eine bunte Wiese glitzerte. Dort hockte ich mich auf einen großen Stein und nahm mein wimmerndes Mädchen auf den Schoß und hielt es fest im Arm. Sie brauchte eine halbe Stunde, um sich zu beruhigen. Endlich konnte ich wieder ansatzweise mit ihr sprechen. Wir redeten nur über die unmittelbare Umgebung und spielten das Pilzspiel. Wer mehr Pilze entdecken konnte, der hatte gewonnen.



Schließlich konnte Fine wieder laufen, und aus der Ferne hörten wir ihren kleinen Bruder schreien. "Na, da gehen wir mal zurück", bestimmte ich.
Ulli wollte unbedingt noch einen Stadtbummel machen. Das Licht war traumhaft, und eilig packte sie ihre Kamera. Wir hielten Fine für fähig, das durchzustehen. Außerdem musste sie endlich etwas essen und bestand auf "Hühnchenschnitzel". Das wollten wir ihr natürlich nicht verwehren, da sie seit zwei Tagen das Essen verweigerte. "Hauptsache, die isst endlich wieder", sagte ich.
Das kleine Hamburger-Restaurant am Hafen kannten wir schon von unserer Tour 2012. Dort würde es Hähnchenschnitzel geben, schätzte ich. "Damals waren wir mit Tom und Andrea hier", erinnerten wir uns, vor der Eingangstür stehend. Wir vermissten alle beide und wünschten uns, sie würden jetzt bei uns sein. Tatsächlich fanden wir was für Josefine, die sogleich gierig mit der Gabel auf das Essen losging. Ich wechselte einen kurzen Blick mit Ulli, und auch sie war froh über jeden Brocken, der in dem Kind verschwand. Felix aß überall ein wenig mit und freute sich. Ich fand vor allem die "Free-Refills" mit Pepsi-Max gut, was mir einen endgeilen Koffeinflash bescherte.
Anschließend schlenderten wir durch die sonnenbeschienene Stadt, gingen in die ganzen Tourigeschäfte, den Bücherladen, schauten uns die schönen Seefahrervillen an und genossen den Ausblick von der Kirche aus. In der Apotheke besorgten wir noch reichlich Schmerzmittel für die Nacht. Fine hielt natürlich nicht lange durch, was uns alsbald wieder am Unimog ankommen ließ. "Jetzt kommt es drauf an", kündigte ich die bevorstehende Probefahrt des Thermostaten an. Die Fahrt in die Stadt hinein, die wir zuvor machten, ging nur bergab, und da kam der Motor gar nicht auf Temperatur.
Leider bestand das Problem fort, die angezeigte Temperatur war immer noch viel zu hoch. Ich hatte das Ersatzteil demnach völlig umsonst besorgt. Etwas frustriert über diese neuen Erkenntnisse und über das Unvermögen, diesen ärgerlichen Fehler endlich abzustellen, wendete ich mich an das Unimurr-Forum. Dort bin ich seit Jahren aktiv, kenne viele Teilnehmer persönlich, und einige nenne ich dabei auch Freunde. Ich hoffte einfach, hier würde ich technischen und mentalen Beistand erhalten. In der Tat bekam ich sofort Antworten. Dabei half mir vor allem der andere Standpunkt. So gestand ich mir nämlich nie ausreichend ein, dass sich der ganze Spuk mit einer schlichten Falschmessung erklären lässt. "Ganz genau, was ist wenn einfach nur die verkackte Anzeige einen Hau hat" sprach ich laut aus, als ich in meinen Computer schaute. Ulli war etwas irritiert, hielt das aber auch für möglich. "Weißt Du, was ich machen werde? Ich schraube einfach von meinem Getriebewächter den Öltemperaturkanal an den Wasserkreislauf", kündigte ich mein Vorhaben an. "Die Öltemperatur blieb all die Jahre sowieso konstant", rechtfertigte ich mich.
"Na das war die Wassertemperatur aber auch", wand meine Frau ein. "Trotzdem, das werde ich morgen gleich machen, sobald es wieder hell ist", beharrte ich.
"Und wenn Fine morgen immer noch solche Schmerzen hat, dann gehen wir ins Krankenhaus", beschlossen wir gemeinsam.



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20.08.2017
Fines Arm zeigte nach dem Abnehmen ihres Verbandes ein typisches Bruchhämatom kurz neben dem Handgelenk. "Der ist doch gebrochen", stellte ich fest. "Mensch, das arme Ding, die hat kein Drama gemacht, die war tapfer", sagte Ulli. "Gleich nach dem Frühstück fahren wir rüber ins Hospital." In zwei Minuten hatte ich den Temperaturfühler umgebaut und saß abfahrbereit im Fahrerhaus. Josefine setzten wir nach vorne, um sie besser im Blick zu haben. Sie blieb erstaunlich ruhig und hatte die Nachricht, dass ihr Arm nun doch gebrochen sei, mit Fassung aufgenommen. Wir fragten an der Rezeption des Campingplatzes nach und erkundigten uns, ob das Notaufnahmeprozedere von Krankenhäusern in Island genau so abliefe, wie wir das erwarteten. Wir wollten eben keine Fehler machen oder durch irgendeine Unwissenheit den Betrieb stören. "No, just go there, they will take care of you", bestätigte uns das junge Mädel. Also fuhren wir mit dem Unimog auf das Krankenhausgelände, folgten den Schildern "Emergency" und parkten auf dem ausgewiesenen Parkplatz. Dann packten wir unsere Kinder und gingen durch die Tür. Es war Sonntagmorgen, und außer uns warteten keinen Patienten. "Good morning", sprach uns die diensthabende Schwester in dem kleinen Empfangsschalter an. Ich erklärte ihr den Fall, und sie verständigte sofort einen Arzt. Dann kümmerten wir uns um den Papierkram, was völlig problemlos ablief. Sie interessierten sich nicht für die Auslandskrankenversicherung, die wir vorsorglich abgeschlossen hatten.
Bei Josefine überwog nun die Neugierde, und ihre Mama hinter sich herziehend, verschwand sie mit der jungen Ärztin hinter einer Glastür. Felix und ich warteten eine Weile ab und verkrümelten uns schließlich in den Unimog. Nach gut einer Stunde kam Fine mit einem Gipsverband am Unterarm heraus. In der anderen Hand hielt sie ein Eis, welches sie direkt von der Ärztin im Krankenhaus bekommen hatte. "Hier gibt es das Gipseis für die Kinder schon im Krankenhaus", freute sich Ulli. "Du mußt mir jetzt aber genau erzählen, was die gemacht haben", forderte ich Fine auf. "Die Ärztin war sehr nett zu mir und es hat gar nicht weh getan", verkündete sie stolz. "Und ich muss morgen nochmal kommen, weil dann erst die bessere Maschine geht", fügte sie hinzu. "Die haben noch ganz einfach geröntgt, weil Sonntag ist und das große, moderne Röntgengerät erst Montag wieder in Betrieb ist", klärte mich Ulli auf.
"Wir fahren jetzt zurück auf den Campingplatz und ruhen uns für den Rest des Tages aus", schlug ich vor. Fine und Ulrike machten einen ausgiebigen Mittagsschlaf. Ich packte Felix währenddessen auf die Schultern und drehte mit ihm eine Runde über die Gamli-Hütte, an der Mountainbike-Strecke vorbei, über die hohen Felsen, durch den Zauberwald zurück nach Hamrar. Ulkig fand ich den beleuchteten Weg am Campingplatz entlang, der wohl so etwas wie ein Spazierweg für die Städter sein sollte. Der war Kilometer von Akureyri entfernt und von einem Wald umgeben, der auf der Insel seinesgleichen sucht. Zum Abendessen machten wir die besten Pferdesteaks, die ich je gegessen hatte. Danach wollte ich mit Josefine auch nochmal spazieren gehen. Mich interessierte, was in ihr vorging und wie sie die Sache weggesteckt hatte.
Ich erklärte ihr, daß sie nun auch eine "gebrochener-Arm-Geschichte" hat, die obendrein viel cooler war als meine. Ich musste meiner Tochter in den vergangenen Jahren mehrmals zum Einschlafen von meinem Armbruch auf dem BMX-Rad erzählen. Sie wollte aber lieber das Pilzsuchspiel spielen und gewann prompt mit dem Endstand 32 zu 25. Wir waren nebenbei gut zehn Kilometer marschiert, und da wusste ich, die wird wieder. Im Abendlicht machte ich folgende Aufnahme.


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21.08.2017
Die Nacht verlief dank vorsorglich verabreichter Schmerzmittel gut. Diesmal war es Felix, der wegen seinen durchbrechenden Backenzähnen zweimal lautstark krakeelte.
So bewahrten wir uns das Schlafdefizit, unter dem junge Eltern häufig leiden. "So jung sind wir nun auch nicht mehr", meckerte ich beim Frühstück. Felix forderte vehement sein Skyr ein, den ich nun allmorgendlich mit ihm teilte. Ganz pünktlich nahmen wir den neuen Termin im Krankenhaus wahr. Am Montagmorgen herrschte im Gegensatz zum Vortrag Hochbetrieb. Endlich kam auch Josefine an die Reihe, und gerade, als ich mich nach Stunden nach dem Verbleib meiner Tochter erkundigen wollte, da spazierte sie in Begleitung einer weiteren jungen Ärztin aus der Glastür. Sie strahlte über das ganze Gesicht und präsentierte ihren neuen rosafarbenen Gipsverband. "Guck mal, Papa, ich durfte mir sogar die Farbe aussuchen. Es gab rot oder rosa", hielt sie mir den grell leuchtenden Unterarm hin. Ich kniete nieder und bestaunte das Kunstwerk aus der Nähe. "Mensch, der sieht ja klasse aus", musste ich zugeben.
"We made it", unterbrach mich eine bekannte Stimme. Ich blickte auf und erkannte den Holländer mit dem VW T6 von der Dyngjufjalladalur-Piste. Er hielt mir grinsend die Hand hin, ich stand auf und begrüßte ihn. "It was rough, but we got all the way to Askja", wiederholte er. Ich gratulierte ihm, war aber durch die Ereignisse der letzten Tage irgendwie nicht in der Laune, über irgendwelche Fahrerei zu sprechen. Seine Frau hatte wohl einen gebrochenen Fuß, bei dem der Verband entfernt wurde. Er wünschte Fine gute Besserung, verabschiedete sich und verschwand im Empfang.
"Der Gips muss 3 Wochen dran bleiben", klärte mich meine Tochter auf. "Was machen wir denn jetzt?" wand ich mich an meine Frau. "Wir fahren zu der niedlichen Torffarm, ich möchte Fine die Häuschen mit den Grasdächern zeigen", entschied Ulli.
Die Kinder waren vergnügt und giggelten während der Fahrt nach Glaumbær hinten im Aufbau herum. Ich hielt mit meiner Frau im Fahrerhaus Händchen und seufzte: "Das war ja ein richtiges Abenteuer." "Die ist fünf, und so was passiert eben", erklärte sie. Sie blieb in solchen Situationen immer etwas gelassener als ich.
"Rate mal, wen ich wieder getroffen habe?" fragte ich sie. "Den Holländer von unserer Steinholpertour", wusste sie Bescheid. "Der hat das echt gepackt da hoch."
Wir sprachen noch kurz darüber und waren uns einig, der hatte eindeutig die "4 x 4 Trophäe Island 2017" verdient bzw. gewonnen. Der brauchte keine AT-Reifen, keine Höherlegung und keinen Schnorchel. Der brauchte vermutlich nur ein Päckchen Kaugummi und seine Sonnenbrille. Das fanden wir im nachhinein supercool, und
ich konnte es nicht verhindern, darüber zu lachen. "Wie albern wir zwei Nasen mit unseren dicken Unimogs ausgesehen haben mussten." Und dann hatten wir auch noch Spukgeschichten von der Piste erzählt. "Auch wenn der uns tüchtig vorgeführt hat mit seinem T6-Synchro, ich würde die Strecke damit nicht fahren, auch nicht mit dem Wissen, es geht ja", holte ich uns zurück. "Ich war froh, nicht in so einem kleinen Bus zu sitzen", fügte Ulli hinzu. "Beim Unimog wusste ich immer, der kann das."



Auf dem Parkplatz des Museumsdorfes standen nur wenige Autos. Sogleich nutzten wir unsere Chance und kauften die Eintrittskarten. Für Kinder ist ganz Island praktisch umsonst. Ich musste darauf achten, Felix nicht gegen die niedrigen Dachbalken zu stoßen, als ich ihn durch die kleinen Räume trug. Die Zimmer zeigten jeweils die antiken Gegenstände und Werkzeuge, die je nach Zweck dazu gehörten. "Guck mal Mama, ein Waschbrett, wie mein Bauch", plärrte unsere Tochter plötzlich. Die anwesenden Deutschen auf dem Flur hatten es gehört und lachten über den Vergleich unserer Tochter. Wir mussten auch schmunzeln, da wir unser Muskelkindchen so kannten. Der Weg führte um die Häuser herum und gab den Blick von oben auf den Parkplatz frei. Da ließ sich doch tatsächlich so eine Tussi, auf dem Trittbrett des Ullimog posierend, fotografieren. "Was macht denn die da?" wies ich meine Frau auf die Beobachtung hin. "Is ja schon dreist", meinte sie. Dann hielt ein Bus auf dem Parkplatz und alle Insassen strömten heraus. Die meisten machten tatsächlich zuerst ein Bild von unserem Fahrzeug, bevor sie sich in der Gegend verteilten oder einen Kaffee an der kleinen Imbissbude kauften.
Richtig antizyklisch ließen wir uns von der ankommenden Masse wieder in unser Auto treiben und fuhren in der einsetzenden Dunkelheit über die F756 nach Süden.
Es war herrlich, diese trostlose, leere und unendlich offene Gegend im Sonnenuntergang zu erleben. Unsere zwei kleinen Scheinwerfer leuchteten nur schwach die schmale Straße aus, die durch ein "Dinosauriertal" führte. So nannten Josefine und Ulli die Landschaft, die dunkel und gewaltig vorbeiflog. Mitunter boten sich Ausblicke, die Gänsehaut machten. Jetzt wurde mir klar, warum die ganzen Geländekarren immer so eine Batterie Scheinwerfer auf dem Überrollbügel hatten. Dafür gab es tatsächlich eine Anwendung, das nächtliche Fahren auf einer Piste. Ich dachte immer, das wäre nur zum Angeben. Tatsächlich könnte jetzt mehr Licht schon ein wenig helfen. "Ich finde es dunkel schöner", antwortete Ulli, als ich den Gedanken mit ihr teilte.



Die höchste Aufmerksamkeit aber hatte heute der Getriebewächter, der praktisch immer auf den "neuen" Kühlmittelkanal eingestellt blieb. Sehr zu meiner Beruhigung zeigte das LCD eine völlig konstante Temperatur von 82°C an. Wenn es bergab ging, fiel diese sogar auf 75°C. Selbst bei steilen und langen Anstiegen, die wir mit Vollgas in einem kleinen Gang nahmen, hielt der Unimog nun fast lächerlich genau die 82°C, die auch auf beiden Thermostaten eingeprägt stand. Die Anzeige im Kombiinstrument machte weiterhin ihre Kapriolen. Es handelte sich demnach eindeutig und nachweislich um einen Messfehler bzw. ein Anzeigeproblem. Mit der neuen Erkenntnis, nun doch kein ernstes Motorproblem zu haben, brummte ich durch diese schöne Nacht. An der Hütte Bugaskali bogen wir ab, weil die Finsternis inzwischen alles beherrschte.
Die Schutzhütte stand offen, aber es fand sich nicht die übliche Sammelbox zum Entrichten der Übernachtungsgebühr. "Dann müssen wir wohl illegal übernachten", sagte ich.
"Wir lassen in der Hütte etwas zurück, was ungefähr der Gebühr von 700 Kr entspricht, und Du schreibst das halt nicht groß und breit ins Internet", schlug Ulli vor. "Mach ich", sagte ich noch und füllte das kleine Regal in der Hütte mit Bohnenkonserven. Darüber freuen sich die Wanderer, denn so schwere Kost schleppen die hier nicht raus.
Die Stille erschlug mich, als ich wieder vor die Tür der Hütte trat. Das Nordlicht kämpfte sich schwach durch die teilweise geschlossene Wolkendecke und tauchte die Szenerie in ein ganz schwaches Grün. Selbst jetzt war die Rotte Schwäne, die auf dem nahen See in gut einem Kilometer Entfernung umherschwamm, bestens auszumachen. Immer wenn die Tiere einen kleinen Laut von sich gaben, konnte man es aus der Ferne hören. Eine irre Stimmung, die von der warmen Gemütlichkeit abgelöst wurde, die kurz darauf der Unimog bot. Am Tisch bastelte ich noch eine Weile mit Fine an ihrem Tagebuch, welches sie konsequent führte. Wir befestigten Eintrittskarten und ihre Polaroid-Fotos mit bunten Klebestreifen auf dem schwarzen Tonpapier des Buches. Zum Einschlafen guckten nur wir beide die letzte Folge von "Robbi Tobbi und das Fliewatüt".


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22.08.2017
Endlich gewährten uns die Kinder mal ansatzweise so etwas wie "Ausschlafen". Wir waren fertig und kamen nur ganz langsam in die Gänge.
"Heute passiert nicht viel, maximal ein kleiner Spaziergang um den See", besprachen wir beim Frühstück. Anschließend lud ich mir Felix in die "Manduca", unseren Babytragegurt, nahm Fine an der gesunden Hand und wir stapften los. Die Schwäne des Sees hielten sich in einem Pulk in der Mitte, wohl um von uns den größtmöglichen Abstand zu wahren. Die Sonne wärmte uns, der Wind vertrieb gerade so die lästigen Mücken, die hier jedes Gewässer umschwirrten, und ein echtes Islandfeeling kam auf. "So will ich weiter unseren Urlaub verbringen", meldete Ulli sich schließlich. "Ich auch", unterstützte sie ihre Tochter. Felix schlief und reagierte auf seine Art auf die sich breit machende Entspannung.
Gemütlich tuckerten wir am Spätnachmittag in Richtung Kjörlur, der wir ein Stück weiter folgten. Natürlich hielt ich an der berühmten Blanda-Furt an und schaute nach dem Wasserstand dieses in Offroad-Kreisen gefürchteten Flusses. Er war nun mal das erste Hindernis zu der angeblich wunderschönen Hofsjökull-Nordpassage, die ich gerne mal fahren würde. Dieser sonnige und warme Tag im August sollte eigentlich für ordentlich Wasser in dem breiten Gletscherstrom sorgen. Genau verstand ich den Mechanismus aus Sonnenscheindauer, Temperatur, Windrichtung, Schneehöhe und Jahreszeit nicht, der den Fluss mitunter anschwellen lässt.
Die Blanda gab sich gefühlt nur "halbvoll" und "handzahm". Ungläubig blickte ich rüber zum anderen Ufer. Im gleißenden Nachmittagslicht strahlte der nahe Gletscher schneeweiß. "Komisch, aber heute könnte das sogar gehen", sprach ich laut aus. Die grauen Wellen schienen an diesem Tag kein wirkliches Hindernis zu sein. Nachdenklich trottete ich zum Unimog zurück, der an der F35 wartete.
Unterhalb der Abzweigung zum Kerlingarfjöll sahen wir einen gelben Unimog, der sich langsam die wellige, ausgefahrene Piste hochrappelte. Spontan hielten wir an und gaben uns die Hand. Ich begrüßte noch einen "Jochen", der mir auch schon auf meine Anfrage im Forum geantwortet hatte und zur Überprüfung der Temperatur sein Infrarotthermometer anbot. Er erwies sich als erfahrener Wüstenfahrer, der schon viele Jahre und viele Kilometer im Sand verbracht hatte. Das kurze Treffen endete allerdings bald, da wir noch unseren Campingplatz an der Hütte Hvitárnes erreichen mussten.
Dort teilte sich mit uns nur ein weiteres Fahrzeug den staubigen, kleinen und schief hängenden Parkplatz. Es handelte sich um das bekannte deutsche Paar mit dem kleinen Baby, die wieder einmal unsere Nachbarn wurden. In Island schien sich wirklich jeder immer zweimal zu treffen. Josefine ging völlig selbständig in der Umgebung spazieren und buddelte im Sand herum. Felix krabbelte laut juchzend über das Moos. Laut "Aurora Forecast" sollte es heute Nacht tolles Nordlicht geben. Die Sonnenintensität versprach, hoch zu sein, und die Wolken zeigten sich nur spärlich. Ich stellte meinen Wecker auf 2 Uhr und versprach Josefine, sie zu wecken. Sie wollte unbedingt dass "Himmelsleuchten" sehen. Ich hatte ihr schon "Jim Knopf und die Wilde 13" vorgelesen, wo es das Meeresleuchten gab. Das hatte ja auch einen magnetischen Ursprung und war auch grün. Folglich nannten wir die Nordlichter fortan "Himmelsleuchten". Mir gefiel aber die Wikinger-Interpretation der Erscheinung am besten. Damals glaubte man, es handle sich um die Spiegelung der Helden, die an einem anderen Ort in der Schlacht standen. Die Reflexionen des Sonnenlichtes auf ihren Rüstungen wurde dabei an den Himmel geworfen. Offenbar wussten die damals schon, dass auf der Erde an verschiedenen Orten gleichzeitig Tag und Nacht herrschte.
Tatsächlich gab es schönes Nordlicht, welches aber nur einen schwachen Streifen über den nächtlichen Sternenhimmel zauberte. Das hatte ich in Norwegen schon deutlich intensiver gesehen. Leider kannte ich mich mit Ullis Kamera auch nicht ausreichend gut aus, um gute Langzeitfotos zu machen. Beide Mädchen schliefen nämlich tief und fest und ich vermochte sie partout nicht zum Aufstehen zu bewegen.



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23.08.2017
So richtig Lust, jetzt das kleine, ausgenudelte Stück F35 wieder nach Kerlingarfjöll zu rappeln, hatte ich nicht. Es fühlte sich an wie etwas Nerviges, was es zu erledigen galt. Aber eine Alternative existierte nicht, denn wir hatten auf dem Campingplatz mit Siggi, dem roten Feuerwehr-Unimog eine Verabredung.
Ich füllte noch mit einer kleinen 5-l-Gießkanne unsere Wasservorräte auf, bevor wir in der Mittagssonne aufbrachen.
Als wir wenig später von der Anhöhe hinunter auf die Wiese im Kerlingarfjöll blickten, stand da nur ein einziges Fahrzeug, der gelbe Unimog, den wir gestern auf der Piste trafen. Offensichtlich hatten die Unimogs andere Reisegewohnheiten als der Rest vom Schützenfest. Alle anderen befanden sich wieder auf Tour. Ich packte Josefine und Felix und bestimmte, jetzt in den kleinen Pool, der sich in einem engen Canyon befindet, zum Baden zu gehen. "Ich mache derweil einen schönen langen Mittagsschlaf", entschied Ulli. Also spazierten wir nur zu dritt von dannen. Wir fanden das Becken wirklich hübsch angelegt vor. Obendrein hatten wir den Badespaß im Sonnenlicht für uns ganz alleine. Felix plantschte wieder ausgiebig, und Fine achtete darauf, ihren Gips nicht nass zu machen. Herrlich, mit seinen Kindern so etwas erleben zu können. Das klare, warme Wasser rauschte aus einem dicken rostigen Eisenrohr senkrecht in die Höhe. Dabei bildete sich eine konstante schimmernde Blase über dem riesigen Flansch. Über eine Steinkante rann das Wasser in den kleinen Bach, der unterhalb des Holzsteges in dem Tal entlangführte. Nach fast zwei Stunden im Wasser fühlten wir uns vollends durchgeweicht und müde. Aus dem Tal kündigten ein paar Stimmen das Ende unserer Einsamkeit an, und so packten wir zusammen und überließen den drei jungen Französinnen das Tal. Die Kinder fielen, am Unimog zurückgekommen, ins Koma. Meine Frau holte die Klappstühle heraus, und wir setzten uns in die warme Sonne, um endlich mal Zeit für uns zu haben. Wir hielten Händchen und erzählten lange über unseren bisherigen Urlaub und unsere weiteren Pläne.
Ich tapste barfuß herum, trug nur meine kurze Hose. Ulli schnitt mir dann noch geschwind die Haare, weil ich wohl ausnahmsweise mal stillsaß. Zum Abduschen legte ich mich einfach kurz samt Hose in den kalten Bach. Die Sonne würde noch lange genug scheinen, um alles wieder zu trocknen.
Jochen, der Afrikafahrer mit dem gelben Mog, rannte ebenso spärlich bekleidet herum. Seinen ultrabraungebrannten Körper ließ er von der Sonne bescheinen. Er beobachtete mich und ging auf mich zu. Nett unterhielten wir uns entspannt über unsere Reisen. Der Mann hatte echt tolle Geschichten parat. Dann sprachen wir natürlich noch über die Unimogs. 
Ein oberer Simmering seiner Vorderachse leckte etwas, und auch unser linker vorderer Stoßdämpfer schwitzte nach einem Pistentag immer.
Schließlich krabbelte Josefine verschlafen die Eingangstür herunter und legte sich auf den Schoß ihrer Mama, obwohl ich im Klappstuhl genau daneben saß. "Mein Baby", kommentierte Ulli die Entscheidung unserer Tochter zufrieden. "Ich vermisse Selli", jammerte sie verschlafen.
Exakt in dieser Sekunde fuhr der rote Feuerwehr-Unimog vor dem tiefblauen Himmel über die kleine Anhöhe. "Da kommt Siggi", rief unsere Tochter vergnügt.
Jochen mit dem roten Unimog parkte direkt neben uns, und dann gab es das große Händeschütteln und Umarmen. Die beiden Komplementär-Mädchen starteten sofort wieder ihre gemeinsamen Unternehmungen. So nannten wir die beiden jetzt immer wegen der Farben ihrer Pullis.
Jochen und Nervin wollten bei dem sagenhaften Wetter noch hoch ins Geothermalgebiet, aber wir bekamen den Hintern an diesem Tag nicht mehr hoch.

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24.08.2017
Vollkommen untypisches und viel zu gutes Wetter begrüßte uns. Entgegen aller Vernunft und ganz im Gegensatz zu den hier viel vertretenen Zipperhosen-Trägern  zog ich nur meine kurze Hose an. Wir rumpelten hoch auf den Parkplatz des Geothermalgebietes und stellten den Unimog zwischen mehreren anderen Fahrzeugen ab. Auch hier hatte sich viel getan in den letzten Jahren. Der Himmel strahlte geradezu lächerlich blau. Das interessante Areal strotzte nur so von vulkanischer Aktivität. In unmittelbarer Nähe gab es tiefe Schluchten, schneebedeckte Berge, grüne Moos- und Grasflächen, Lava und Erde in allen Farben. Definitiv handelte es sich hier um ein höchst sehenswertes Highlight, welches durch die sonnige Beleuchtung beinahe lächerlich schön wurde. Es fühlte sich einfach so an, als ob einer die Farbsättigung unseres Planeten an den Anschlag gedreht hatte. Auf einem der vielen Pfade trafen wir auf ein freundliches britisches Paar, mit dem wir uns eine ganze Weile unterhielten. Sie teilten selbstverständlich unsere Begeisterung für den Tag, die Situation und die Eindrücke.



Aber solche Bilder und die damit einhergehende Euphorie sind verdammt anstrengend. Nach 4 Stunden konnten wir einfach nicht mehr, und die Kinder bekamen Hunger. Ullis Kamera klickte ununterbrochen, und so war ihre kreative Phase auch schlichtweg erschöpft. Ausgekuppelt und im 5. Gang schiebend, jaulte der Ullimog geräuschvoll die Schotterstraße wieder hinunter zur Campingwiese.
Im selben Augenblick erreichten auch Jochen, Nervin und Selli, die den Tag im warmen Pool verbracht hatten, wieder Ihr Fahrzeug. "Wir haben Euch den Weg runterkommen sehen und haben auch gewinkt", meinte Jochen noch, offensichtlich ebenfalls über das perfekte Timing erfreut.
Ich spekulierte nach wie vor insgeheim mit der Hofsjökull-Nordpassage, die angesichts des Wetters durchaus möglich wäre. Zwar fließen hier große Gletscherflüsse, die nach einem warmen, sonnigen Tag ordentlich anschwellen können, aber aus irgendeinem Grund führten die meisten Flüsse im Moment nur ganz wenig Wasser. Vom niedrigen Wasserstand der gefürchteten Blanda hatte ich mich vor einigen Tagen ja schon überzeugt. Hier stand ich ebenfalls an einem sonnigen Spätnachmittag am Ufer, um den Eindruck eines Worst-Case-Szenarios zu erhalten. Es war ganz offensichtlich wenig Wasser im Bett, wenngleich unstrittig war, dass der Fluss auch mehr konnte. Was ebenfalls für eine mögliche Befahrung dieser berüchtigten Route sprach, war Jochens starke Bergewinde. Er fuhr einen Unimog der Feuerwehr mit einer kräftigen hydraulischen Winde mit 50 m Stahltrosse. Das Fahrzeug hatte zudem Vierradhandbremse, folglich vermochte es auch mit einer Mordskraft an dem Seil zu ziehen. Er könnte mich mit meinem langen Bergegurt an die "Leine" nehmen und im Bedarfsfall rückwärts wieder herauswinchen. Die Flüsse, die wir antreffen würden, haben manchmal sandige Untergründe, vor denen auf Schildern ausdrücklich gewarnt wird. Ich würde nach erfolgreicher Durchfahrt stehenbleiben, und Jochen hätte während der Durchfahrt die Sicherheit einer möglichen Furt und zusätzlich einen geeigneten Anschlagpunkt. Obendrein könnten wir uns gegenseitig die Sicherheit eines patenten Reisepartners geben, gerade mit kleinen Kindern ein Aspekt, auf den ich nicht verzichten mochte.
Es ging also darum, Jochen die Sache schmackhaft zu machen. Er war durchaus angetan, kannte die Passage mit ihren Knackpunkten ebenfalls aus der Recherche und war sie bislang auch noch nicht gefahren. Als eingefleischter Island-Mogger hatte er ebenfalls große Lust dazu. Wir erfanden Bergeszenarios und begannen uns "im Falle eines Falles" abzusprechen. Die Schwierigkeit bestand darin, einen gemeinsamen Konsens für die weiteren Reisepläne zu schaffen. Jochen rechnete schon mit dem Fährtermin, der in gut einer Woche am Horizont winkte. Ich schlug vor, hier zu nächtigen, die Blanda morgen in aller Frühe zu furten und in Ingolfskali Mittag zu machen. Jochen tendierte eher dazu, heute noch loszufahren. "Wir machen eins", schlug er vor, "wir fahren die olle Kjörlur hoch und schauen uns den Fluss an. Wenn es geht, fahren wir heute Abend durch und gucken, wie weit wir kommen." Ich war natürlich einverstanden, und so trafen wir am Nachmittag die nötigen Vorbereitungen für die Abfahrt. Beim Anrollen fiel mir ein, dass ich die kommende Nacht im Kerlingarfjöll bereits im Voraus bezahlt hatte und nun früher als geplant abreiste. Nun ja, dann gilt der Tarif eben für Ingolfskali, dachte ich mir. Dann wurde wenigstens nicht im voraus schon die Zeche geprellt.
Beide Unimogs durchfuhren in dem strahlenden, langwelligen Nachmittagslicht das Viehgatter kurz vor der Furt der Blanda. Grinsend machte es Nervin hinter uns wieder zu. Die "Männer" sprangen sofort vom Fahrersitz und erkundeten die Durchfahrt. Der Gletscherfluss hatte den gleichen niedrigen Wasserstand wie die Tage zuvor, das ließ ich Jochen sofort wissen. Wir liefen einige Male das steinige Flussbett auf und ab und mutmaßten über Sandgumpen, Felsbrocken, Rinnen, Kiesbänke und flache Abschnitte. Schließlich fanden wir einen Weg, im Zickzack, immer den Kiesbänken folgend, auf dem wir den Fluss zu Fuß durchwaten konnten. Mein Begleiter stapfte einfach mit Halbschuhen und langer Hose drauflos und scherte sich kaum um das graue Eiswasser. "Anglerhose und Stiefel sind doch Quatsch, ich setzte mich einfach danach mit nasser Hose barfuß in den Unimog und mache die Heizung an", rechtfertigte er dieses Vorgehen. Da wollte ich natürlich als langjähriger Wanderer und Bergsteiger nicht hinterherhängen. Schließlich hatte ich im "Abgesessenen Kampf" auch schon so manches Wasser gemeistert. Am Ende reichte mir das Wasser bis über den Schritt, was mich dazu zwang, mein Smartphone aus der Beintasche zu nehmen. Ich muss ziemlich bescheuert ausgesehen haben, mitten im Fluss vor Kälte bibbernd und mit dem hochgehaltenen Mobiltelefon wedelnd. Die Hose meines Partners triefte ebenfalls vollständig, gleichwohl er konsequent in Turnschuhen den Gletscherfluss ablief. "Das ist unsere sichere Route", rief er durch das Getöse des Wassers. Ich nickte, "Ja, aber die ist zu lang und geht im Zick-Zack". Er hatte die letzte tiefe Rinne geschickt durchlaufen und war im Begriff, das andere Ufer hochzusteigen. Ich stand immer noch mitten im Fluss und versuchte, den Boden mit den Füssen abtastend, seiner Route zu folgen. "Wir fahren doch lieber gerade durch", einigten wir uns.
Ulli und Nervin beobachteten lächelnd, aber interessiert das sonderbare Treiben ihrer Männer. "Ihr macht aber auch echt ein Drama draus", meinte Ulli. "Ihr wollt doch nur Eure bunte Ausrüstung ausprobieren und hinterher über eure Heldentaten fachsimpeln" fügte sie augenzwinkernd hinzu. Josefine und Selli bekamen noch den Treibsand gezeigt und vorgeführt. Jochen erklärte ihnen an Ort und Stelle, wie man in so etwas ganz böse versinken kann. "Aber Siggi und Pauli fahren da schon durch", trällerten die beiden.
Ich packte meine rot schillernden Schluppe und den giftgrünen 15 Tonnen Bergegurt aus. Anschließend baute ich mit drei Schäkeln meinen 200-KN-Gabelseil-Anschlagpunkt.



Dann fuhr ich vor Jochen, verband die dicke Öse seiner Winde mit meinem Schäkel und begann, das schwere Stahlseil ein paar Meter herauszuziehen. "Ulli, Du nimmst Felix in den Bauchtragegurt und ich kümmere mich um das Finchen, falls irgend etwas daneben geht", bestimmte ich. "Außerdem hocken wir uns allesamt ins Fahrerhaus." "Ja, ja", antwortete Ulli mit einem ironischen Gesichtsausdruck. Nervin bekam die Videokamera, und wir fuhren an. Das obige Bild enthält einen Link zu einem Video der Fahrt. Ich wählte den ersten Gang, schaltete alle Sperren ein, aktivierte die Watanlage und machte vorsichtig die Vorderräder nass. Ein Riesenvorteil des Unimogs ist die Fähigkeit, sehr, sehr langsam fahren zu können. So ist es möglich, einen großen unsichtbaren Stein im Wasser nur anzutippen und im Bedarfsfall eine alternative Route zu nehmen. Auch eine überraschend tiefe Rinne kann unter Umständen gemieden werden. Zudem dankte ich dem heiligen Christophorus inständig für jeden Zentimeter Bauch- und Bodenfreiheit. Die Blanda hatte trotz des niedrigen Wasserstandes eine starke Strömung. "Mama, können wir da wirklich durch", fragte Josefine mit großen Augen und dem Daumen im Mund. "Der Papa macht nichts, was für uns gefährlich ist", antwortete Ulli, und sämtliche Ironie war plötzlich verschwunden. Tatsächlich würde ich nur durchfahren, wenn nach oben etwas Luft bleibt. Mit einem einjährigen Baby an Bord wollte ich die Fähigkeiten eines Unimogs in einem Gletscherfluss nicht vollständig ausreizen. In Gedanken erinnerte ich mich daran, im Bedarfsfall umzukehren und die Sache abzusagen. "Ach", sagte ich nach einer Weile, "das hörte sich vor 2 Minuten aber noch ganz anders an." Wir krabbelten langsam der tiefen Hauptrinne entgegen und es ging immer noch deutlich abwärts. Der Unimog stand jedoch bombenfest und vermittelte, nicht annähernd gefordert zu werden. Ich blickte in den Rückspiegel und war beeindruckt, wieviel Wasser nun unter dem Fahrzeug hindurchfloss. Beide Reifen machten in dem sandigen Untergrund des Flusses schwarze Wirbel. Das komplette Sichtfeld aus der Scheibe nach vorne bewegte sich schwindelerregend in Querrichtung. "Konzentriere Dich bei der Richtung nur auf das Ufer", ermahnte ich mich. Der Unimog fuhr immer noch ganz kontrolliert im Schneckentempo vorwärts, sanft schaukelnd überfuhren wir geradeaus den rauen Untergrund. Ich checkte die Seilspannung mit einem Blick aus dem Fenster und stellte fest, dass die Stahltrosse in einem sanften Bogen flussabwärts im Wasser lag. Ganz vorsichtig durchtastete ich, immer wieder anhaltend, die Hauptrinne. Auf der der Strömung zugewandten Seite sah das beeindruckend aus, wenn ich jedoch links aus dem Fahrerhaus schaute, dann war die Sache einfach nur verwirbelt und steinig. Besonders tief erschien mir das Gewässer nicht. Endlich hob sich die Vorderachse wieder und es wurde flacher. Auf dem Trockenen angelangt, lächelte Ulli mich an und meinte: "Na, so schlimm, wir ihr vorhin getan habt, war es doch nicht." "Komm, der Unimog mag hier zwar keinen richtigen Gegner vorgefunden haben, aber Deine Babies hat er sicher rüber gebracht", konterte ich. "Das stimmt, habt Ihr gut gemacht", gab  Ulli zu und tätschelte meinen Kopf, den ich ihr dafür hinhielt. Jochen folgte und ließ die Winde während der Durchfahrt einlaufen. "Also wirklich tief war es nicht, aber hier ist für T6-Synchro und Dacia Duster endgültig Schluss", kommentierte er grinsend. Ich nickte zustimmend und wickelte die Gurte auf. "Wart nur, wir treffen gleich auf ne' Horde Kuku-Camper". Kurz nach dem Anfahren brachte mir Jochen noch meine Warnweste, die ich Trottel beim Einpacken vergessen hatte.
Voller Erwartung nahmen wir die Hofsjökiull-Passage in Angriff, wohl wissend, dass noch weitere Hindernisse folgen würden. Den Auftakt machte eine Steinpassage mit dicken Brocken mitten auf dem Track. Diese Riesendinger warfen in der Abendsonne lange Schatten, und wieder war ich um jeden Zentimeter Bodenfreiheit froh. Weil es langsam vorwärts ging, bot sich immer wieder die Möglichkeit zum Filmen. Wenn ich nach einer solchen Aktion die Kamera wieder einsammelte, kam der dicht folgende rote Unimog vorbeigefahren und Jochen und ich wechselten ein paar Worte. Es grinste stets über das ganze Gesicht und freute sich sichtlich. "Was musst Du hier haben?" fragte ich lachend. "Bodenfreiheit, Bodenfreiheit ist das Stichwort", kam es zurück. In den Abschnitten zwischen den Steinfeldern blieb die Piste meistens glatt und sehr angenehm zu fahren. Der stetige Ausblick auf den schneeweißen Gletscher rechts im Süden war einfach fabelhaft. Ich konnte die freudige Erregung unserer Reisepartner sogar im Rückspiegel erkennen, Nervin zeigte immer wieder mit dem Finger auf den Gletscher und hielt die Kamera aus dem Fenster. Die riesige Ebene, in der wir uns bewegten, reichte von Horizont zu Horizont und wirkte in dem orangefarbenen Abendlicht gewaltig und bildschön.



Mich überkam ein Gefühl der Dankbarkeit, aus Fügungen, die ich nicht beeinflussen kann, hier sein zu dürfen. Die folgende Querung des Svartakvisl, der ebenfalls breit werden kann, gestaltete sich weit einfacher als die Blanda. Der Gletscherbach wartete nur mit einer steilen Rinne auf, die ich wieder im Schneckentempo ertastete. Trotzdem rutschte der Unimog plötzlich ein Stück ab. Wieder einmal war ich heilfroh darüber, mir im Unimog praktisch keine Gedanken über "schaffe ich es oder schaffe ich es nicht" machen zu müssen. Wenn der Untergrund trägt und sich beim Unimog alle Räder drehen, dann krabbelt der vorwärts und rückwärts, mag kommen was da Mog. Es lebe der christlich-abendländische Maschinenbau aus dem Schwarzwald. Sicher, diese Art von Hindernissen sind durchaus auch mit einem kleineren Fahrzeug zu meistern, aber wenn ich mich umdrehte, dann sah ich meinen einjährigen Sohn, der im Kindersitz mit seinem Kuscheltier an die Backe friedlich schlief. Meine fünfjährige Tochter lehnte eingenickt mit Kopfhörern auf den Ohren an der Scheibe und schlief ebenfalls. So sehr und so lange ich mir auf der Autobahn auch einen Toyota Landcruiser, einen Landrover Defender oder einen T6-Synchro gewünscht hatte, hier draußen und in dieser Situation wollte ich für mich und meine Familie nur ein Allradfahrgestell, den Unimog. Die Größe und die Fähigkeiten dieses Untersatzes vermittelten hier durchweg die Sicherheit, die ich für einen entspannten Urlaub erwarte. Wahres Können erfordert keine Anstrengung und erst recht keinen Anlauf. Im Namen der Portalachsen, der Differentialsperre und der großen Reifen Amen.
Es wurde dunkel, und mich plagten heftige Kopfschmerzen. Die Erregung, die emotionalen Wallungen und die Tatsache, an diesem warmen Tag nicht genug getrunken zu haben, forderten ihren Tribut. Ulli reichte mir die Wasserflasche, und ich schluckte drei Ibuprofen-Tabletten. Wir hielten einfach mitten auf der Strecke am Rande des nächsten Gletscherflusses an. Es würde heute vermutlich keiner mehr vorbeikommen, und so bereiteten wir die Übernachtung vor. Josefine und Selli begannen, das letzte rote Abendlicht für ihre Exkursionen zu nutzen und erkundeten wieder einmal die Gegend. Ich behielt sie etwas im Auge, was angesichts der bunten Kleidung der Kinder kein Problem war. Verkehr war keiner zu befürchten und der nächste Gletscherfluss war nur knöcheltief. Als ich mit einer Dose Malzbier in der Hand dem Herrn für diesen Tag dankte, musste ich mich anstrengen, nicht vor dem Austrinken einzuschlafen.

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25.08.2017
Etwas später als vereinbart erreichten Ulli und ich Abmarschbereitschaft. Wenn man die 40 Lenze geknackt hat, dann ist man in einer einzigen Nacht nach einem so anstrengenden Tag wie gestern, noch nicht vollständig wiederhergestellt. Ganz anders verhielten sich die Kinder, die pünktlich ihr Maß an Aufmerksamkeit einforderten.
Die Ausfahrt aus dem von kleinen Bächen durchzogenen Kies-Feld konnten wir zunächst nicht finden. Es war über Nacht etwas Nebel aufgezogen, und die wenigen Spuren über die Kiesbänke verloren sich jeweils nach wenigen Metern. Jochen suchte den gegenüberliegenden Hang und das Ufer mit dem Feldstecher ab. "Du, ich glaube, da ist ein Stickel", vermeldete er kurz darauf. Wir rätselten noch eine ganze Weile und entschieden uns am Ende, stumpf nach GPS-Track zu fahren. Die schlechten Wetterverhältnisse und der sich zäh haltende Frühnebel enttäuschte uns etwas. Doch ganz plötzlich öffnete sich die Wolkendecke wieder und gab den vom Vortag vertrauten Blick auf die große weiße Eiskappe frei. Im Gegenlicht kamen jetzt die Strukturen des Eises besonders gut zur Geltung. Dunkle Kanäle durchzogen das gleißende riesige Etwas rechts von uns und verloren sich schließlich kontrastreich in der tiefschwarzen Mondlandschaft. Diese Bilder sind einfach unbeschreiblich, und wieder schrieb ich die Möglichkeit, dies in dieser Form mit meiner Familie erleben zu dürfen, dem Unimog zu. Wir querten noch viele kleine Gletscherläufe auf dem Weg nach Osten. Auf einer Anhöhe der gegenüberliegenden Talseite konnten wir in der Ferne erwartungsgemäß die Hütte "Ingolfskali" ausmachen. Jochen stieg mit der Kamera aus und stellte sich zu mir. "Schon schön", meinte er in Erwartung einer gleichwertigen Antwort meinerseits. "Na klar, das ist fantastisch", kommentierte ich. Mit den Worten: "Komm, wir nehmen noch die letzte Furt und machen dann Pfannkuchen bei der Hütte", rollten die beiden schweren Fahrzeuge wieder an.
Der Fluss bei der Hütte sah zunächst beeindruckend aus und hatte ebenfalls ein ordentliches Tempo drauf. Die "Männer" erkundeten wieder einmal die Furt, während die Damen neugierig aus den Fahrerhäusern schauten. "Das machen wir ohne Anseilen", brach ich das Schweigen. "Das ist nicht so tief wie die Blanda." Ich warf ein paar große Steine im hohen Bogen in die Strömung und hörte immer wieder das charakteristische Klackern. "Sandig ist es auch nicht, da kannst Du in jedem Fall zurück", ergänzte Jochen. Felix musste trotzdem wieder ins Bauchtragegestell und zu uns ins Fahrerhaus. Bei einer solchen Furt bleibt mir einfach niemand angeschnallt irgendwo hinten sitzen. Die größte Herausforderung bildeten wieder einmal die großen Steine, die in der Durchfahrt lagen. Ich über- bzw. umfuhr sie langsam auf der besprochenen Route. Die Tiefe lag definitiv noch unter einem Meter, auch wenn das Wasser auf der Strömungsseite etwas höher schwallte. Im richtigen Moment sah das sicher spektakulär aus. Tropfend und in Zeitlupe krabbelte der Unimog im Standgas die Ausfahrt hinauf. Siggi folgte dichtauf, und von außen wirkte das Ganze sogar recht entspannt. Ich möchte dennoch an dieser Stelle eine Warnung aussprechen. Wir fuhren diese Furt und diese Strecke bei idealen Bedingungen. Jeder einzelne Fluss, der dabei durchfahren wurde, führte relativ wenig Wasser. Alle feuchten Abschnitte lagen angesichts der geringen Niederschläge furztrocken. Die Frühjahr-Schneeschmelze lag weit zurück, und Altschneefelder fanden sich auch kaum. "Unsere höchste Karte waren das Wetter und die Jahreszeit", behauptete ich. "Da musste einfach auch ein bisschen Glück haben", fügte Jochen hinzu.



Die Mannschaften beider Mogs machten Pfannkuchen, die die Kinder, in Klappstühlen sitzend, draußen vertilgten. Es gab Puderzucker, Ahornsirup, Zimt oder Apfelmus dazu. Wir verstanden das alles als Abschlussessen einer gelungenen fantastischen gemeinsamen Fahrt und auch Zeit. Der kleine Zufall bei der Ausfahrt aus der Fähre, der die beiden Fahrzeuge hintereinander platzierte, bescherte uns zwei unvergessliche Wochen unter Gleichgesinnten, mit denen auf Anhieb alles gepasst hatte. Wir werden sicher weiter Kontakt zu Jochen und Nervin halten und auch die Mädchen, Josefine und Selli, möchten sich unbedingt wieder mal treffen. Die weitere Fahrt ging Richtung Laugafell, wo wir eine weitere kleine Rast mit Bad einlegen wollen. Die Furten der F752 und die Straße selbst kamen uns angesichts des Erlebten wie "weichgespült" vor.
Ich hatte keinen Bock mehr, jetzt nach Süden durchzufahren, und auch Ulli wollte einen Tag Pause einlegen. Jochen und Nervin mussten jedoch gleich weiter rauschen, und so machten wir auf dem Parkplatz neben dem warmen Pool den unvermeidlichen Abschied. Etwas traurig sahen wir den roten Feuerwehr-Unimog "Siggi" hinter einer Staubfahne am Horizont verschwinden.
"Wir sind gar nicht so scheiße und können noch nette Freunde finden", kommentierte ich die Abreise. "Wer hat den behauptet, dass wir scheiße sind?" antwortete Ulli voller Unverständnis. "Ach, da gibt es schon welche...", sagte ich. "Nee, echt nicht", schloss sie kopfschüttelnd das Gespräch ab. Ich lachte, fühlte mich aber auch ein bisschen traurig wegen des Abschieds.
"Komm, wir gehen in den Pool, den ganzen Pistendreck abwaschen", schlug ich vor. "Nimm Du die Kinder mit und ich mache Mittagessen", bestimmte sie. "Mir ist der Pool sowieso etwas zu kalt." In herrlichem Nachmittagslicht dümpelten Josefine, Felix und ich zwei Stunden ganz alleine in dem großen Becken herum. Ulli kam uns mit der Kamera besuchen, hielt den Finger ins Wasser, schüttelte sich und versteckte sich wieder im Unimog. Über der glitzernden schwarzen Wasseroberfläche bildete sich bei absoluter Windstille manchmal eine hauchdünne Nebelschicht, die gegen die Sonne einfach märchenhaft aussah. Fine hielt tapfer ihren Gips aus dem Wasser, und Felix konnte von dem Herumwühlen im dunklen Nass gar nicht genug bekommen. Quiekend und giggelnd patschte er begeistert mit den flachen Händchen auf das warme Wasser und ließ sich vom Papa herumfahren.



Das folgende Abendessen sorgte für die nötige Bettschwere. Später gesellte sich noch die deutsche Reisegruppe zu uns, die mit ihren bunten Fahrzeugen hier nächtigte. Wir hatten die geführte Gruppe schon mehrfach getroffen, und wieder einmal bestätigte sich eine typische Eigenschaft der Insel: "In Island trifft man sich immer zweimal." Aber es wurde nochmal voller, denn am Abend trafen noch zwanzig Isländer auf Motorädern ein, die mit brennenden Scheinwerfern die nächtlichen Hänge rauf-und runterpflügten. Ich dachte immer, "offroad" sei verboten, aber möglicherweise befand sich ja der Landbesitzer ebenfalls unter ihnen und hatte das seinen Kumpels erlaubt. Sie feierten mit viel Bier und lauter Musik noch lange in der warmen Quelle.

      Kartenansicht

      GPS Track

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26.08.2017
Die Deutschen packten früh ein und bereiteten den Aufbruch vor. Vielleicht hatten die in den Dachzelten auch nicht so gut geschlafen, denn es begann gegen Mitternacht heftig zu stürmen. "Die haben es aber eilig", kommentierte ich das Davonbrummen der vielen Autos. Es regnete in Strömen, und wir hatten es glücklicherweise gar nicht eilig. Endlich konnten wir mal ein paar Stunden im Unimog herumhängen, das Tagebuch tippen und Bücher lesen. "Bei so einem Wetter machen wir einfach gar nichts", bestimmte Ulli. Die Kinder wurden mit Filmen aus der Dose digital sediert und verhielten sich ruhig.
Am Nachmittag überkam mich dann doch die romantische Vorstellung, im Mistwetter mit unserem Baby in dem Pool nochmal baden zu gehen. Der Regen peitschte heftig, und ich drückte den nackten Felix fest an mich, als ich die zehn Meter von der Umkleide über die Stufen in das Becken rannte. Fine und Ulli waren nicht nach draußen zu bewegen.
Uns erwartete eine Gruppe junger Sachsen, die alle 7 nebeneinander im wärmsten Eck des Beckens saßen und ziemlich fertig aussahen. Sie hatten aber gute Laune und machten Blödsinn und witzelten herum. Da außer dem Unimog keine Fahrzeuge hier parkten, vermutete ich, es handle sich um Wanderer. Das sprach mich natürlich an, und ich fragte in die Runde: "Sagt mal, seid ihr hier raus gelaufen?" Ein großes und vielstimmiges "Ja" kam mir entgegen, und ich nickte anerkennend. Schon cool, schlappen die hier raus, dachte ich mir und versuchte, mich an das Hochlandgefühl zu erinnern, welches sich einstellt, wenn man tatsächlich mit den Elementen hier kämpft. Leider kann da eine Anfahrt mit dem Auto nicht wirklich mithalten, dass wurde mir nun erneut bewusst.
"Und jetzt seid ihr froh, mal ordentlich die Knochen zu strecken", hielt ich das Gespräch am Laufen. "Na klar", meinte einer und hob seinen Fuß aus dem Wasser, der mit mehrstufigen Blutblasen bedeckt war.
"Sind Sie der mit dem alten Lastwagen?" fragte mich ein anderer. Mist, die nannten mich tatsächlich "Sie", nun ja, zwischen mir und den Burschen lagen wohl auch so um die 20 Jahre.
"Ja, aber ihr könnt ruhig "Du" sagen, ich heiße Thomas." "Wollt ihr ganz durch aufen?" fragte ich. Schnell war die Struktur der sympathischen Clique offensichtlich, denn fortan sprach ich mit dem Anführer. Ich wollte es unbedingt vermeiden, jetzt den Klugscheißer-Lehrmeister zu machen, aber es war klar, dass sie sich wenig geschickt anstellten und mehr Erfahrung machten als mitbrachten. Vermutlich gehörten sie schon zu einer Generation, die das Marschieren beim Militär nicht mehr gelernt hatte.
"Sind Sie...ääh bist Du auch schon mal durch Island gelaufen?" war die entscheidende Frage des pfiffigen und gewitzt wirkenden Chefs.
"Ja, 2003 und 2011, allerdings nur Teilstücke, nie alles auf einmal. Aber ich bin mal zu Fuß vier Monate durch Chile gelaufen", wollte ich meine Rolle als "Autoweichei" entschärfen.
Der Kerl war aber auf einschlägige Informationen aus und interessierte sich nicht für mein dickes Auftragen. Das fand ich sympathisch.
"Wie groß waren denn Deine Tagesetappen in Island?" fragte er begierig.
"Wir haben geschaut, immer so um die 35 - 40 km zu machen, das spart Proviant", erzählte ich. Er hielt kurz inne und entgegnete: "Respekt, wir machen so 20 - 25 km pro Tag".
"Wie schwer sind denn Eure Rucksäcke, mehr als dreißig?" fragte ich, dieses kleine Detailwissen hinzufügend. Wenn so junge Kerle nur 25 km am Tag packen, dann tragen die zu schwer für eine Distanzwanderung, dachte ich mir. Tatsächlich antwortete mein Gesprächspartner: "Alle von uns schleppen mehr als 30 kg." "Ich hab 35", warf einer ein.
"Also wenn ich mehr als 20 kg trage, dann marschiere ich nicht mehr, dann schleppe ich." "Das ist eine andere Bewegung", vertrat ich meinen Standpunkt.
"OK, so kann man es auch angehen, aber dann habt ihr gehungert", meinte der junge Mann abwägend und völlig zurecht.
"Der Hunger bleibt bei so einer Belastung nicht aus, egal wieviel man von dem dehydrierten Mist frisst", behauptete ich.
"Na kommt, ihr träumt doch trotzdem alle vom Essen", warf ich ein.
"Ohh, so einen saftigen Hamburger...", meinte der ganz links, "Nee, einen fetten Döner, mit viel Salat", sagte ein anderer, "Schnitzel", brüllte einer so laut er konnte. Wir lachten alle darüber. "Und Bier, viel Bier", jauchzte er zum Abschluss.
"Da kommt noch ne' heiße Badestelle auf dem Weg nach Nyidalur", verriet ich. Sie hörten aufmerksam zu, als ich von dem sprach, was sie weiter südlich erwarten würde.
"Das bleibt jetzt aber 'ne Weile grau, bis das wieder grün wird", beschrieb ich die Strecke.
Ich fand die Jungens toll und freute mich über das, was die hier abzogen. Sie genossen meinen größten Respekt, wanderten die volle Distanz, und ich drückte ihnen fest die Daumen. Ulli und ich hatten geplant, gegen Abend wieder nach Akureyri zu fahren, da unsere Vorräte zur Neige gingen. Ich beschloss, kurzerhand alles einzupacken und den Jungs zu schenken.
Mit zwei gefüllten Tüten ausgerüstet, suchte ich die Gruppe kurze Zeit später auf. Nudeln hatten die sicher genug, daher schenkte ich ihnen Malzbier, Äpfel, eingepacktes Fleisch, Skyr, Milch und eine kleine Rolle Panzer-Tape. "Das ist für eure Füße zum Abkleben", sagte ich. Sie strahlten über das ganze Gesicht und freuten sich riesig über das Geschenk und bedankten sich ausgiebig. "Alles gut, es ist immer noch wenig für 7 Mann, die den ganzen Tag lang marschieren" versicherte ich. Ich fand das einfach gerecht, denn wir konnten leicht in drei Stunden wieder vor dem Regal eines Supermarktes stehen und alles kaufen, was wir wollten. Das konnten die Burschen nicht. Hupend fuhren wir davon, während die Gruppe uns hinterherwinkte.
Ulli bestand aber noch auf einer kleinen Pause in dem engen Hochtal im Norden, weil sie wieder ihre Wasserfallaufnahmen plante. Wir nannten die Gegend "Unser Badezimmer", da ich beim Bau unseres Hauses eine Aufnahme, die Ulrike hier einst machte, vergrößern und hinter Plexiglas laminieren ließ. Dieses "Poster" baute ich zwischen den Fliesen über der Badewanne ein. Leider herrschte in diesem Jahr nicht das perfekte Licht für solche Langzeit-Aufnahmen, und es gelangen nur wenige Fotos.



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27.08.2017
Wie immer bei längeren Wohnmobiltouren kommt früher oder später der Waschtag. Ulli und ich besprachen, wie wir das Pensum an notwendigen Aufgaben bewältigen würden. Der Campingplatz Hamrar hatte einen Waschraum, der eine geradezu lächerlich hohe Anzahl an Münzen verlangte. Der Trockner brauchte ebensoviele der kleinen Geldstücke, und wir hatten die Wäsche von zwei Erwachsenen und zwei Kindern, darunter ein Baby, zu bewältigen. Mit einem ganzen Sack voll Kleingeld in der Tasche und zwei großen Wäschesäcken machte ich mich auf den Weg. Eine Amerikanerin, die auch Anspruch auf die Waschmaschine erhob, ließ mir den Vortritt, weil ich so viele Kindersachen dabei hatte. Nach 40 Minuten vereinbarten wir einen Wechsel, da wir dann zum Einkaufen unterwegs sein würden.
Zu unserem Großeinkauf fuhren wir runter in das große Einkaufszentrum mitten in der Stadt. Es erinnerte an eine amerikanischen Mall. Selbstverständlich gab es auch alles zu kaufen. Der Supermarkt führte neben einigen exotischen lokalen Produkten den üblichen Krempel, nur der kostete hier eben mehr. Den verzinkten Gitterwagen galt es nun mal zu füllen und "zum Sparen nach Island" ist etwa genauso doof wie "zum Spanferkel nach Indien". Die Online-Kartenabrechnung wies solche Shoppingsessions am Polarkreis als kostspielig aus und erschwerte die Ignoranz gegenüber dem Geldgegenwert. Der folgende einfache Vergleich zwang sich auf: Bei uns in Deutschland kostet es beim Diskonter etwa €70,-, so einen mit normalen Lebensmitteln gefüllten Einkaufswagen an der Kasse vorbei zu schieben. Bei den besseren Supermärkten erkauft man sich das etwas geschönte Ambiente mit einem Preis von €110,- . In Island kostet ein Einkaufswagen voll so um die €350,- , egal wo. Das überraschte uns jedoch nicht, und dies ist auch keine Wertung dieser Umstände. Wir fanden es immer spannend, Dinge zu kaufen, die es bei uns nun mal nicht gab.
In der Nähe des Krankenhause entdeckte ich das letzte Mal die Schilder "Botanischer Garten". Wir informierten uns und wollten bei dem schönen Wetter unbedingt noch da hin. Der Garten wirkte auf uns wie eine grüne Insel in der sonst eher trostlosen nordischen Einöde. Selbst die Berghänge des Fjords wirkten karg und leer. Es gab Bäume, richtige Bäume mit Blättern und niedliche kleine Pfade mit Blumen und Brunnen. Da führte sogar ein Brückchen über einen Tümpel mit Seerosen. Ulli und ich empfanden die Atmosphäre als "satt grün". Zu allem Überfluss gab es noch ein Café mit Stühlen zum Draußensitzen. Plötzlich sprach uns eine junge Frau auf deutsch an. Sie machte hier eine Umfrage für die Statistik. Es drehte sich um den Tourismus, und ganz offensichtlich wollte die isländische Reisebranche ihre neuen Kunden genau kennenlernen. Ich wollte unbedingt mitmachen und beantwortete zusammen mit Ulli und Josefine alle Fragen. Anschließend kamen wir etwas ins Gespräch. Die Österreicherin arbeitete zusätzlich zu dem Job, dem sie im Augenblick nachging, noch bei einer der Walbeobachtungs-Firmen am Hafen unten. Sie empfahl uns das Unternehmen, weil die das beste Boot und den erfahrensten Skipper hätten. Nun ja, warum soll man denn da nicht mitspielen, dachten wir uns.



Von außen wirkte die Hafenbude von "Elding Whale-Watching" ganz verwaist. Am Kai lag zwar ein eindrucksvolles Boot, aber Kunden gab es keine zu sehen. Das wunderte uns angesichts der Erfahrungen der letzten Tage. "Wo doch das Licht auf der 17-Uhr-Tour mit Sicherheit das beste des Tages ist", wunderte sich Ulli, die natürlich schon ihre Fotos im Kopf hatte. Ich versicherte mich noch bei der Crew, die in dem kleinen Gebäude am Kai gerade Kaffeepause machte, ob man auch wirklich die großen Wale, also Buckelwale oder Pottwale, sehen würde. Alle nickten, und ich hatte den Eindruck, dass die Leute recht leidenschaftlich ihrer Arbeit nachgingen und immer noch gerne von den Begegnungen mit den großen Tieren berichteten. Leider hatte eine halbe Stunde vor Abfahrt noch niemand außer uns die Tour gebucht. "Are your customers always late like this?" fragte ich in die Runde. "Sometimes yes, sometimes not", entgegnete der Kapitän höchstpersönlich. "How many passengers do you need to actually go?" fragte ich. Er lächelte und bewegte abwägend den Kopf hin und her. Er wollte, typisch isländisch, einfach keine konkrete Angabe machen. Wie konnte ich als Deutscher das auch erwarten. "I will let you know. If I go outside wearing my hat, we will go", verriet er. Ich ging zurück zum Unimog und erzählte Ulli von dem Gespräch. Tatsächlich kamen kurz darauf noch fünf Holländer in das Büro und kauften Tickets. Der Skipper ging vor die Tür, warf seine Mütze in die Luft und setzte sie sich demonstrativ auf. Ich riss die Arme hoch und jubelte ihm zu. Die Crew, die im Begriff war, das Boot zu entern, tat es mir gleich. So sorgten wir schon für den ersten Lacher, der die gute Stimmung auf dem kommenden Ausflug einleitete. Die Sprecherin, eine kleine, sportliche Brasilianerin, brachte einen Kinder-Seerettungsanzug für Josefine. Die aber weigerte sich, den schweren, sperrigen Overall anzulegen. Sogleich redete die junge Frau auf uns Eltern ein, weil sie befürchtete, wir würden das der Kleinen durchgehen lassen. Sie argumentierte schon mit diversen Sicherheitsfragen, da stieß der Skipper über eine Stahlleiter zu uns. "Of course she will wear this overall", versicherte ich in dem Moment der versammelten Crew und schaute meine Tochter streng an. "It is obligatory for kids", fügte der Kapitän hinzu. Die Kleine prüfte trotzig noch immer die Möglichkeit ihrer Einflussnahme.
"Josefine, wir sind hier auf einem Schiff, und da muss jeder machen, was der Kapitän sagt", versicherte ich Ihr. "Du ziehst jetzt diesen Anzug an", befahl ich. Wiederwillig schlüpfte sie in den roten Kombi und ließ sich von der Leiterin alle Reißverschlüsse zu machen. Der Kapitän nickte zufrieden und meinte: "It will also keep her warm." "It is not about her", antworte ich. "It is about your ship and your rules", versicherte ich dem Mann. Er lachte und nickte mir zu.
Das Erlebnis mit den großen Tieren beeindruckte uns alle. Das Boot bewegte sich in unmittelbarer Nähe der Tiere nur sehr langsam und äußerst vorsichtig. Mit geringer Leistung folgte das Schiff mit dem Strahlantrieb dem mächtigen Buckelwal. In den jeweiligen Tauchpausen lernten wir Gäste eine Menge über das Verhalten der Meeressäuger. Sie hatten alle Namen und wurden über Jahre ganz kontrolliert von den Unternehmen angefahren. Ihre Gewohnheiten waren bestens bekannt, was die hohe Erfolgsquote bei den Exkursionen erklärte. Unser Wal trug den Namen "Cascade" und beanspruchte seit Jahren das Revier in dem Fjord nahe der Fischfabrik. Natürlich ging man sorgsam mit dem Riesen um, denn er sollte ja beim nächsten Mal nicht abhauen. Von den höheren Decks des Schiffes aus konnten wir den weißen Bauch und die Brustflossen im klaren Wasser ausmachen. Ein tolles Erlebnis...
Zum Übernachten fuhren wir nach Dalvik, einem kleinen grauen Fischerdorf im Norden der Stadt.





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28.08.2017
Es regnete die ganze Nacht durch und mit etwas Mitleid beobachtete ich die beiden jungen Mädels, die mitten auf der großen Wiese hinter uns übernachteten. Ehrlich gesagt war die Ecke hier einigermaßen charmefrei bei dem Wetter. Trotzdem traten sie alle Viertelstunde konsequent vor ihr Zelt, setzten sich auf die einsame Holzbank mit Tisch und rauchten patschnass ihre Zigaretten. Vermutlich waren die von Beruf Infanteristen und guckten in ihrer Freizeit gerne Vietnamfilme. Ich grüßte die beiden bei jedem Gang zum Waschhaus, bei dem ich die große Fläche queren musste. Sie winkten und lachten mir stets gut gelaunt zu. "Du, die zwei da draußen sind echt hart", erzählte ich Ulli beim Frühstück. "Die scheint das Wetter und der Fischgestank nicht im geringsten zu kratzen." Meine Frau reckte den Hals, schaute raus und schüttelte sich etwas. "Immerhin haben die im Zelt übernachtet", meinte sie und zeigte auf den Kleinwagen, der neben uns parkte. Darin saß ein Typ mit mindestens 60 kg Übergewicht. Er hatte wohl wegen des Windes auf dem Fahrersitz übernachtet und öffnete gerade die Autotür. Mindestens 10 Bierdosen rollten auf die Wiese und wurden teilweise klappernd vom Wind erfasst. Seine Trainingshose trug einen Fleck, der darauf schließen ließ, dass er sich die aufgrund des Bierkonsums nötigen nächtlichen Toilettengänge erspart hatte. Ich stellte mir vor, wie es in der Karre wohl riechen würde und musste an mich halten, meinen Kaffee nicht wieder hochzuwürgen. Zusammen mit dem farblosen, mit Betonputz verzierten Gebäude der Umgebung bot sich uns gerade nicht das Bild, welches die isländische Tourismusindustrie so gerne verkaufte.
Aber mit diesen Eindrücken wollte ich Dalvik nicht verlassen und gab dem Kaff Gelegenheit, sich zu steigern. Im Regenzeug stieg ich vor die Tür und suchte den Baumarkt oder die Autowerkstatt des Ortes. Dabei kam ich an der Schule vorbei und sah den Kindern zu, die lautstark im Pausenhof ihrem Fußballspiel nachgingen. Die EM 2016 hatte offensichtlich einen großen Fußballboom ausgelöst, denn mindestens die Hälfte der Buben trug das blaue Nationaltrikot. Der Regen und der Wind schienen ihnen nicht das mindeste auszumachen. Auch die Mädchen hatten einen Ball laufen und kickten kreischend auf das kleine Netz ein.
Die Türglocke des Baumarktes, oder vielmehr des Eisenwarenladens, klingelte hinter mir. Ahh, hier fühle ich mich wohl. Die reich bestückten Regale standen eng beieinander, und befriedigt stellte ich fest, hier gab es alles. Eigentlich brauchte ich nicht wirklich irgendetwas, aber es war auch nicht einfach, dem freundlichen Herren hinterm Tresen zu erklären, dass ich gerade die angenehme Atmosphäre seines Arbeitsplatzes brauchte, um meine Erinnerung an seine Heimatstadt aufzupolieren. Daher grübelte ich kurz nach, was ich für den Unimog so kaufen könnte. Da fiel mir der kleine Filter zur Entlüftung des Vorratsbehälters der Servolenkung ein, den ich irgendwo auf der Piste gelassen hatte. Ich hatte auf seine begrüßende Frage, die er mir auf isländisch stellte, sogar eine Antwort. Eine halbe Stunde lang konstruierten wir mit Schlauchschellen, Gummischläuchen und allem, was irgendwie als Filter zu gebrauchen war, herum. Wenig später zog ich die Tür hinter mir zu und machte mich gut gelaunt auf den Rückweg.
"Der Mann im Baumarkt hat mich für einen Isländer gehalten, obwohl ich in Goretex rumgelaufen bin", berichtete ich zuhause voller Stolz meiner Frau.
Wir durchfuhren den einspurigen Tunnel nach Siglufjörður, der schnurgerade durch den Berg führte. Josefine spielte dabei "Die Region der schwarzen Felsen", eine Abenteuerpassage, die Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, in der Geschichte von Michael Ende bestehen müssen. Selbstverständlich bekam der Unimog dabei die Rolle der Lokomotive "Emma".
"Wann kommt denn endlich der Mund des Todes?" fragte sie immer wieder. Ich versuchte, die Zitate von Lukas zu sprechen, als wir durch das Felsentor des Ausgangs rollten. Sie tat es mir gleich und sprach die Zeilen von Jim. Josefine kannte sowohl das Buch als auch das Hörspiel auswendig. Sie hatte deutlich mehr drauf als ich und wusste jedes einzelne Wort. "Jetzt kommt gleich der Drache Nepomuk", meldete ich mich, als wir die Straße in die Stadt fuhren. "Halbdrache", kam es von hinten. "Seine Mama war nämlich ein Nilpferd."



Die Drachenstadt "Kummerland" war berühmt für ihre alte Heringsindustrie. In jedem Reiseführer wird das sehenswerte Museum erwähnt. Zunächst hatten wir aber Hunger und wollten unbedingt essen gehen, wenn sich schon die seltene Möglichkeit bot. Die Fischsuppe im "Kaffi Rauðka" genießt so etwas wie Kultstatus, und da wollte ich doch mal schauen. Zudem gab es in dem kleinen Restaurant das "Einstök"-Bier, von dem alle so lobend sprachen. Ich persönlich habe in Island noch kein gutes einheimisches Bier getrunken und war auch hier für neue Erkenntnisse aufgeschlossen. Das Ambiente des bunten Holzhauses fanden wir sehr passend und ansprechend.
Auch gefiel mir der Wikinger, der die Flasche mit dem dunklen schweren Bier zierte, die kurz darauf vor mir auf dem Tisch stand. Es schmeckte in der Tat kräftig und malzig, wie ich das erwartet hatte. Aber irgendetwas war komisch. Das Etikett bestätigte schließlich meine Befürchtung. Um den Geschmack zu verstärken, hatte man es mit Kaffee versetzt. Wenn da diverse Aromen aus dem Malz kommen, dann geht das in Ordnung. Aber die Vorstellung, jemand schaufelt Kaffeesatz in mein Bierglas, fand ich dann nicht so appetitlich .
Zu der Fischsuppe passte es dennoch hervorragend, und so furchtbar, dass ich nicht noch ein zweites bestellte, war es dann auch nicht. Die Suppe hingegen war hervorragend, und ich konnte mich nicht erinnern, jemals so eine gute Fischsuppe gegessen zu haben.
Ich sprach die Kellnerin sogleich auf das Essen an: "The soup was really fantastic." "Yes, I know", antwortete sie lächelnd. "What kind of alcohol was in there?" wollte ich wissen. It's Brennivin and white wine, as far as I know", antwortete sie. "But the receipe is a secret of the chef", sagte sie augenzwinkernd.
"But, of course. Please tell him it was excellent", antwortete ich. Sie nickte lächelnd und wendete sich ab.
Das Museum hatte mehrere Hallen, die alle ein Bild von der einstigen Heringszeit vermittelten. Mir gefiel natürlich das alte Maschinenhaus am besten. Fine spielte auf dem ausgestellten Fischkutter, während ich über die Verwendung eines alten britischen ASDIC-Ortungsgerätes beim Fischfang las. Auch die Tatsache, dass die isländische Fliegerei ihren Ursprung in der Heringsortung hatte, fand ich spannend.
Weiter führte uns die Reise nach Hofsós, wo es ein schönes Schwimmbad mit Meerblick geben sollte. Wir kannten das Dorf noch von 2012, hatten keine Lust auf viel Fahrstrecke und mussten mal wieder duschen. Den Campingplatz teilte eine südamerikanische Familie mit uns. Die Armen hatten bei dem Wind keine Chance, in dem vor dem Auto aufgestellten Zelt zu übernachten. Frierend trieben sie sich bei den Waschhäusern herum. In der Nacht kam noch ein großes Wohnmobil dazu.

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29.08.2017
Mit dem Fahrer, einem Deutschen, unterhielt ich mich eine ganze Stunde lang. Wie so oft sprach er mich auf den Unimog an und interessierte sich für unsere Art zu reisen. Sie hatten selber 3 Kinder dabei, die aber schon größer waren. Nach der Reise sprach mich ein Arbeitskollege an, der von dem Treffen mit seinem Schulfreund "Jochen" berichtete. Offensichtlich handelte es sich um meinen Gesprächspartner, der seinerseits von dem Treffen mit dem "Ullimog" berichtete. Wie klein die Welt manchmal ist.
Das Schwimmbad öffnete um 11 Uhr. Wir waren an diesem Tag die ersten Gäste und hatten die Becken an der schönen hohen Basaltküste zunächst für uns ganz alleine. Später gesellten sich noch eine französische Familie und eine kleine Gruppe Amerikaner dazu. Fine hielt tapfer ihren in Müllbeutel eingepackten Gips aus dem Wasser und Felix wurde mit seiner Euphorie und seiner Begeisterung für das Wasser zum Alleinunterhalter in dem warmen Pool.
Das Wetter besserte sich mit jeder Minute. Inzwischen konnten wir das andere Ufer des Fjords hinter dem Nebel ausmachen. Wir hatten ursprünglich vor, den Tag hier zu verbringen, brachten das aber bei dem blauen Himmel nicht so recht fertig. Vom allgemeinen Aufbruch angestachelt, verließen auch die vier jungen Amerikaner mit uns das Bad. Beim Kaffee im Foyer unterhielten wir uns trotzdem noch eine ganze Stunde lang. Sie interessierten sich für das europäische Elternzeitmodell, von dem sie schon so viel gehört hatten. Das fanden die natürlich toll, aber als sie von unseren Abzügen in Europa hörten, relativierte sich das. "You will not make a deal", versicherte ich. Eltern sein hat meiner Ansicht nach mit "Geschäft" ohnehin nichts zu tun. Wir verabschiedeten uns und verfrachteten die Kinder in den Unimog, dort schliefen sie sofort ein. Mit unserer Babyphone-App bestand die Möglichkeit, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Hinter dem Schwimmbad führte eine Treppe hinunter zum Meer. Auf den dicken sechseckigen Basaltsäulen konnte man die Steilküste ein ganzes Stück entlangspazieren.



"Guck mal auf die Karte, wo wir sind", übergab ich Ulli im Fahrerhaus das sperrige Papier. Sie las die Orte der Gegend vor, die uns auf der Fahrt nach Süden demnächst begegnen würden. "Du, Sauðárkrokur ist die Pferdehauptstadt von Island", klärte ich Ulli auf. "Dann könnte ich ja mal wieder reiten gehen", klatschte sie begeistert in die Hände. "Ein Ausritt am Strand fehlt mir doch noch", fügte sie hinzu. "Na dann guck mal in Dein Smartphone, wo das hier geht", schlug ich vor. "Nee, wir fahren einfach, ich guck', was mir gefällt, und wenn das alles nichts nützt, fragen wir in der Touristeninformation", entschied sie. Nun denn, da würde ich mich ohnehin raushalten und in der Zeit die Kinder hüten.
Selbstverständlich fand sich mit Helluland ein Isländisch-Deutscher Reiterhof, der dies kurzfristig anbot. Das Anwesen war für einen isländischen Pferdehof geradezu typisch. Natürlich hatte da eine teutonische Frau einen Wikinger geheiratet. In meinen Augen stellte das ohnehin die Traumkarriere eines deutschen Pferdemädels auf der Insel dar.
Das läuft dann so ab: Zunächst kommen die Mädchen in den Ferien und arbeiten, sehr leidenschaftlich, auf einer Reiterfarm als Aushilfe. Im nächsten Jahr kommen sie wieder und dürfen dann schon alleine Touristen auf die angebotenen Ausritte mitnehmen. Es folgt der Erwerb eines eigenen Pferdes, was längere Aufenthalte in Island immer wahrscheinlicher werden lässt. Wenn die dann noch ihre Karten richtig spielen, angeln sie sich einen einheimischen Mann, der einen eigenen Hof besitzt. Sollte der Hof groß sein und gut liegen, befinden sie sich im Islandpferdemädel-Nirwana, was dann bekanntlich auch nicht mehr steigerungsfähig ist. Ob es hier so war, kann ich natürlich nicht sagen, aber groß und schön war der Hof.
Während Ulli bei Sonnenschein einen 2-Stunden-Ausritt am Strand machen durfte, blieb ich mit Fine und Felix zurück. Meine Tochter war schon enttäuscht, diesmal nicht mitreiten zu dürfen, aber Ulli wollte auch mal schneller machen und bestand darauf, dieses Mal alleine zu gehen. Da gab es nichts zu diskutieren, und Josefine musste sich fügen. Die Chefin des Hofes setzte sie aber zum Trost noch für eine kleine Runde ohne Sattel auf ihr Pferd und führte sie einmal über den Platz. Auf diese Weise heiterte sie das Mädchen wieder auf. Dann verriet sie uns die besten Fundstellen Islands für Blaubeeren. Die wuchsen hier in einer Fülle, die ich hier noch nie gesehen hatte. Zwischen kleinen Felsen, in der Heide kniend, pflückten wir eine ganze Stunde lang die kleinen blauen Kugeln. Dann sahen wir in der Ferne die kleine Reitergruppe zurückkehren.



Zum Abendessen gaben wir uns einen Burger an der Supermarkt-Tankstelle in Varmalið. Hier saßen viele einheimische Lastwagenfahrer, und aus irgendeinem Grund bestellten die alle Lammkoteletts, während die Touristen Hamburger und Cheeseburger orderten. Selbstredend wurde ich neugierig auf das Lamm, was tatsächlich hervorragend schmeckte. Ich teilte meine Koteletts stets mit Felix, der dauernd den Mund aufsperrte und Nachschlag forderte.
"Hier haben wir schon mal nach einem Ausritt gegessen", erinnerte ich Ulli. "Ja genau, da saßen wir da drüben", bestätigte sie.
"War ich da schon auf der Welt?" wollte Fine wissen. Sie bekam ein zweistimmiges "Nein", über das wir alle lachten.
Außerdem fuhren wir die F756 letzte Woche schon einmal in der Dämmerung.



Der klare Himmel ließ das Nordlicht schon während der Abenddämmerung erscheinen. Natürlich fuhren wir hier zum zweiten Mal, aber das störte niemanden. Die sensationelle Fernsicht lenkte mich mehrfach von der Piste ab. Ich schlug öfter vor, doch für ein Foto anzuhalten, aber Ulli behauptete: "Das kommt nicht gut raus."
"Die Vorhersage kündigt wieder gutes Nordlicht an", informierte ich Ulli in der Hoffnung, sie würde sich das diesmal mit mir zusammen anschauen.
In dieser Nacht stellte ich also wieder den Wecker, schon weil Josefine das "Himmelsleuchten" diesmal unbedingt sehen wollte.
Sie konnte sie jedoch nicht wach bekommen, und ich hatte keine Lust, stundenlang an einem schlafenden Kind mit nach innen gedrehten Augen herumzurütteln. Also klettere ich wieder durch die Luke auf das Dach und staunte alleine. Ulli guckte nur kurz, fand aber die nächtlichen 1°C, dann doch etwas frisch und verkrümelte sich gleich wieder unter ihre Bettdecke. "Das kann man ganz gut auch hier durchs Fenster sehen", behauptete sie piepsend.




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30.08.2017
Mittags wollten wir wieder in Kerlingarfjöll sein, um die Ostroute nach Süden aus dem Hochland rauszufahren. Diese Piste juckte mich schon seit Jahren, und bei dem genialen Wetter musste das einfach sein. Wieder rumpelten wir die F35 nach Süden, passierten die Einfahrt zur Hofsjökull-Tour mit den Worten: "Guck mal, da sind wir mit Siggi reingefahren." "Wo, wo?" wollte Josefine von hinten unbedingt wissen. "Leider auf der anderen Seite", antworteten wir. Bei uns kann man leider nur nach rechts aus dem Koffer gucken. Wir bogen zum Kerlingarfjöll ab und parkten zum Mittagessen wieder auf unserem angestammten Platz.
Bei eitel Sonnenschein und für diese Jahreszeit viel zu hohen Temperaturen schnappte ich mir meine Nudelschüssel und setzte mich zum Essen mit Felix ins Freie. Wir saßen auf einem der Baumstämme, die hier zur Begrenzung der Parkfläche ausgelegt waren. Plötzlich und etwas überraschend sprach mich einer unserer Nachbarn an. Markus ist ebenfalls Unimog-Fan und kannte mich aus dem Internet. Er arbeitete gerade an einem Projekt auf Dingo-Basis mit einem selbst gebauten Wohnkoffer. Wir unterhielten uns eine ganze Weile über Materialien, Fertigungsmethoden und Unimog-Spezifika. Schließlich verabschiedeten wir uns nett und bereiteten unsere jeweilige Weiterfahrt vor. Ich wollte am selben Tag noch nach Setrið kommen, und die Zeit drängte. Wir hupten, sehr zum allgemeinen Gelächter, noch zum Abschied und fuhren an den vielen geparkten Autos vorbei vom Platz. Dabei kam ich mir vor wie beim Spießrutenlauf. Die bunten Touristen in ihren tollteuren Outdoorladen Schnäppchen schauten uns nicht gerade freundlich an und hielten mürrisch inne. Sie unterbrachen ihre Zeltbauarbeiten und das Ausräumen ihrer Autos und folgten mit ihren finsteren Blicken unserem langsam von dannen rollenden Fahrzeug. Einer von den Dacia-Deppen hielt sich sogar noch demonstrativ die Nase zu, als der leicht blau rauchende OM352 aus armdicken Rohren in seine Richtung blies. Vermutlich glaubte dieser Geselle auch noch, unser alter Unimog wäre eine Umweltsauerei. Dabei hat alleine die Produktion seines dämlichen SUV-Verschnitts mehr Energie gekostet, als unser alter Karren in seiner Restlebenszeit an Diesel je saufen kann beziehungsweise wird.
Vermutlich ist der obendrein auch noch mit dem Flugzeug auf die Insel geflogen. Ganz ehrlich, ich habe noch nie einen Jet mit Rußpartikelfilter gesehen.
Wir tuckerten aus dem kleinen Talkessel heraus oben auf die Anhöhe. Allerdings führte die Piste auch gleich wieder runter zur Nordpassage um das Kerlingarfjöll herum. Das Gebirge leuchtete in den schönsten Farben zu uns herüber. Ulli wollte öfter für ein Foto aussteigen.



Schmerzhaft weiß glänzend leuchtete zum linken Fester der nahe strahlendweiße Hofsjökull herein. Durch meine Sonnenbrille kam mir die ganze Gegend wie in einem Drogenrausch vor. Diese kräftigen Kontraste waren derart beeindruckend, dass ich das Ding an Josefine weitergab. Sie war daraufhin für einige Sekunden sprachlos. Meine Tochter wollte diese Passage unbedingt in der Nähe ihrer total eingetauchten und ständig "Ohh" und "Ahh" rufenden Eltern verbringen und war nach vorne ins Fahrerhaus geklettert. Sie saß nun zwischen uns und setzte ebenfalls staunend die Brille auf und wieder ab. Felix saß hinten, quiekte vergnügt und hatte für die landschaftlichen Reize wenig übrig. Als ich die Aufnahme zwischen den Achsen heraus machte, verlor ich, auf dem Bauch liegend, leider den Objektivdeckel der Kamera. Dummerweise bemerkte ich den Verlust erst einige Kilometer weiter und lief die Piste zu Fuß zurück, um keinen der vielen vergangenen Fotostops und damit die Möglichkeit, den Deckel wiederzufinden, auszulassen. Einem glücklichen Zufall geschuldet, fand ich das Teil sogar und hielt es, Lob erwartend, Ulli unter die Nase. "Brav, brav", sagte sie und tätschelte meinen Kopf. "Können wir jetzt weiterfahren?"



Die Piste verlief zunächst in unmittelbarer Nähe des Kerlingarfjöll-Gebirges. Wir durchfuhren große, offene Flächen, die von zarten, glitzernden Bachläufen durchsetzt waren. Dann begannen die steinigen Abschnitte, und bisweilen führte der Track auch über scharfe Lava. Erwartungsvoll erklommen wir die vielen kleinen Buckel. Jede neue Aussicht stellte die jeweils vorangegangene in den Schatten. Einige Abschnitte konnten wir nur sehr langsam durchfahren, aber richtige Gemeinheiten oder Schwierigkeiten gab es nicht. Trotzdem strengte dieser Track uns enorm an und zog sich in die Länge. Völlig geschafft erkannten wir endlich die Hütten des isländischen Allradclubs. Wir fanden Setrið ganz leer vor, und so stellten wir unseren Unimog brav auf dem großen, durch weiß bemalte Steine begrenzten Parkplatz ab. Das Wetter hatte sich inzwischen merklich verschlechtert und erste Regenschauer prasselten waagrecht gegen die Aluminiumhaut des Koffers. Mit gefiel diese Ecke hier. Wir befanden uns auf einem kleinen Plateau, welches die riesige schwarze Ebene vor uns überragte. Der Blick auf das böse und bedrohlich hereinziehende Wetter sorgte für die richtige Stimmung. Ich zog mir ein Bier auf und blickte, in der Küche stehend, immer wieder nach draußen. In der Pfanne brutzelte eine schön gewürzte Lammbeinscheibe. "Jawohl", rief ich laut, so macht Unimogfahren Spaß. "Der Unimog punktet nicht nur auf der Piste, sondern vor allem danach", behauptete ich und prostete Ulli zu.
"Hauptsache, Du freust Dich", antwortete sie und schaute hungrig nach Ihrem Essen. Dabei klickerte sie emsig an ihren Fotos herum.
Als wir uns schließlich gemütlich zu viert zum Dinner an unser Panoramafenster setzten, brach draußen die Hölle herein. Zornig rüttelte der Sturm am Koffer. Flink rasten die Regenschauer durch die Ebene, und nur ab und zu traf uns noch ein Strahl der besonders tief stehenden Sonne. "Das ist mal eine Kulisse", rief ich und fand es urgemütlich, jetzt hier zu sein. Josefine verdrückte endlich mal ein anständiges Stück Fleisch. Sie nagte sogar den Knochen ab und ließ selbst von dem Fett nichts übrig. Ulli und ich nickten uns zufrieden zu. Wir dachten beide, dass unser kleines Mädchen mit Ihrem gebrochenen Arm mal was Anständiges zwischen die Rippen braucht. "Das hat die jetzt nötig", beschlossen wir. Zum Nachtisch schauten wir noch "Harry Potter und der Stein der Weisen", während das stürmische Wetter in der Umgebung vergeblich versuchte, uns zu belangen.


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31.08.2017
Wir benötigten alle diesen Pausentag. Auf unseren vorangegangenen Islandurlauben hatten wir Auszeiten sehr zu schätzen gelernt. Die Fahrerei und die Pistenrappelei sind eben anstrengend und erfordern ab und zu mal einen Tag Ruhe. Da sich das Wetter immer noch nicht wirklich beruhigt hatte, beschlossen wir, schlicht an Ort und Stelle zu bleiben. Mehr aus Langeweile machte ich gelegentlich einen Rundblick durch das Periskop. Ich zoomte mich in unserem Tal durch alle Ecken, nur um mich wieder genüsslich unter die Bettdecke zu verkriechen und mein Buch weiterzulesen oder mit den Kindern zu kuscheln. Ausnahmsweise hatten wir die Heizung weit aufgedreht, was den Gemütlichkeitsfaktor nochmal entscheidend erhöhte. Plötzlich konnte ich auf der gegenüberliegenden Talseite ein Fahrzeug erkennen, welches sich langsam über die weithin sichtbare Piste näherte. Neugierig drehte ich die Optik auf den unerwarteten Eindringling ein. Es handelte sich um einen roten Geländewagen. Ohne Zweifel irgend etwas Asiatisches, denn nur Reiskocher können auch auf diese Entfernung noch einen effektiven Würgereiz auslösen. Die bauen zwar qualitativ hochwertige Fahrzeuge, aber mir fällt nicht eine einzige Fernost-Mühle ein, die auch nur ansatzweise optisch ansprechend ist. Ok, ich stehe nicht auf diesen Manga-Quatsch, und ich würde mir auch nie getragene Schlüpfer aus dem Automat ziehen. Vielleicht überwiegen da ja schlicht die falschen Vorurteile, und möglicherweise sollte ich jetzt nicht erwähnen, dass ich ganz gerne Sushi esse.
Jedenfalls blieb das Auto an dem kleinen Hang stehen, der hinunter in die Ebene führte. Kühl berechnend erfasste ich mit dem Entfernungsmesser die Konturen des Eindringlings. Mein Periskop stammt aus dem Kanonenjagdpanzer Jaguar und ist in der Lage, die Schussdistanz zum Ziel mittels Triangulation zu berechnen. Ich konnte die dazu erforderliche Dimension des Ziels nur schätzen, kam aber auch ohne Feindfahrzeugkatalog auf glatt 1000 m. Leider reichte die Sicht nicht ganz aus, um den Gesichtsausdruck des Fahrers zu erkennen. Der stieg aus und schritt das kurze Gefälle zu Fuß ab. "Sag mal, der fürchtet sich doch nicht etwa vor dem kleinen Abhang da drüben", sprach ich laut aus. "Was spielst Du denn schon wieder an dem Periskop rum?" lästerte meine Frau. "Wir bekommen Gesellschaft", ließ ich Ulli wissen, die sich aber nicht weiter dafür interessierte. "Mensch, wenn an der Optik jetzt noch die 105-mm-Kanone dranhängen würde, dann würde ich jetzt der Karre einen verpassen. Dem würde ich glatt hinterm Rücken das Auto wie eine entwertete Fahrkarte ablochen", freute ich mich. "Feindfahrzeug gestoppt auf 1000 m, Feuer frei", plapperte ich. Dann stieg der Typ wieder ein, drehte um und fuhr in die Richtung davon, aus der er gekommen war. "Hurra, Treffer, ein herrlicher Sieg für den Unimog, die Ruhe bleibt gewahrt", rief ich aus und nahm das Auge vom Okular. "Der hat sich den Buckel nicht runtergetraut", mutmaßte ich. Tatsächlich beschreiben diese Stelle einige Offroadführer als "extrem steil". Nach meinem Dafürhalten hatte die aber nur rund 30° und war eben etwas ausgefahren, jedoch kein echtes Hindernis für einen durchschnittlichen Geländewagen.

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01.09.2017
In Island ist bekanntlich das "wilde Campen" verboten. Wem das nun gilt und ob am Ende die ganze Herumscheißerei der Mini-Camper dafür verantwortlich war, ist wohl ziemlich egal. Isländer halten sich oft nicht daran, und ich sprach mit mehreren Einheimischen, die mir völlig nüchtern erklärten, das gelte nur für Touristen. Da wir Touristen sind, fühlen wir uns selbstverständlich angesprochen und werden uns strikt an dieses Gebot halten, ganz besonders, weil es nur für uns gilt. Obendrauf haben und werden wir in unserer Zeit in Island keine Haufen hinterlassen und gebrauchen selbstverständlich immer unsere Chemietoilette. So wirklich wild campen kann man das hier auf dem Parkplatz mit mehreren Hütten ja auch nicht nennen. Wir befanden uns jedoch zweifelsfrei auf dem Privatgelände des isländischen 4x4 Clubs und rechneten ungefragt mit deren Gastfreundschaft. Auch konnten wir keine Metallbox zum Entrichten der Übernachtungsgebühr finden.
Das Beste in so einem Fall ist mit Sicherheit die entsprechende Modifikation des Reiseblogs, wobei man solche Vergehen geschickt vertuscht oder auch ganz auslässt. In der Tat ein effizientes Mittel. Da wir uns aber außer Stande sahen weiterzufahren, beschloss ich, unsere Effizienz sinnvoller einzusetzen.
"Du wir machen denen den Vorplatz sauber, damit unser Aufenthalt nicht ganz umsonst ist", schlug ich vor. "Ich bin mir sicher, hier liegt allerhand Müll rum, den sammeln wir ein, nehmen ihn mit und entsorgen den Kram." So ein Verein existiert schließlich aufgrund eines gewissen ehrenamtlichen Engagements. Wie die Tellerwäscher würden wir unsere Rechnung begleichen. Ich konnte natürlich auch Josefine für das Sachensucher-Spiel begeistern und erhielt in ihr einen motivierten Helfer. Meine kleine fleißige Helferin und ich schritten daraufhin systematisch, in Streifen laufend, das Feld ab. Wir hoben alles auf, was sich fand. Volle drei Stunden widmeten wir uns dem Vorplatz und sammelten allerhand Krempel, der mich richtig überraschte. Schließlich begannen wir, die Fundstücke in Kategorien aufzuteilen, die auf der Highscore-Liste jeweils unterschiedliche Bewertungen bekamen. Am höchsten im Kurs waren Brocken, die zweifelsfrei eine automobile Herkunft hatten. Davon gefolgt war Material aus dem Hausbau, welches wir in Metalle und Kunststoffe einteilten. Kronenkorken, Zigarettenkippen und Seilreste erhielten eine eher niedrige Einstufung, weil sie zu zahlreich vorkamen. Zur Begutachtung legten wir unsere gesamte Beute auf einem der neu geschalten Streifenfundamente aus. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Bei 300 hörte ich auf, die Nägel zu zählen, die den größten der Haufen bildeten. "Allein für die ganzen potentiellen Reifenschäden hat sich unser Einsatz schon gelohnt", erklärte ich Josefine, die gerade ein paar Edelstahl-Holzschrauben zu einem kleinen Turm stapelte. Den Titel "coolster Fund" holte mit Sicherheit das kaputte, rostige Radlager, welches mitten auf dem Platz lag. Zusammen mit dem übrigen Müll packten wir alles in einen großen blauen Müllsack und verstauten es in der Reserveradmulde des Ullimog.





Am Nachmittag beschlossen wir die Weiterreise. Ich plante die "Ostroute" über das Kerlingarfjöll aus dem Hochland heraus zu fahren. Der gewaltige Gletscher, der gleich hier hinter dem kleinen Buckel liegt, stellte für mich dabei symbolisch das zentrale Hochland dar. Von dort aus beginnt die Erosion, hier kommen die Flüsse her, und von hier abwärts bekommt die Vegetation mehr und mehr Chancen. Die folgenden hundert Kilometer werden uns diesen fließenden Übergang von der Eiswüste über die Sandwüste, über Geröllwelten bis hin zum Meer, eindrucksvoll präsentieren. Die totale Einsamkeit würde unser Begleiter sein, und wir rechneten aufgrund der Beobachtungen der letzten Tage nicht mit Gesellschaft. Tatsächlich überholte uns kurz hinter Setrið ein alter isländischer Jeep, der aber neben dem umkehrenden Fahrzeug vom Vortag den einzigen Verkehr auf dieser Piste darstellte.
Sand-und Steinpassagen wechselten sich zunächst ab, wobei uns auffiel, dass die großen Steine jeweils auf den Höhen lagen, wohingegen die sandigen weichen Strecken vornehmlich in den Senken zu finden waren. "Da bläst der Wind mit der Zeit eben das leichte Material in die Kuhlen, und auf den Buckeln bleiben nur die schweren Brocken liegen", erklärte ich mir das Phänomen. Ulli stimmte mir zu. In der riesigen leeren Umgebung genossen wir die totale Einsamkeit. Nur der winzige silberne Unimog brummte, behäbig, der Richtung des Wassers folgend, durch diese Landschaft. An der Furt der Kisa füllten wir mit einer Menschenkette und der kleinen grünen Gießkanne, die ich für 300 Kronen im Billignippesgammelmarkt erstanden hatte, unsere Wasservorräte wieder auf. Es folgte noch eine weitere mehrarmige Furt in einer sumpfigen und buckelig ausgefahrenen Senke.
Die Furt der Dalsa erschien zunächst breit und nicht unproblematisch. Ich hatte keine Lust, bei dem Nebel und Regen auszusteigen, und so verließen wir uns auf die im Wasser aufgestellten Stickel, die den bogenartigen Verlauf der Flachwasserzone markierten. Im Nachhinein blieb der ganze Fluss nur handtief, und die größte Aufmerksamkeit verdienten die scharfkantigen Steine auf dem Grund. Ich setzte daher meine Sonnenbrille auf, um mit Hilfe des Polfilters durch das klare Gewässer sehen zu können.
Ulli lästerte ein wenig über das Bächlein, unterstützte mich aber bei der Findung der besten Route an das andere Ufer.
Fortan führte die Strecke oberhalb des nahen Tales der Þjórsá entlang. Auf den Anhöhen konnte man zuweilen den Canyon links der Straße erkennen. Neben einer kleinen Furt lag recht eindrucksvoll eine rostige Antriebswelle, die den den typischen Scherbruch zeigte, unter dem die häufig in amerikanischen Fahrzeugen eingesetzte Konstruktion leidet. Das wäre ein prima Auto-Souvenir gewesen...



Bei Glijufur tauchte aus dem Nebel plötzlich eine Hütte auf, und für einen kurzen Moment wurde der Blick auf das große Tal frei. "Hier möchte ich fotografieren", sagte Ulli, schnappte sich in der nächsten Regenpause gleich das Stativ und wir unternahmen zusammen eine kleine Wanderung. Im Gänsemarsch folgten wir alle vier den Schafspfaden. Vor dem immer stärker werdenden Regen flüchteten wir uns schließlich zurück in den warmen Mog und machten Kaffee und Kakao. Die lange Dämmerung setzte ein und bei der schlechten Sicht wollten wir nicht weiterfahren. Daher übernachteten wir bei der Hütte. Am Abend gab es dann noch "Harry Potter und die Kammer des Schreckens" aus der digitalen Dose.

      Kartenansicht

      GPS Track

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02.09.2017
Der Zustand des Tracks besserte sich nun merklich. Seit wir die Hütte hinter uns gelassen hatten, fuhr der Unimog auf einem Feldweg, der bequem auch mit einem PWK hätte befahren werden können. Offensichtlich wurde der Track als Versorgungsweg des Anwesens genutzt und entsprechend bearbeitet. Ich würde sogar Wetten abschließen, dass hier tiefergelegte Odenwald-Prollkarren entlanghoppeln könnten, ohne ihren viel zu tief gehängten Riesen-Auspuff zu verlieren.
Da der Tag noch jung war, bogen wir in Richtung Pjóðveldibærinn ab. Leider hatten wir die Öffnungszeiten nicht berücksichtigt und stellten fest, dass wir 2 Tage zu spät an der Sehenswürdigkeit standen. Die Saison endet hier jedes Jahr am 31. August. "Schade, ich wollte so gerne auch noch Fotos von innen machen", jammerte Ulli. Also widmete sie sich wieder ihren Makro-Pilzaufnahmen, von denen einige ganz ansehnlich rauskamen.





Glücklicherweise hatte noch niemand die Wasserfälle in dem nahen Elfenzaubergebiet "Gjáin" abgestellt. "Das brauchen die auch nicht, die betreiben die Pumpen bestimmt mit Erdwärmekraftwerken und das macht den Strom billig", schloss ich. "Rede keinen Quark, das sind echte Wasserfälle", korrigierte mich Ulli. "Kann doch gar nicht sein, die wären doch viel zu kitschig" beschloss ich.
"Die Ecke ist schon ganz schön niedlich", musste ich zugeben. Fine flippte beinahe aus vor Elfenzauber, und ich bekam Angst, ihr könnten spitze Ohren wachsen, sobald sie hier an der falschen Blume riechen würde. Leider hatten wir das Stativ für schöne Wasserfallaufnahmen im Unimog liegengelassen und so musste Ulli das Langzeit-Foto mit einem aus Steinen und Ästen improvisierten Kamerahalter machen.



Das Gefühl,, nach Tagen der Einsamkeit wieder in der Zivilisation zu sein, machte uns Mut, eine viel besuchte Attraktion aufzusuchen. Fine sollte schließlich mal einen richtigen Geysir sehen, und wir hofften inständig wegen des schlechten Wetters und des auslaufenden Tageslichtes auf geringe Besucherzahlen.
Im Kreis um die berühmte heiße Quelle Strokkur standen mindesten 50 Personen und warteten auf den nächsten zyklisch stattfindenden Ausbruch. Belustigt beobachtete ich die Filmemacher, die jeweils einen freien Raum für sich beanspruchten und dicke, fette Tablets oder Smartphones waagrecht am ausgestreckten Arm balancierten. Andere wiederum nutzten die Vollpfostenantenne, was sie mit dem Rücken zur heißen Pfütze stehen ließ. Angesichts des Wetters verzichtete ich auf jede Form der Aufzeichnung. Ulli wollte jedoch unbedingt die Eruption filmen, und so hielt ich ihr, so gut es ging, während der Wartezeit die Konkurrenz vom Hals. Kurz vor dem mit vielen "Ohhs" und "Ahhs" begleiteten Ausbruch lief uns dann so ein dämlicher Chinese vor die Nase, ruinierte damit auch die Filmaktionen der Personen neben uns und verzog sich ohne ein Wort des Bedauerns. Die Kanadier und Japaner neben uns rollten genervt mit den Augen. "Wir fahren heute nicht mehr weit, ich bin fertig für heute", ließ ich Ulli wissen.
Ganz in der Nähe fand sich ein großer Campingplatz direkt an der Straße. "Ist ja nicht gerade romantisch, aber das soll mir heute egal sein", sagte ich und setzte den Blinker.
Auf der nassen Wiese standen mindestens 20 Kuku-Camper und ebenso viele Minijeeps mit Dachzelt. Wir wählten einen Platz möglichst weit von den "Facilities" und stellten mit dem Hintern zum Zaun den Unimog ab. In der Nachbarschaft parkte ein Landrover Defender mit eigener Ausklapp-Zeltstatt. An das Fahrzeug war so ziemlich alles drangeschraubt, was der Aftermarket zu bieten hatte. Da gab es eine Winde, Sandbleche, Dachkanister, Riffelblech-Boxen, Zargeskisten, Schaufeln, Hilifts, diese komischen Traktionspads und natürlich reichlich Scheinwerfer. Alles blitzte nagelneu und völlig unbenutzt. Irgendwie erinnerte mich die Karre an ein Multifunktions-Tool. Da sind auch tausend Werkzeuge dran, die aber allesamt für richtige Arbeiten nichts taugen. Schmunzelnd stellte ich fest, dass der Besitzer ein ebensolches Ding auffällig am Gürtel trug. Überhaupt war der Mann Ton in Ton mit seinem Auto gekleidet und trug, wie sollte das auch anders sein, Softshell und Zipperhosen. "Guck Dir den an, der ist ja für alles gerüstet", lästerte ich. "Lass den doch, der fährt genauso nach Island wie wir, und der freut sich bestimmt genau so über sein Auto wie Du über den Unimog", wies mich meine Frau zurecht. "Deine Lästerei ist manchmal echt daneben", stellte sie fest.
"Na vielleicht, aber ein echter Isländer braucht den ganzen Krempel nicht, wenn er in die Landschaft fährt. Der rollt lieber auf 44-Zoll-Reifen, und alles, was der einpackt, ist 'ne Pulle Schnaps und ne Lammkeule". "Nur Weicheier bereiten sich auf Eventualitäten vor. Ein echter Wikinger krepiert lieber satt und besoffen an seinen Versäumnissen", motzte ich zurück. "So peinlich habe ich hier jedenfalls noch keinen Einheimischen daherkommen sehen."
"Dein Gelaber ist auch peinlich", bestimmte Ulli.
Zum Einschlafen schauten wir noch "Harry Potter und die Kammer des Schreckens". Wie der riesige Monster-Basilisk so mir nichts dir nichts gegen den mickrigen Zweitklässler abkackt, fand ich auch peinlich. Voldemort ist jetzt bestimmt sauer, dass sein Haustierchen versagt hat. Vielleicht hätte er es auch entsprechend "pimpen" sollen.

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03.09.2017
In dem Toilettenhaus stand vor jedem der 4 kleinen Waschbecken eine amerikanische Tussi, die sich mit bis unter den Hals zugezogener Daunenjacke das Make-Up erneuerte. Für die Duschen waren sie sich vermutlich zu fein. So irgendwie muss sich Barock angefühlt haben. Daher lief ich demonstrativ mit T-Shirt und Jeans über den Grasplatz und hatte absolut keine Lust, mich zum Rasieren neben diese Tanten zu stellen. Also wusch ich mich hinter dem Haus an den Spültischen bei den Müllcontainern im Freien. Neben dem Unimog stand ein deutscher Porsche Cayenne vor einem großen Zelt. Der Fahrer putzte mit kleinen Papiertüchern aus der Schachtel das Kondenswasser von den Scheiben und Rückspiegeln und drehte mit einem Akkuschrauber die Gewinde-Heringe aus dem Boden. Dann schickte er seine Frau mit Müll beladen über die große Wiese zum Container. Ulli begann sogleich zu schimpfen, da stoppte ich sie und erklärte ihr, das SUV fahrende Männer eben so drauf sind.
Wir fuhren nochmal ins Geothermalgebiet bei Geysir, und Fine quiekte jedes Mal vor Vergnügen und Schreck, als der Strokkur ausbrach. Daraufhin fing Felix auch immer das Plärren an. Das wollten wir den anderen Gästen, die darüber meistens lachten, aber ersparen und fuhren weiter.
Von dem schönen Schwimmbad in Laugarvatn hatten uns Jochen und Nervin berichtet. Angeblich liegt es schön, wenn es auch sehr touristisch und teuer ist.
Das Beste aber war das Bierausgabe-Fenster zum Badebereich hin. Viele Gäste lagen in den heißen Pools am Ufer des Sees und hatte einen Becher Bier neben sich abgestellt. Besonders die amerikanischen Gäste wurden euphorisch und tranken ausgiebig. Ich riss mich zusammen und machte lieber 4 Saunagänge, weil ich das Abkühlen in dem kalten See so toll fand. Eine isländische Familie inklusive Oma und Enkel ging sogar richtig schwimmen. Das wollte ich mit Josefine auch machen und zeigte ihr, wie man sich nach der Sauna kalt badet. Dazu glitt ich langsam in das dunkle Wasser und entspannte mich dabei. Auf dem Boden des Sees sitzend forderte ich meine Tochter auf, es mir gleich zu tun. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, mit dem Papa kalt zu baden, zögerte aber zunächst. Ich wusste, dass sie sich letztendlich überwinden würde. "Aber nur bis zum Hals", sagte sie und setzt sich, ohne mit der Wimper zu zucken, neben mich. "Das ist aber ganz schön kalt", sagt sie leise. Ich hielt dabei ihr Händchen.
Die Amerikaner mit den Bierbechern standen plötzlich auf dem Holzsteg über uns, hielten nur kurz den Fuß ins Wasser und sagten die Sache ab. "Look, these people must be finnish or russian", sagten sie auf uns zeigend. Sie hatten wohl mitbekommen, wie ich mit Josefine deutsch gesprochen hatte. "Das war Englisch", flüsterte Josefine, als die Amis abrückten.
Am Unimog stand ein älterer Isländer, der sich offenbar sehr für unser Gefährt interessierte. Er sah uns ankommen und sprach mich an. Er wusste tolle Geschichten von den Anfängen der Geländewagenfahrerei auf Island. Es hätte zwar schon länger Autos auf Island gegeben, aber Straßen gab es auch nach dem Krieg noch keine guten. Die Amerikaner verkauften damals im großen Stil ihren militärischen Fahrzeugpark, der in der Heimat nun nicht mehr gebaucht wurde. Als besonders beliebt hatte sich der Willys-Jeep herausgestellt.
Nun konnte man die schlechten, schmalen Straßen einigermaßen befahren und im Vergleich zum Pferd große Etappen am Tag schaffen und viel Nutzlast mitführen.
Leider hatten die Fahrzeuge keinen guten Korrosionsschutz und rosteten im Seeklima bis zu den 60er Jahren fast vollständig weg. Es gäbe nur noch die, die wenig benutzt wurden, erklärte er. "Today, icelanders buy american or japanese Trucks and modify them." "Some put 40-inch wheels on those cars, to drive on the snow", fuhr er fort.
Ich erklärte ihm, dass der Unimog ein anderes Fahrzeug sei, welches für die Wald- und Feldarbeit gebaut wurde, um gleichzeitig als Traktor und Lastwagen zu nützen.
Er freute sich über die Unterhaltung und wollte noch unter die Haube schauen. "It looks like a Tractor engine", meinte er. "It is a traktor engine", bestätigte ich ihm. "Ohh, it is a Mercedes Benz", wunderte er sich. Unser Unimog hat nämlich keinen Stern vorne drauf. Den hatte ich kurz nach dem Erwerb schon abgebaut. "It's a 5.6 liter inline-six diesel" erzählte ich. "How many horses?" wollte er wissen. "About 130", antwortete ich. "It is a bit weak sometimes", gab ich zu. "It is very solid, a long lasting tractor motor", konterte er und gab mir den Daumen hoch. "I am happy if it gets us home again", fügte ich hinzu.
Ulli mochte unbedingt raus aus der Zivilisation und fing an, über die "anderen Touristen" herzuziehen. "Du klingst ja schon wie ich", lachte ich sie aus. "Fahr einfach von der Straße runter in die Pampa", forderte sie. Da kündigte ein Schild die F337 an, und ich hatte nichts dagegen, auch wenn wir ursprünglich woanders fahren wollten. An einer isländischen Feriensiedlung vorbei schlängelte sich die Piste steil und steinig den Berg hinauf. Zeitweise brauchte ich den 3. Gang, nicht weil es langsam gehen musste, sondern tatsächlich, um hoch zu kommen. Nach mehreren Minuten Vollgas am Drehzahlanschlag sprang der Lüfter an. In diesen Tagen hatte ich immer ein Auge auf die Temperatur und konnte ihr hier bestens beim Klettern zusehen. Ich hielt das Gaspedal weiter voll gedrückt und brauchte für den gesamten Anstieg jedes einzelne Pferd. "92°C", meldete Ulli. Nur zur Sicherheit ging ich vom Gas, weil ich die Situation für eine Erprobung als ungeeignet einstufte. Der Nebel war so dick, dass man nur etwa eine Fahrzeuglänge nach vorne gucken konnte. Geschwind sank die Temperatur auch wieder, schneller fahren war jetzt aufgrund der geringen Sicht sowieso nicht mehr möglich. "Da siehst Du am lichten Tag die Hand nicht vor Augen", wunderte ich mich. Genau in dem Moment, in dem ich besonders genau auf die Straße vor uns stierte, tauchten zwei Scheinwerfer auf. Irgendwie hatte ich das geahnt und reagierte sofort. Wir waren beide nicht schnell, bremsten aber trotzdem mit blockierenden Reifen. Nur zwei Meter trennten unsere Stoßstangen, nachdem beide Autos zum Halten gekommen waren. Auch mein Gegenüber hatte gut reagiert, und wir nickten uns gegenseitig anerkennend und wohl auch dankbar zu. "Der hat aber auch gut reagiert", meinte Ulli, als wir den Gegenverkehr passierte hatten. "Ja", sagte ich nur und stierte wieder konzentriert geradeaus.
Die Piste fanden wir trotzdem toll. In den tieferen Lagen wurde die Sicht deutlich besser. Es folgten Sandpassagen, die sich durch die moosbedeckten grünen Berge schlängelten.
Die Berge verschwanden aber immer schon nach 50 Metern in den Wolken. Durch den Nebel schienen dabei spektakuläre, pechschwarze Lavaformationen. Da mit dem Unimog durchzubrummeln, machte einfach tierisch Spaß. Am Campingplatz Hlöðufell stellten wir ab. Wir konnten kein zweites Fahrzeug sehen, und ganz offensichtlich war auch die kleine Hütte schon unbesetzt. Ich sah trotzdem nach und schreckte einen französischen Fahrradfahrer auf, der im Eingangsbereich der verschlossenen Unterkunft pennte. Wir wechselten ein paar Worte.
Schon die 30 Meter zum Unimog zurück reichten aus, um mich total zu durchnässen. Prustend rubbelte ich mich mit einem Handtuch wieder trocken. Felix geriet darüber so in Verzückung, dass ich ihn komplett durchkitzelte, bis ihm die Puste ausging. Draußen ging die Welt in der Einsamkeit unter, und hier drinnen hatten wir wieder das totale Familienidyll. Alle vier lagen wir auf unserem Bett, kuschelten, lasen Bücher und lauschten dem Regen, der außen auf den Koffer prasselte.

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04.09.2017
"Im Süden gibt es ab morgen gutes Wetter", meinte Ulli und hielt mir das Smartphone hin. "So wie das aussieht, hält es dann auch noch zwei oder drei Tage". Sofort bestand Einigkeit, das brauchten wir für unsere geplanten Wanderungen in der Thorsmörk. "Wir brechen jetzt hier ab, fahren da runter und wenn wir morgen früh aufstehen, haben wir das gute Wetter schon vor der Tür", schlug ich vor.
Unsere Piste mündete nur wenige Kilometer weiter nördlich in die F338, der wir nach Osten folgten. Es handelte sich hier um eine sogenannte "Line-Road", eine Straße, die zur Wartung der Hochspannungsleitung verwendet wird und diese immer wieder kreuzt. Die folgenden 100 Kilometer bis ganz an den Südrand der Insel liefen auf dem Asphalt wie im Fluge. Es goss den ganzen Tag in Strömen, und in Selfoss standen große Pfützen auf der Straße. Unser Wäscheständer hatte sich auf der letzten Piste verabschiedet. Die 4 Pop-Niete, mit den er befestigt war, rissen aufgearbeitet aus der Halterung heraus. In dem riesigen "Byko"-Baumarkt kaufte ich Schrauben und Muttern, die den Hasenkram ersetzen sollten. Ich fand es irre spannend, das hiesige System mit dem Kleinteile aussuchen, scannen, abwiegen und bezahlen zu lernen. Der zuständige Isländer beobachtete mich dabei und nickte, als ich alles richtig gemacht hatte.
Fine wollte unbedingt Hühnchen essen, also stoppten wir noch beim lokalen KFC. Eigentlich stehe ich nicht so wirklich drauf, aber unsere Tochter aß nach unserem Dafürhalten zuwenig, und da ließen wir keine Möglichkeit aus, das Kind mit dem heilenden Knochen entsprechen zu füttern. Voller Stolz sahen wir ihr zu, wie sie es schaffte, auf Englisch am Tresen Ketchup zu besorgen. Sie traute sich zunächst nicht, aber dann überwog wohl der Hunger. Jedenfalls wurde ihr so wirksam vermittelt, wie wichtig Fremdsprachen sind und dass auch hier keine kleinen Mädchen gefressen werden, auch nicht beim KFZ, ääh KFC.
Am Seljalandsfoss standen vorneweg mindestens hundert Autos und drei Busse. "Ach Du liebe Güte, guck dir das an", sagte meine Frau und zeigte nach draußen. Trotz des Sauwetters drängten sich die Besucher zahlreich um diesen beliebten Wasserfall. "Das war letztes Mal noch nicht so voll", stellte Ulli fest. "Das hat echt zugenommen."
"Na, die Photoshop-Tools zum Herauslöschen von Menschen werden ja auch immer besser. Die halten praktisch mit", warf ich ein. Kurz darauf endete der Asphalt mit einem tiefen Schlagloch. Im letzten Augenblick hatte ich es gesehen und nahm es zwischen die Räder. Nach ungefähr 50 Metern Piste bot sich rechts die Möglichkeit zum Luftablassen. Der Regen machte mir vor allem bei den Reifen auf der Wetterseite zu schaffen, und ich wünschte mir eine Reifendruckregelanlage. Die Prozedur dauerte um die 15 Minuten. Aber die Zeit, in der ich den Luftdruck auf 2 bar reduzierte, war keineswegs langweilig. Gezählte fünf Kuku-Camper ignorierten offensichtlich das Verbotsschild, welches am Ende des Asphalts den Beginn der Piste kennzeichnete. Krachend setzen sie allesamt ihre Karren in dem Schlagloch auf und fuhren munter auf dem Schotter weiter. "Ich sag' Euch, Ihr dreht alle wieder um", rief ich jedem Auto hinterher. Sie glotzten alle nach dem komischen Typen, der neben seinem LKW im Regen kauerte. Tatsächlich kam jedes einzelne Auto wenig später wieder zurück. Ich grüßte mit der Mütze. Einer donnerte sogar wieder durch das Schlagloch, neben dem schon einige Plastikteile herumlagen.



Die Piste machte überhaupt keinen Spaß. Der rege Busverkehr hatte sie total ausgenudelt, und der Ullimog quälte sich über das Waschbrett. Schnell darüber fliegen funktionierte nicht immer, da oft enge Kurven kamen. Das fühlte sich mit dem geringen Luftdruck scheiße an. Da blieb einfach nichts anderes übrig, als sich geduldig und materialverachtend voranzuschütteln. Schließlich erreichten wir das Schild mit der Aufschrift "Krossa". "Nach Húsadalur geht es da lang. Da wollten wir doch hin", meldete sich Ulli. Vor uns bog ein blauer Dacia Duster ab und fuhr voraus.
"Super, der zeigt uns die Furt", sagte ich etwas sarkastisch. Ich bezweifelte ernsthaft, dass so ein Fahrzeug nach so einem Regentag in der Lage war, diese Furt zu meistern.
Das Auto hielt zunächst am Ufer. Leider gab es kaum Spuren in der Umgebung. Der Untergrund hielt jedoch durchweg gut und bestand aus grobem Geröll und dicken Flusskieseln. Das Wasser sah wild und grau aus. Außerdem floss es unheimlich schnell. Ich fuhr das Ufer einige Male auf und ab und entdeckte dann die Hauptspur, die schräg der Strömung folgend an einer breiten Stelle über den Fluss führte. Wir holten Felix und Josefine nach vorne und tasteten uns ganz langsam im ersten Gang und mit allen Sperren voran. "Gib mir die Flusstiefe durch", forderte ich Ulli auf und konzentrierte mich nur auf das andere Ufer. Sie saß auf der Seite, die der Strömung zugewandt war. Das Schwindelgefühl zeigte sich bei laufenden Scheibenwischern noch intensiver. Der Unimog trotzte aber dem Wasserdruck und krabbelte durch das etwa 50 cm tiefe reißende Wasser. Ganz stetig nahm die Tiefe zu.
"Erstes Trittbrett, zweites Trittbrett...Türunterkante" meldete Ulli vom Beifahrersitz aus. "Kotflügel ist ganz unter", sagte Ulli plötzlich. Ich blieb aber auf dem Gas und hielt die Drehzahl, packte das Lenkrad fest und fuhr weiter auf das andere Ufer zu. Die Wassertiefe blieb erstaunlich konstant und selbst in der Hauptrinne zeigte sich der Boden eben und griffig. Da hob sich auf einmal der Unimog wieder und entstieg tropfend dem Gletscherbach. "Mann, das war mehr als 1 Meter in der Mitte", sagte ich erleichtert. "Der Untergrund war aber deutlich besser als in der Blanda", fügte ich hinzu. Wegen des schlechten Wetters hatten wir auf das Filmen verzichtet und rollten geradewegs auf die private Hütte zu. Aber der Fieg war mein, mein war der Fieg, da ich seit Jahren schon über diesen Fluss fahren wollte. Hochzufrieden pfiff ich "Preußens Gloria" und tätschelte dankbar unser Gefährt.
Ich buchte uns für zwei Übernachtungen und erkundigte mich gleich nach den lokalen Wandermöglichkeiten. Der Warden vom Typ "Hippie-Hiker" hielt mich für einen kompletten Volltrottel und unternahm einige Anstrengung, seine totale Kompetenz rüberzubringen, anstatt mit Information aufzuwarten. Außerdem sprach er kein besonders gutes Englisch, was er aber versuchte, durch einen gespielten Akzent zu verbergen. Folglich kam es zu Missverständnissen, und er meinte, ich wollte mit dem Auto die Wandertour fahren, die ich ihm auf der Karte zeigte. Er kam vermutlich auf den Trichter, weil ich nicht die übliche Laugarvegur-Wanderer-Kluft anhatte und nicht mit einem der vielen Busse angereist kam. Das war offensichtlich, da uns der letzte Bus aus der Thorsmörk bereits vor 1,5 Stunden entgegen kam. Vielleicht stand er aber auch einfach drauf, den Oberlehrer zu machen. "If you want to go there, you need a snorchel", sagt er. Ich wollte ihm klarmachen, dass ich die Strecke mit meiner Familie zu Fuß zu wandern beabsichtigte, aber er war so in Fahrt, dass ich in den nächsten 10 Minuten gar nicht zu Wort kam. "Do you know what a snorchel is?" Es blieb keine Zeit zum Antworten, und schon fuhr er fort: "It is mounted on cars to cross rivers." "Are you a experienced driver?" "Do you know how it feels to get stuck in a river or in sand?" "Have you ever been stuck in sand?" "This is very dangerous and it will cost you a lot of money to get rescued?" So ging das endlos weiter, bis ich es aufgab, den Redefluss unterbrechen zu wollen. Also nahm ich meine Mütze ab, schaute ihm in die Augen und lauschte, was da noch kommen möge. "It will cost you 50.000 - 100.000 Kr and your car will be damaged completely". Insgeheim bezweifelte ich, dass ein Isländer für diesen Betrag mit einem geeigneten Fahrzeug hier heraus fahren würde. Meine persönliche Schätzung lag beim zehnfachen des genannten Betrages. "Is your car a four by four?" "Do you know how to release the air from the tyres?" "Otherwise you can sink in 15 Meters deep if you drive close to the glacier because this is a very complex area". "The tracks are not marked and it is not really legal to drive further than this hut". 
"Pass mal auf, Kollege Schnürschuh, jetzt kommst Du mal von Deinem Trip runter, hältst mal für fünf Sekunden deine vorlaute Klappe und beantwortest mir meine Frage", dachte ich und versuchte, den Gedanken schweigend in meinen Gesichtsausdruck zu legen. Er hielt eine Sekunde lang inne und wollte seinen belehrenden Redefluss gerade fortsetzen, da schleudere ich ihm ein schnelles "I never wanted to drive there, I meant to walk it" entgegen. Ohne ein Zeichen der Überraschung oder des Bedauerns setzte er die Belehrung in Richtung Wandern fort und erzählte ausgiebig von Schuhen, Laufstöcken, Regenklamotten und wie man ausrechnet, wie lange eine Wanderung dauert. Inzwischen hatte ich es komplett aufgegeben, an meine Informationen zu kommen. Schnell zückte ich meinen Geldbeutel, bezahlte die Campinggebühr in Cash und beendete so diese unglückliche Unterhaltung. Mit angefressener Laune stapfte ich durch den Regen zum Unimog zurück. "Was ist denn mit Dir los?" empfing mich Ulli. "Die Ecke und ich hatten einen schlechten Start", grummelte ich. "Der Typ am Tresen hat vermutlich nur mit Deppen zu tun oder er ist selber einer oder beides." "Ich musste gerade ein langes Gespräch über das Thema 'Einatmen, Ausatmen, einen Fuß vor den anderen setzen' führen." Ulli tröstete mich lächelnd und konnte sich die Sache sofort bestens vorstellen. Die örtliche Sauna und die heiße Dusche halfen meiner miesen Laune wieder auf die Sprünge.



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05.09.2017
Wie im Internet angekündigt, hatten wir strahlenden Sonnenschein und gedachten, den Tag mit einer schönen langen Wanderung zu verbringen. Aus dem Fenster konnten wir den Einhynigur sehen, den Berg mit Nase, den wir schon 2012 aus der Nähe bestaunten und an dessen Fuß wir 2 Tage abwetterten. Ich nahm mich zusammen und machte mich nochmals auf zur Hütte. Schließlich wollte ich mich beim Warden über die lokalen Bedingungen auf der Strecke informieren. Daraus wurde bekanntlich gestern nichts. Vorsorglich schaute ich durch das große Fenster, um das Desaster vom Vortag nicht zu wiederholen. Glück gehabt, sein Kollege hatte Dienst und bekam folglich die zweite Chance. Der freundliche Isländer mit dem "echten" schottischen Akzent war schon mehr auf meiner Wellenlänge und erklärte mir genau, was ich wissen wollte. Der Weg führte zunächst über den Buckel nach Langidalur. Von dort galt es, den orangefarbenen Stickeln zu folgen. Josefine schritt stets voran und meldete lauthals den jeweils nächsten Holzpflock. Thorsmörk zeigte sich erstaunlich grün für isländische Verhältnisse, und das Wetter zauberte ganz surreale Farben. Der Herbst klopfte schon an, und ich sog die feuchte, kühle und schon ganz leicht faulig riechende Luft gierig ein. Unter niedrigen Krüppelbirken führte der niedliche Trampelpfad an einem kleinen Bächlein entlang, welches mehrfach zu kreuzen war.
Die ohnehin spärliche Vegetation verschwand schon nach wenigen Höhenmetern. Beinahe unmerklich hatten wir den Wald hinter uns gelassen und stapften das kleine Tal weiter bergan. Dann, ganz überraschend, tauchten diese bizarren Felsformationen auf, für die auch das Godaland auf der gegenüberliegenden Talseite berühmt ist. Wer es nicht an Ort und Stelle erlebt hat, dem sind die Eindrücke kaum zu beschreiben. Ich kenne jedenfalls keine zweite Landschaft, die so spektakulär ist wie diese. Steil fielen die moosbedeckten Berghänge unter uns ab, und steil ragten die schwarzen Lavaformationen wie Fabelwesen über uns in den blauen Himmel. Josefine gab jedem Felsen einen Namen und erkannte alle möglichen Tiere, Monster, Köpfe und natürlich Drachen. Wir schärften ihr ein, besonders vorsichtig zu sein, denn es gab hin und wieder sehr ausgesetzte Passagen zu überwinden.
Ich schleppte Felix im Tragegurt vor dem Bauch. Er wirkte im Gegensatz zu uns staunenden Nichtbabys eher gelassen. Der Pfad führte uns immer weiter nach Westen, bis er schließlich nach Süden abbog und den Ausblick vom Stangarháls auf den Mýrdalsjökull freigab. Für mich eine der schönsten Ecken dieser Erde.



Der Rückweg führte von dort aus bergab, einem schmalen Felsgrat folgend, wieder in das Tal hinunter. Uns erwischte allerdings ein kleiner Regenschauer, den wir dicht aneinander gekauert hinter einem Vorsprung abwarteten.
Für Felix und für mich trugen wir keine Regensachen mit. Das würde den ersten Hüttenwirt wohl in einigen Ansichten bestätigen. Die Tatsache, dass dies in voller Absicht geschah, würde auf das bekannte Unverständnis stoßen, welches er seinen Kunden üblicherweise entgegenschleuderte. Ich teilte meine Gedanken mit Ulli. Sie antwortete: "Nimm das doch nicht so ernst, was meinst Du denn, mit was für Leuten der manchmal zu tun hat, und vielleicht ist er einfach am Ende der Saison genervt."
Das ließ ich gelten, und die Eindrücke von unserem Spaziergang lenkten sofort wieder ab. Josefine störten die zurückliegenden sechs Stunden Fußmarsch und die knapp dreizehn Kilometer auf und ab recht wenig. Springend, auf ihrem Laufstock als Besen reitend, nahm sie die letzten Kilometer zurück zum Unimog. Sie zeigte nun großes Geschick beim Überspringen von kleinen Wasserläufen. Beinahe akrobatisch sprang sie Körperlängen weit von Stein zu Stein. Was für eine geile Tour in dieser atemberaubenden Umgebung. Ulli war fertig und ihre Knochen taten weh, wohl noch ein Andenken an die noch nicht allzulang zurückliegende Geburt unseres Sohnes. Sie wollte nur noch mit ihrer Wärmflasche ins Bett. Als endlich alle Kinder gegessen hatten und todmüde in der Koje lagen, schnappte ich meine Klamotten und ging warm duschen. Ohne mich abzutrocknen, hockte ich mich anschließend noch in die kleine Fass-Sauna. Mit ordentlich Aufgusswasser und heftigem Wedeln kam ich nach einiger Zeit dann auch ins Schwitzen. Durch die hereingebrochene Dunkelheit schlenderte ich herrlich sauber und angenehm erschöpft zum Auto zurück. Da kam ich an dem dunkelgoldenen Bier, welches da am Tresen hinter dem hell erleuchteten Fenster gezapft wurde, nicht vorbei. Selbstverständlich bediente mich dabei wieder mein Spezialfreund. Daher setzte ich auch alles daran, jetzt bloß keine Unterhaltung loszutreten. Schnell drehte ich mich um und schrieb noch eine Postkarte an meine Laufkumpels. "Viking Classic" ist zwar 'ne Plörre, aber nach so einem Tag schmeckte auch das.

      Kartenansicht der Wanderung

      GPS Track der Wanderung

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06.09.2017
Das Treiben der Laugarvegur-Wanderer auf dem Zeltplatz hinter der kleinen Baumreihe neben dem Unimog ließ uns langsam wach werden. Wir warteten, müde aus dem Fenster blinzelnd, das Einpacken und den Abmarsch der Leute ab. Hier unterlag alles einem gewissen Rhythmus, und vermutlich würde später noch ein Bus kommen. In solchen Momenten beginnt man, eine gewisse Unabhängigkeit wertzuschätzen. Wir beschlossen wieder einmal, höchst antizyklisch vorzugehen und erst gegen Mittag abzureisen.
Eine Gruppe Superjeeps, die tropfend neben uns Aufstellung nahm, beschleunigte dann die Abreise. Bei den Gästen handelte es sich ausschließlich um Frauen, die in Wanderkleidung Aufstellung nahmen. Ihre zwei kräftigen männlichen Fahrer starrten mich verächtlich und auch etwas grimmig an, weil ich aus dem Fahrerhaus auf ihre 44-Zoll-Boliden herabblickte. Keine Angst Jungs, hier draußen dürft ihr mit euren dichten Bärten und Euren Tattoos die Rolle des dominanten Silberrückens behalten. Wenn ihr wüsstet, wie klein mein Pimmel ist...
Unser Ziel für heute sollte die Hütte im Langidalur, gleich hinter dem Hügel, sein. Da wollte ich immer schon mal hin, denn 2010 hatte ich gekniffen, und 2012 hatte es sich wegen des Wetters nicht ergeben. Die dicke Krossa-Furt vorne am Eck des Felsens wirkte etwas harmloser als vor zwei Tagen. Im hellen Sonnenlicht wirkte der Fluss freundlicher und es sah auch nach weniger Wasser aus. Mit unseren GPS-Aufzeichnungen auf voller Auflösung fanden Ulli und ich gemeinsam die Durchfahrt vom Vortag. Zwei Busse, die just in diesem Moment den Fluss kreuzten, untermauerten nochmals unsere Wahl. Ich fuhr also durch und setzte Ulli zum Filmen ab. Dann drehte ich um und fuhr schön diagonal, der starken Strömung folgend, zurück. Ich wendete und benutzte genau die gleiche Strecke, nun gegen den Fluss. Jetzt spürte ich den Widerstand des Wassers, der sich auch in einer kleinen Bugwelle zeigte. Unter dem Strich hielt ich die Durchfahrt auf diese Weise für das geringste Risiko. Die Tiefe, der Boden und die Ein- und Ausfahrt waren bekannt und bewährt. Zwei Tage zuvor hatte es bei einem deutlich höheren Wasserstand auch funktioniert. Da riskierte ich einfach keine neue Route mit der Strömung, auch wenn es diese möglicherweise gab.
Die Krossa-Furt rüber nach Langidalur fiel nochmal harmloser aus, da der Fluss sich hier in mehrere kleinere Arme aufteilte. Das Foto mit der Hütte enthält wieder eine Verknüpfung zu einem Clip der Aktion. Am Vortag hatte ich die Autos beim Durchfahren beobachtet und mir die Passage gemerkt. Trotzdem trat der Ranger der Hütte vor die Tür und beobachtete, ob der Unimog wohl ankommen würde. Für alle Fälle gab es dort einen großen und starken Traktor, der vermutlich zur Bergung von Verunglückten und zum Bearbeiten des Flusses diente. Aber wir kamen gut durch und erreichten schließlich den Campingplatz. Die Bank direkt am Fluss wirkte so einladend, dass wir beschlossen, sofort in der Sonne Mittag zu essen. "Da können die Kinder alles einsauen und vollkrümeln."
Viel zu spät brachen wir zu unserer Wanderung zum "Versteckten Wasserfall" auf. Nachdem wir den Bogen über die Brücken gelaufen waren, packten wir die nötige Furt zu Fuß nicht. Mist, das hatte ich nicht bedacht, und unsere Vorbereitung zeigte hier Mängel. Ulli hatte zudem keine Lust, ihre Schuhe auszuziehen, denn es plagten sie noch Schmerzen vom Vortag. Also drehten wir um und machten es uns im Ullimog bei "Harry Potter und der Gefangene aus Askaban" gemütlich. Selbstverständlich machte ich mich noch auf zum Hüttenwirt, um unsere Campinggebühr zu bezahlen. "You don't have to put it in the windshield, i will recognice you anyway", meinte er augenzwinkernd, als er mir den Beleg überreichte. Mir war nicht ganz klar, worauf er hinauswollte, aber ich bedankte mich freundlich und schlenderte zurück in die Kiste. Fine schaute mit maximaler Aufmerksamkeit den Film und überraschte mich bei der Szene, in der Harry und Hermine mit der Zeit spielten und mehrfach am selben Ort auftraten und so irgendwie den Lauf der Dinge änderten. "Jetzt aber schnell zurück zu Ron", rief sie mit offenen Augen und  voll konzentriert mitfiebernd. "Das gibt es doch nicht, ich sehe den Film jetzt das fünfte Mal und raffe die Szene immer noch nicht. Aber Josefine weiß genau, was da abgeht", wendete ich mich staunend an Ulli. "Dir liegen eben solche Zeitspiele nicht, und Fine ist halt ein schlaues Mädchen", sagte sie grinsend. Kopfschüttelnd, aber etwas stolz, nippte ich an meinem Bier.



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07.09.2017
Um ihre Schmerzen vollends auszukurieren, wollte sich Ulli einen Tag lang ausruhen. "Heute ist es sowieso bewölkt, und da möchte ich morgen bei dem schönen Wetter wieder fit sein", unterstrich sie ihr Vorhaben. "Dann gehe ich heute nur mit dem Finchen", bestimmte ich. Gleich hinter dem Campingplatz markierten die weißen Holzpflöcke den Weg auf den Valanúksból, einen nahen Gipfel. Ich versprach Josefine ein Überraschungsei auf dem Gipfel, um für Motivation zu sorgen. Das erwies sich als unnötig, da sie voll in unserer Vater-Tochter-Tour aufging. Sie erfand wieder Geschichten, sprach mir Rollen zu und interpretierte jede Formation und jeden Felsen, der sich am Wegesrand fand. Der Pfad führte an einer Drachenhöhle vorbei, die wir sogleich erforschten. Über drei Wasserfälle fielen lange Vorhänge aus glitzernden Tropfen auf den Boden der Höhle. Wir schauten in jeden Winkel, und ich konnte erkennen, dass sich mein Töchterkein vielleicht ein wenig zu fürchten begann, wenn sie zu sehr an ihre eigenen Geschichten glaubte. Plötzlich offenbarte sie mir, dass sie unbedingt Geige lernen möchte. Ich gab ihr die Hand drauf, es zu ermöglichen, sollte sie mich von der Ernsthaftigkeit des Vorhabens überzeugen. Inzwischen waren wir wieder beim Unimog angekommen. Sie bestand darauf, am Nachmittag noch eine Wanderung mit dem Papa zu machen: "Weil wir noch nicht fertig erzählt haben." Ich freute mich sehr auf den kommenden Nachmittag.
Gegen drei Uhr brachen wir wieder auf und folgten den roten Markierungen. Wir entdeckten dichte Fichtenwälder, eine kleine Höhle mit Fenster und Tür und stiegen steil den gut ausgebauten "roten" Pfad bis auf ein Plateau herauf. Josefine und ich sammelten wieder haufenweise Blaubeeren und genossen die Zeit in dieser spektakulären Umgebung. Wieder über steile Kletterpfade absteigend, wanderten wir in das Tal der Thorsmörk zurück.
Der Rückweg führte uns an der Hütte des Wardens vorbei. Ich konnte ihn hinter der Scheibe erkennen und winkte. Bei der Gelegenheit wollte ich gleich die Campinggebühr für die kommende Nacht bezahlen. Er lachte, kam an die Tür, kassierte ab und sprach mich an: "Have you been travelling a lot in your Unimog?" fragte er. Der Mann war total autobegeistert und stellte mir allerhand Fragen. Er kannte sich gut aus mit Autos, und so entstand ein reger Gesprächsfluss.
Plötzlich kam ein Jeep durch die Furt geprescht und fuhr recht rasant direkt bis vor die Infohütte. Er bremste scharf. Der Fahrer, offenbar der Warden des gegenüberliegenden Camps Básar, stieg aus, lief zur Beifahrertür und stützte einen verletzten Mann, der am Kopf und vor allem an den Unterschenkeln stark blutete. Das Ganze sah auch recht eindrucksvoll aus, und Josefine umklammerte plötzlich heftig mein Bein. "Was ist mit dem Mann?" fragte sie ängstlich. Jetzt galt es, dem Kind vorzuleben, dass ein Verletzter noch kein Grund zur Panik sei. Ich wollte ihr unbedingt ein Vorbild sein und ein möglichst besonnenes und konzentriertes Verhalten an den Tag legen. Ich wollte meinem Kind zeigen, wie man jetzt jemandem hilft, der es nötig hatte. "Bleib hier stehen und schau genau zu", wies ich sie an.
Wir legten den Mann von etwa 50 Jahren, der tief braungebrannt war und erstaunlich drahtig wirkte, auf die Holzveranda. Die Kollegin des Hüttenwirtes holte einen großen Erste-Hilfe-Kasten und zog sich Gummihandschuhe an. Ich nahm ebenfalls ein Paar Handschuhe und begann, dem armen Kerl die Schuhe auszuziehen. "What happened?" fragte die Rangerin, während sie das Verbandszeug bereitlegte. Der Mann reagierte nicht, und der Ranger von Básar antwortete auf isländisch. Ich verstand so viel, dass er seiner Kollegin mitteilte, der Mann spräche keine Englisch. Sie versuchten trotzdem mit einfachen Worten, dem Blutenden einige Informationen zu entlocken.
Etwas genervt oder vielmehr enttäuscht antwortete er schließlich: "Mensch, Kinder, ich verstehe Euch doch nicht."
"Ich verstehe Sie", antworte ich. Er war ein Deutscher und meine Rolle als Helfer hatte sich auf die des Dolmetschers erweitert. 
"Abgestürzt bin ich, fünfzehn Meter tief, drüben am Weg zum Fimmvörduhals", meldete der Kerl gefasst. Ich übersetzte alles den Isländern, die ebenfalls Fragen stellten.
Die Beine des Mannes hatten lange, tiefe Schnitte, die alle mit schwarzem Lavasand verschmutzt waren. Die Haut hatte es an den Waden großflächig abgeschürft, und auch hier fand sich millimeterdick überall dieser feine schwarze Sand. Einige Wunden bluteten stark, andere hatten schon aufgehört zu bluten und verklebten so wirksam den Dreck.
Der Hüttenwirt und sein Kollege versorgten unterdessen die Platzwunde am Kopf, die ich für harmlos erachtete. Das Mädchen tupfte mit sterilen Wundauflagen die Beine ab, was nicht wirklich etwas brachte. Es war nie mein Ziel, hier einen Auftritt zu machen, aber so war dem Mann noch nicht geholfen. Angesichts der Zuständigkeit der Isländer wollte ich mich zunächstzurück halten, wusste aber eigentlich, was zu tun war.
"Can you please boil a big pot of water?" wendete ich mich an den Ranger. "We also need a brush, a kitchen brush will do. Please throw it into the boiling water an add some salt", fügte ich hinzu. "Fine, lauf zum Unimog und lass Dir von der Mama die große Tube Jod-Salbe geben."Sie rannte sofort los.
Der Mann drehte seinen Kopf zu mir und meinte: "Der ganze Dreck muss da raus. Schaut, dass ihr den Sand da rausbekommt." "Das haben wir vor", antwortete ich. "Das wird aber weh tun", kündigte ich das Bevorstehende an. "Egal, Hauptsache, das wird sauber", bestimmte er.
Als der Parkwächter mit dem großen dampfenden Topf heraustrat, war auch Fine zurück. Sie stellte sich wieder in eine Ecke und beobachtete interessiert das Treiben.
Mit einer Schöpfkelle nahm ich das gekochte Salzwasser und tränkte damit mehrere dicke Mullbinden-Rollen, die ich zusammengerollt auf einem Aluminiumteller aufgestellt hatte. Damit begann ich oberflächlich mit der Reinigung der Beine. Ich öffnete die warmen Binden und ließ sie auf der Dreck-Blut-Kruste liegen, um das Ganze einzuweichen. "Sagen Sie mir, wenn das zu heiß ist, aber es sollte so heiß wie möglich sein", sagte ich.
Er nickte und biss die Zähne zusammen, als ich mit der Kelle immer wieder die Binden nachfeuchtete. Die Isländerin sah mir zu und tat dann dasselbe. Nach 10 Minuten nahm ich die Bürste aus dem Wasser und begann, die Beine zu reinigen. Es funktionierte hervorragend und die Isländer brummten zustimmend. Ich wusch die blutige Bürste immer nur sauber, indem ich mit der Kelle frisches, heißes Wasser darüber schöpfte. So blieb das Wasser in dem Topf so rein wie möglich. Da es uns bald ausgehen würde, machte der Hüttenwirt sogleich noch einen Topf fertig. Ohne es wirklich zu wollen oder zu beanspruchen, hatte ich fortan die Rolle des Leitenden inne.
"Leute, das wird ja", freute sich der Verletzte, der allen Schmerz unterdrückte und kaum das Gesicht verzog, während ich mit einer Spülbürste weiter an seinen offenen Wunden arbeitete. Es muss höllisch wehgetan haben, aber wir hatten es hier mit einem unheimlich tapferen Gesellen zu tun. Ich bot dem Mann eine Pause an, da seine nun hellrot blutenden Beine vom heißen Wasser nur so dampften. "Nee Junge, nur drauf", forderte er mich auf. Ich übersetzte das den Einheimischen und sie schmunzelten. Auf der kleinen Veranda sah es inzwischen aus wie im Schlachthaus. Mit viel Wasser spülten wir immer wieder das schaumige Blut zwischen die Bretter. Schließlich hielt meine Helferin die Risse in der Haut auseinander und ich schöpfte die auf eine erträgliche Temperatur heruntergekühlte schwache Salzlösung über die Wunden. So bekamen wir auch den letzten Schmutz herausgewaschen. Die tiefen Risse bluteten aber noch. "That is what we want, the blood is cleaning the cuts", kommentierte ich. Die Isländerin nickte und meinte: "Yes, and the bleeding is not dangerous any more." Mit frischen sterilen Kompressen stillten wir die Blutungen dann fast vollständig. "Sach ma, warst Du Sanitäter bei der Bundeswehr?" wollte der dankbare Mann wissen. "Nee, ich war beim Bund, aber kein Sani." "Das haste aber trotzdem gut gemacht", lobte mich der Patient. "Und die auch, sag denen allen, und besonders dem Mädel, ein ganz dickes Dankeschön." "Senk iu, Senk iu", nickte er in die Runde.
"Jetzt kann es nochmal brennen", warnte ich ihn. Wir rieben die Öffnungen dick mit Jodsalbe ein und verbanden schließlich alles mit elastischen Mullbinden. Wir wickelten beide Beine bis knapp über die Knie ein. Die Isländerin setzte die Verbandklammern, und dann zogen wir unsere Handschuhe aus. Wir gaben uns "High Five" und freuten uns über die gelungene Aktion. Der Mann hatte Tränen in den Augen, hielt beide Daumen hoch und bedankte sich auf das Herzlichste. So frisch weiß verbunden sah alles wieder ganz manierlich aus, und auch Josefine erkannte die allgemeine Entspannung. Sie kuschelte sich an mich und musterte den Verbundenen neugierig. "Jetzt ist der wieder ganz", stellte sie fest. "Ja, jetzt bin ich wieder ganz", lachte der Mann. Die Isländer wollten ihm eine feste Unterkunft oder einen Krankentransport besorgen, was er vehement ablehnte. "Nee, ich bau' jetzt mein Zelt auf, und morgen nehme ich den Bus", bestimmte er. "Ihr habt Euch schon genug Mühe mit mir gemacht." Ich übersetzte für ihn. "That is our job", antworteten die Isländer. Er schüttelte jedem nochmals die Hand und ließ sich von zwei Männern gestützt zum Zeltplatz bringen.
"What a tough guy", sagte der Ranger und blickte den Dreien hinterher. "That must have been very painfull, but he did not complain at all", meinte er anerkennend.
"He also was very lucky", sagte der Fahrer, der ihn gebracht und wohl auch aufgelesen hatte. "He fell pretty deep. The injuries could have been much worse, even fatal", meinte er. Die Isländer bedankten sich auch für meine Hilfe. Dann offenbarte ich ihnen, dass ich, was das Retten angeht, noch tief in der Schuld der Isländer stünde, und natürlich habe ich ihnen auch meine Rettungsstory vom Fimmvorduhals 2010 erzählt. Sie hörten genau zu und nahmen es freudig auf, dass ich von der Kompetenz und von der Hilfsbereitschaft des Teams so nachhaltig beeindruckt war. Besonders schätzte ich daran das freiwillige Engagement der Hilfsorganisation Landsbjörg, für die auch hier die Wardens arbeiteten. Wir erzählten noch, bis die Sonne endgültig verschwunden war. Selbstverständlich kannten sich die Bergretter untereinander. Demnach konnte mir die Mannschaft des Langidalur auch erzählen, was unsere Retter von damals heute so machten.
Mich interessierte, wie die Alarmierung bei Landsbjörg funktionierte und welche Art von Leuten üblicherweise in Schwierigkeiten gerieten. "In the summer it is mostly tourists but in the winter, it is mostly icelandic people", antworteten sie einig. "These are the toughest and the most dangerous rescue missions." "Tourists are usually easy to pick up, because the only go to places easy to drive to. Icelanders sometimes drive 100 km on snow and then they have a problem. That is tough and that takes a long time", erzählten sie.
Josefine und ich verabschiedeten uns, sagten "Gute Nacht". Fine erzählte ihrer Mama, was sie an dem Nachmittag alles erlebt hatte, und ich lauschte aufmerksam, da ich wissen wollte, wie sie das Erlebte aufnehmen und verarbeiten würde. Sie war voll im Bilde und wollte dann unbedingt noch "Harry Potter und der Feuerkelch" schauen. Anschließend schlief sie tief und fest ganze 12 Stunden lang. Offenbar steckte sie diese neue Erfahrung ganz gut weg. Das wollte ich ihr ja auch vermitteln.



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08.09.2017
Der Womo-Alltag machte sich breit. Ich erwachte üblicherweise zuerst und guckte nach dem Wetter. Das passierte immer so gegen 8 Uhr Schiffszeit, denn ich stellte meine Uhr einfach nicht mehr um. Die genaue Uhrzeit spielte seit einem Monat ja auch keine Rolle mehr. Dann irgendwann quakte sich Felix langsam wach, richtete sich auf und guckte zu Ulli und zu mir rüber ins Bett. Jetzt meldete sich normalerweise auch das Finchen, tauchte ihrerseits mit dem Kopf neben dem Bett auf und wollte mit uns morgenkuscheln.
Irgendwann danach kroch ich unter der Decke hervor, schaltete die Heizung an, packte den Kleinen auf das große Bett und setzte das Laufstallgitter ein. Nun war die Familie eingesperrt, worauf ich im Fernseher "Shaun das Schaf" laufen ließ. Das stellte die Kinder ruhig, und ich konnte in Frieden Felix' Bett aufbauen, mich waschen, rasieren, Kaffee kochen und den Tisch decken. Ulli las in dieser Zeit gewöhnlich in ihrem Buch und überwachte die Kleinen. Anschließend gab es das allmorgendliche Familienfrühstück am Panoramafenster. Das stellte dann auch das erste Highlight des Tages dar, bei dem wir auch die Reisepläne besprachen. Wir ließen uns manchmal ein oder zwei Stunden Zeit dafür. Schließlich ging ich raus und kümmerte mich um unser Fahrzeug. Ulli machte Klarschiff, verstaute die Kinder und stellte die allgemeine Abmarschbereitschaft wieder her. Im Sonnenschein spazierte ich an diesem Tag, mit dem Hausmüll bepackt, zu der großen Mülltonne des Anwesens. Zudem hatte ich mehrere Wasserflaschen dabei, um unsere Trinkwasservorräte aufzufüllen.



Der Ranger, mit dem ich gestern schon kurz gesprochen hatte, winkte mir. Er stand auf der Türschwelle seiner Hütte mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand. Die Morgenluft, das leise glucksende Wasser und der Kaiserwettertag mit dem fantastischen Blick auf den Ejafjallajökull gaben dem Ganzen eine idyllische Note. Direkt neben mir stand der große silberne Toyota mit den 44-Zoll-Reifen. Neugierig schielte ich nach der Achskonstruktion und nach den Details der Höherlegung. Dazu bückte ich mich ein wenig und hielt den Kopf schief. Der Hüttenwirt hatte mich genau beobachtet und kam sogleich herübergelaufen.
"You know, I have always asked myself about the lifting of islandic cars", begann ich die Unterhaltung aufs Neue. "It seems like everybody is using the same axles. This one is different, though", bemerkte ich. "Yes it it is", sagte er, und es stellte sich heraus, dass es sich um sein eigenes Auto handelte. Er kannte sich richtig gut aus und erzählte mir, wie er seine Nissan-Vorderachse auf Toyota-Naben umgebaut hatte. Nur diese würden annähernd die Momente der großen Reifen aushalten. Das Auto hatte deutliche Gebrauchsspuren, wurde aber stets mit Sachkenntnis gepflegt. Das sind Dinge, die einem Autoschrauber nicht entgehen. Ich ließ ihn genau das wissen, und er erklärte mir noch mehr Details der Modifikation. Ich war selig, endlich mal mit einem Kenner zu reden. Ich sprach hier mit keinem reichen Schnösel, der sich für sein Geld irgendwo eine Wahnsinnskarre zusammenbauen hat lassen und zwischen Hamburger-Bude und Garage hin und her fährt. Der Mann hier hatte sein Fahrzeug selbst entworfen und gebaut. Mich beeindruckte dabei die pragmatische Herangehensweise der Isländer. Ein Deutscher würde vermutlich bei der Wahl der Achsen irgendwelche Spezifikationen lesen und Lasten und Kräfte ausrechnen. Die Isländer wissen einfach aus der Erfahrung, was geht und was nicht geht. "All the axles are overloaded with big tires and you can easily damage the joints if you are not carefull", meinte er. Die machten sich einfach keinen Kopp, schwarteten den Kram zusammen und setzten das Produkt eben mit Bedacht ein. Dies beeindruckte mich zutiefst. "You know, my axle ist already bent a little on the left side", sagte er und deutete auf die dünnste Stelle nahe des Schenkels. Somit kannte er genau die Schwachstelle des Umbaus. Unterm Strich halte ich das für eine sehr effektive Methode zu konstruieren. Ich erzählte auch von meinen Unimog-Baustellen, und er gab sich sehr interessiert, weil er gerne auf Unimog-Achsen umbauen würde. "Unimogs are very difficult to get in iceland", erklärte er. "I am Beggi, what is your name?" sagte er und hielt mir die Hand hin. Wir laberten noch weit bis in den Vormittag hinein. Er reagierte dann immer etwas genervt, wenn ein Rucksacktourist wieder irgendwas von ihm wollte. Beggi hatte einfach mehr Lust darauf, jetzt mit dem Unimog-Deutschen über Autos zu erzählen. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn von seiner Aufgabe als Ranger effektiv abhielt. "You know, I could keep on talking cars with you forever", bemerkte ich. "Me too", antwortete er.
Wir tauschen E-Mail Adressen und verabschieden uns.
Anschließend ging es durch den Fluss und weiter zum Eingang der Schlucht Stakkhiltsgja, an deren Ende sich der versteckte Wasserfall befinden sollte. Die Sonne beschien nur die steilen und glatten Wände, die etwa 70 m hoch rechts und links in den Himmel emporragten. Unten am Fluss blieb es schattig und kühl. Am Ende der Schlucht durchwateten wir den Bach, wobei sich Josefine wieder überraschend geschickt anstellte. Der versteckte Wasserfall befand sich in einer kleinen Höhle, in der wir einige Steine überkletterten. Mit einer Fünfjährigen im Schlepp und einem Baby vor dem Bauch machten wir daraus ein kleines Abenteuer. Oft hing sich Fine zusätzlich an meinen Rücken, und ich musste, mit beiden Kindern beladen, von Stein zu Stein hüpfen oder Fine einen "Lift" geben". Felix lachte sich dabei immer kaputt. Ich realisierte, dass es mir früher deutlich leichter gefallen war, so einfach 20 kg am ausgestreckten Arm herumzuwuchten. Wir beschlossen den abzweigenden zauberhaften Canyon nach rechts weiterzulaufen. Dabei mussten wir alle vier mehrere Male den kleinen Fluss queren. Wir entwickelten hier ein Vorgehen, welches immer wieder zur Anwendung kam. 
Ich sprang mit den beiden Kindern auf dem Buckel stets als Erster über die Steine, die ich als Route auserkoren hatte. Dann holte ich nur mit Felix vor dem Bauch Ulli nach, die inzwischen auch große Sprünge zu machen vermochte, wenn ich ihre Hand nur vorsichtig hielt. So arbeiteten wir uns Furt für Furt voran. Am Ende des Canyons wartete eine noch schönere Überraschung als der versteckte Wasserfall. In langen glitzernden Vorhängen rann hier das Wasser über die Kante in die Klamm und produzierte ganz zauberhafte Lichtspiele.



Irgendwann endete aber auch dieser Weg an einem kleinen Wasserfall, der den auf wenige Meter geschrumpften Abstand zwischen den Felswänden voll einnahm. Hier endete unsere Wanderung. Wir kehrten um, stiegen in den Unimog und fuhren aus der Thorsmörk wieder heraus. Beggi brauste mit wabbelnden und klappernden Reifen an uns vorbei und grüßte. Am Seljalandsfoss herrschte immer noch Gedränge, und Ulli wollte auch diesmal, trotz des perfekten Wetters, nicht anhalten. Wir mussten dringend einkaufen und rollten noch bis nach Hella, wo wir auf dem Arhus Campingplatz übernachteten. Das entschied Ulli, weil das nahe Restaurant im Internet mehrfach für seine Pferdesteaks gelobt wurde. "Das darfst Du aber Deinen Reiter-Freundinnen nicht erzählen", lachte ich sie aus. Die waren nämlich allesamt strenge Vegetarier bzw. mit allerhand Lebensmittelunverträglichkeiten gezeichnete Veganer. "Und Du bestellst Dir ein kurzgebratenes blutiges Fohlensteak", grinste ich. Ulli ließ sich aber nicht ärgern und fand auch nichts verwerfliches an ihrem Abendessen. Den Campingplatz hatte wir wieder einmal ganz für uns alleine.

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09.09.2017
Wir tankten wieder Wasser und Diesel, entsorgten Müll und leerten das Chemieklo. In unserem 4-Personen-Haushalt mit Kind und Baby ging das nicht mehr anders. Die Kapazität, ganz autark zu sein, hielt der Unimog bei dieser Belastung nur noch ungefähr 4 Tage durch. Dabei sei bemerkt, dass wir mit unserem Trinkwasser auch dreimal am Tag das Geschirr von vier Personen warm abspülten. Eine große Tüte Restmüll pro Tag produzierten wir ebenfalls. Selbst der Lebensmittelverbrauch war entsprechend beachtlich. Ohne diese vielen Campingplätze mit ihrem Service wäre unsere Zeit hier auf Island mit unserem Ullimog nicht möglich. Das muss bei allem Expeditionsmobildenken mal bemerkt werden.
Über die gut ausgebaute 264 fuhren wir zur F210. Das Fahren machte mir an diesem Tag besonders viel Spaß. Die Piste war nicht ausgefahren und hatte einige flache Steigungen. Mit 1200 U/min und so zwischen 30-40 km/h folgte ich den sanften Windungen. Verkehr sahen wir keinen und ich genoss es immer, ohne zu schalten auf eine Anhöhe zu rollen und den Unimog kontrolliert langsamer werden zu lassen. Wenn man den Hügel richtig eingeschätzt hatte, schaffte man es ohne Schalten hinten auch wieder runter. Ulli gefiel die Gegend besonders gut, und sie hielt oft die Kamera aus dem offenen Fenster. Wir bogen auf die Hrafntunnisker-Piste ab und fuhren zur Hütte Dalakofinn, um dort die Nacht zu verbringen.



Ein isländischer Jeep mit 4 Personen parkte vor der verschlossenen Hütte. Ich begrüßte die Isländer und fragte, ob es wohl in Ordnung ginge, hier zu übernachten. "Well the hut is closed but if you stay in the car, it is okay", erklärte der ältere der beiden. Sie verließen uns, und wir machten erst einmal Mittagessen für die Kinder. Genau in diesem Moment, mit einer Pfanne voll halbgarer Zwiebeln und einem Topf voll warmer Kartoffeln, ging uns das Gas aus. "Heute morgen haben wir noch drüber geredet", meckerte ich. "Mist, das hat uns gerade noch gefehlt", kommentierte Ulli. Sie bestand aber darauf, zuerst zu essen und dann eine Entscheidung zu fällen. "Morgen ist hier schönes Wetter", jammerte ich. Wir beschlossen trotzdem, heute noch wieder zurückzufahren, um eine neue Gasflasche zu holen. Sollte das alles schnell gehen, würden wir am Abend ja wieder hier sein können. Wir packten zusammen und dampften ab. In einiger Entfernung bemerkte ich einen isländischen Geländewagen, der eine Staubfahne hinter sich herzog. Am Limit fahrend jagte ich dem Fahrzeug hinterher. Es galt die Kurven zu kriegen und bei den langen Bodenwellen nicht durchzufedern. Leistung hatte der Unimog für diese Fahrerei genug, und nur selten wanderte die Tachonadel über 60 km/h hinaus. Als ich bis auf 30 Meter an den Isländer heran war, legte der ebenfalls eine Kohle auf. Vermutlich war es ihm peinlich, von einem Unimog eingeholt zu werden. Er fuhr nun ebenfalls am Limit, und ich merkte, dass er auf den Geraden stets viele Meter gewann. Bei den hohen Bodenwellen, die ich gerade so ausfederte, sah ich sein Auto mehrfach mit der Vorderachse abheben. Immer wenn das passierte, holte ich einige Meter auf.
Mich erstaunte die Fähigkeit des Unimogs, solche Wellen schneller durchfahren zu können als dieser Geländewagen. In den Kurven schenkten wir uns nichts. Folgten jedoch schnelle Kurvenwechsel, hatte ich aufgrund meiner besseren Sichtweite wieder einen Vorteil. Wütend preschte mein Vordermann bei jeder geraden Sektion davon, nur um beim nächsten Buckel oder beim nächsten Kurvenwechsel wieder eingeholt zu werden. Es war hochinteressant, das Fahrverhalten dieser komplett verschiedenen Fahrzeuge im Vergleich zu erleben. "Jetzt ist hier aber Paris-Dakar", nannte Ulli mein Privatrennen. "Gib zu, das macht dir Spaß", sagte sie. "Ich kann es eigentlich nicht glauben, dass wir hier mit unserem Dampfer mithalten können", rief ich. "Man muss höllisch aufpassen und genau lesen, was die Piste auf den nächsten 50 m macht. Es ist wie schnell nach Noten spielen", fügte ich hinzu. Wir brauchten von Dalakofinn bis nach Foss am Ende der F210 nur 1 Stunde und 9 Minuten. Ein albernes Männerspielchen war das aber trotzdem, da machen wir uns mal nichts vor.
Die nette blonde Dame am Schalter der N1 brachte eine graue 10-kg-Kunststoff-Gasflasche. Sofort bemerkte ich das Innengewinde am Kopf der Flasche. Das würde nicht an den Anschluss im Ullimog passen. "That will not fit", erklärte ich ihr. "I always bought gas in iceland and it has  never been a problem", wunderte ich mich. "I can not believe the standard has changed", drückte ich meine Befürchtung aus, nun im Kalten sitzen zu müssen. Die Dame war zunächst ratlos und holte schließlich ihren Kollegen vom Grill herüber. Die Leute in der Warteschlange wurden auf mich aufmerksam und begannen schon zu tuscheln. Der Mann ging rüber zum Regal und suchte nach einem Adapterstück, welches er mir verkaufen wollte. "They are all sold out", redete er sich heraus. Ich glaubte dem ganzen Treiben nicht und konnte es mir einfach nicht vorstellen, vor wenigen Jahren wie selbstverständlich noch einen anderen Anschluss erworben zu haben. Die Chefin der Tankstelle bekam meinen Unmut irgendwie mit und schritt ein. Die Isländer wechselten ein paar Worte, wobei die Vorgesetzte eine "yellow steel bottle" erwähnte. "Yes, exactly", unterbrach ich sie. "It was a yellow steel bottle", versicherte ich. "Ahh, you need a 11 kg bottle. We do have it, too", lächelte sie. "It also has different threads", fügte sie hinzu. Das Problem schien sich zu lösen. Der Mann macht auf dem Absatz kehrt und kam kurze Zeit später mit einer gelben 11-kg-Flasche zurück. Ich strahlte über das ganze Gesicht, da ich sogleich das passende Gewinde erkannte. Alle Beteiligten freuten sich über diesen Ausgang der Geschichte. Wir witzelten noch herum, während ich die begehrte Energie bezahlte. Das Wetter hatte sich inzwischen so verschlechtert, dass wir die Fahrt zurück ins Hochland auf den nächsten Tag verschoben.

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10.09.2017
Die Nacht verlief weniger gut, Felix hat seine Backenzähne mit 3 Brüllaufwachern kommentiert, und Fine hatte nach mehreren erfolgreichen Durchgängen in den letzten Tagen wieder mal nachts ins Bett gemacht. Das blieben unterm Strich die größten Herausforderungen, mit denen wir uns auf dieser Reise auseinandersetzen mussten, das schiere Handling der Kinder. Ich möchte sie am liebsten immer dabei haben, und sie bereichern unseren Tag ohne Grenzen, aber es gibt auch Momente, wo ich mich an das einfache Reisen zu zweit nicht ungern erinnere. Jedenfalls entstand ein Problem, unserer Wäsche nachzukommen, da sich in unserer Nähe auch keine uns bekannte Waschmaschine befand. Das Wetter zeigte sich bewölkt und stürmisch, und auf der Wäscheleine des Campingplatzes bekamen wir unsere zuvor mit "Rei in der Tube" im Waschbecken der Behindertentoilette geschrubbten Klamotten nicht wirklich trocken. Im Ullimog wurde inzwischen jedes waagrechte Bauteil als Wäscheleine gebraucht, und die Heizung lief fortan volles Rohr. Auch egal, denn wir konnten unsere neuen 11-kg-Gasflasche in der verbleibenden Zeit sowieso nicht aufbrauchen. Nachdem wir alle Flüssigkeiten geleert bzw. ergänzt hatten, kauften wir noch nach, was wir am Vortag verbraucht hatten. Anschließend rollten wir wieder los in Richtung F210. Die Scharte mit der plötzlich leeren Gasflasche wäre also ausgewetzt. Ulli und ich hatten die Kinder für heute komplett auf die hinteren Plätze verbannt, und erzählten schön miteinander. Fine bekam dieses Mal ihr Getränk rationiert, und somit entfielen auch die viertelstündlichen Pipi-Stopps. Um Mittag erreichten wir endlich wieder Dalakofinn, wo es heftig stürmte. Laut Wetterbericht herrschten um die 20 m/s Wind, was ich als realistisch einschätzte. Die Türen des in den Wind geparkten Unimogs konnten wir nur mit größter Anstrengung öffnen. Zum Glück befanden sich die Kinder bereits im sicheren Aufbau. Ulli und ich genossen die Gemütlichkeit, die in dem sanft schaukelnden Aufbau aufkam und beschlossen, an diesem Tag gar nicht mehr vor die Tür zu gehen. Der Sturm pfiff so stark unter dem Auto durch, dass unsere Ufotreppe gar nicht mehr vollständig ausfuhr und waagrecht baumelte, wenn sie geöffnet wurde. In solchen Situationen mache ich mir immer einen Spaß daraus, vom Dach zu pinkeln. Man muss dabei aufpassen, nicht über die Kante geweht zu werden und sollte zudem in der Lage sein, einen Sturz aus gut 3 m Höhe unversehrt zu überstehen. Sinnigerweise stellte ich mich so weit nach Lee wie möglich und mit dem Rücken zum Wind. Der Bogen zerlegte sich nach etwa einem halben Meter schlagartig und wurde vom Sturm so fein zerstäubt, dass nicht ein einziger Tropfen auf dem Boden ankam. Nach dem Mittagessen fielen wir alle in einen tiefen Schlaf, und erst um fünf Uhr nachmittags weckte uns unser Fraggel-Felix. Auf dem Bett tobten wir eine Weile rum, schauten mehrere Folgen "Shaun das Schaf" und genossen unsere Zeit zu viert auf engstem Raum, während draußen wieder die böse kalte Welt unterging. Am Abend kam noch ein nagelneuer und vom Aftermarket gezeichneter Mercedes G mit Dachzelt an die Hütte gefahren. Die Insassen waren selbstverständlich Touristen wie wir, denn Isländer treten nie so peinlich auf. Sie checkten die Hütte und entschlossen sich wohl wegen des Windes, die Nacht woanders zu verbringen. Ich schielte auf den AMG-Schriftzug am Heck des Fahrzeugs. "Tja, bei dem Sturm wird das 'ne Flatter-Schaukel-Nacht. Da helfen Euch auch die 400 PS unter der Haube nicht weiter", lästerte ich durch die dicke Verbundglasscheibe. "Hättest Du die Kohle, die Du unter die Haube gesteckt hast, lieber anders investiert. In jedem Hanomag, der etwa halb soviel kostet wie Dein vorletztes Chiptuning, schläft es sich hier und heute millionenfach besser." "Was erzählt Du denn da wieder für einen Käse, lass doch die Leute fahren wie sie wollen", unterbrach Ulli wie gewohnt meine anonyme Attacke. Der Fahrer und der Beifahrer, offensichtlich Vater und Sohn, wurden auf Felix aufmerksam, der das Auto draußen durch das Fenster staunend beobachtete. Sie winkten lachend und fuhren wieder davon. Später kam noch ein optimistischer Ausfahrhubdach Europcar Hilux, der sich neben uns häuslich niederließ. Dessen Besatzung winkte ebenfalls Felix, der die Kontaktaufnahme mit einem begeisterten Quieken beantwortete. Aber auch in dieser Nacht behielt der isländische Wetterdienst recht. Die Nordwestwetterlage blieb stabil und bescherte uns eine kalte, stürmische Nacht. Im gemütlichen Ullimog bekamen wir davon kaum etwas mit. Alles, was man merkte, war das sanfte Schaukeln des Aufbaus und das Säuseln des Windes um die Kofferecken. Unseren Nachbarn hingegen erging es nicht so gut. Gegen Mitternacht kurbelten die ihr Dach wieder runter und nahmen auf den Sitzen des Autos Platz. "Mensch, die Armen, die können nicht pennen", kommentierte ich meinen zufälligen Blick aus dem Fenster. "Zum Glück ist der Unimog islandtauglich", piepste es unter der Decke neben mir. "Leg dich wieder hin und halt Deine Füße an die Wärmflasche", bestimmte meine Frau.

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11.09.2017
Es stürmte immer noch mächtig, und mein erster Blick galt dem Toyo neben uns. Die Insassen hatten ihre Daunenjacken an, trugen Mütze und Handschuhe und guckten durch die beschlagenen Scheiben nach draußen. Der Motor des Autos lief, was nur anhand der Wolke am Auspuff zu erkennen war, denn das Gesäusel des Windes übertönte den Motor bei weitem. Wenig später fuhren sie an und verschwanden. Wir genossen noch eine Weile die Tatsache, hier ganz zeitlos unterwegs zu sein. Ich startete müde die Heizung und kroch wieder ins Bett. Wie in Trance beobachtete ich die Innenraumtemperaturanzeige, die nun langsam von 10° C auf 20° C kletterte. Das Wetter entwickelte sich klar und sonnig, und über den Gipfeln der Berge standen herrliche linsenförmige Sturmwolken. Wir fuhren zurück auf die Hranftinnusker Piste, die wir 2012 wegen des Wetters nicht komplett fahren konnten. Heute war uns Petrus jedoch wohlgesonnen, und wenn immer der Blick auf den Berg frei wurde, sahen wir, dass die Wolkendecke deutlich über dem Gipfel des weithin sichtbaren Berges lag. Auf den gegenüberliegenden Hängen konnten wir die Frostgrenze der letzten Nacht noch ausmachen. Neuschnee entdeckten wir allerdings keinen. Bald erreichten wir die Sektion mit der Schrägfahrt. Irgendwie kam es mir dieses Mal harmloser vor, und so folgten wir einfach langsam mit eingeschalteter Sperre dem Fahrweg. Sollte das Fahrzeug den kritischen seitlichen Kippwinkel überschreiten, welcher gefühlt noch ein paar Grad entfernt lag, würde ich mit Volldampf hangabwärts in die Falllinie hineinlenken. Ja, als Deutscher musste ich dabei natürlich auch an die Verletzung des lokalen Gesetzes denken, welches das Verlassen der Fahrspur strikt verbot. Ich teilte den Gedanken während der langsamen Fahrt mit Ulli und sie meinte: "Kein Isländer würde, nur damit er nicht umfällt, an die Dreimeterspur im Sand nachdenken. Ich will, dass Du da sicher durchfährst, und wenn es nötig ist, fährst Du den Bogen nach unten", fügte sie bestimmend hinzu. Mir kam auf einmal mein Gedankengang höllisch absurd, megadämlich und vor allem sehr teutonisch vor.
Wir erinnerten uns beide an die Strecke und freuten uns, als wir den Punkt erreichten, wo für uns das "Neuland" begann. "Guck, hier haben wir letztes Mal Kaffee getrunken und hier sind wir umgekehrt", bemerkte Ulli. Die ersten Fumarolen rechts und links des Fahrwegs erschienen, und begierig ging Ulli mit der Kamera darauf los. Die farblich schrillen Flecken dampfender und stinkender Erde fanden sich recht zahlreich in dem von kleinen Erhebungen und Senken durchzogenen Gebiet. Immer wenn das Sonnenlicht die schrill grün gefärbten Moosteppiche traf, entstanden erstaunliche Lichteffekte. Die Piste befand sich in gutem Zustand, und ich genoss es tierisch, die sanften Wellen mit der Achsverschränkung langsam zu durchwurschteln. "Einfach Lenkrad in die Hand und langsam durch", sagte ich so oft, bis Ulli es nicht mehr hören konnte. Sogar Josefine, unterstützte mitunter ihre Mutter mit den Worten: "Mensch Papa, bei jeder Bodenwelle sagst Du dasselbe, das nervt." Ulli warf mir dann immer einen vielsagenden Blick zu.
Der Unimog bog auf die Stichstraße, die zum Hranftinnusker heraufführte. "Erst Berg oder erst Eishöhle?" richtete ich die Frage an die Besatzung. "Eishöhle, kam es recht deutlich von hinten, und ich konnte in dem kleinen Rückspiegel sehen, wie Josefine in die Hände klatschte. Ihr Bruder machte das prompt nach, ohne wohl genau zu wissen, worum es gerade ging. "An der Eishöhle machen wir dann Mittagspause", bestimmte Ulli. Ich folgte der Spur und traf endlich auf den blauen klebrigen Schlamm, für den die Piste so bekannt ist. Das Zeug setzte die Reifen ordentlich zu, und nachdem wir wieder ein Feld mit Lavakieseln durchrollt hatten, sahen die Räder wie paniert aus. Das Reifenprofil schmierte es vollständig glatt aber das schien unser Fahrzeug nicht zu beeindrucken.



Der Parkplatz am Ende der Strecke hing so schief, dass wir unsere Pläne in Sachen Mittagspause überdachten. "So kann man nicht kochen, lass uns da runter gehen und dann weiterfahren", schlug Ulli vor. An der Eishöhle trafen die Elemente Feuer und Wasser auf eindrucksvolle Weise aufeinander. Ein kleines Geothermalgebiet mit vielen winzigen kochenden Pfützen, kleinen warmen Flüsschen und einigen Schlammpools hatte auf der Südseite des Berges mehrere Höhlen in ein 30 m dickes Altschneefeld geschmolzen. Ein Schild warnte eindringlich vor dem Betreten der Höhlen, da ständig Material von der Decke nachstürzte. Tatsächlich lagen sämtliche Eishöhlen voller Schneebrocken, die zudem so aussahen, als seien sie vor nicht allzu langer Zeit herabgefallen. Wir verboten Josefine eindringlich, die Hohlräume zu betreten, was sie missmutig aufnahm, denn einige überragten sie nur wenig, was sie auf die Idee mit den "Kinderhöhlen" brachte. Ich musste meinem Verbot mehrfach Nachdruck verleihen und drohte meiner Tochter, sie in den Unimog zu sperren, sollte sie nicht endlich folgen. Erst als ich ein Zitat aus Jim Knopf brachte und dabei auf das Schild deutete: "Solche Inschriften sind nicht zum Spaß da", hielt sie sich daran.
Für die Mittagspause stellte ich den Unimog mit dem "Panoramafenster" vor einen besonders schönen Hotspot und genoss während des Essens die Aussicht. "Da bekommt der Unimog neben Nachbars Garten mal endlich 'ne ordentliche Kulisse", sagte ich grinsend, die Dampfsäule betrachtend, die strahlend weiß nur 5 m entfernt in den blauen Herbsthimmel schoss. Die Auffahrt zum Hranftinnusker selbst bescherte nach jeder Wende eine schönere Aussicht auf das Fjallaback. Diese so kontrastreiche, bunte und von Schneefeldern gesäumte Landschaft entlockte uns jedes Mal ein Staunen, wenn der Blick von vor einem Moment durch einen neueren, noch aufregenderen abgelöst wurde. Inzwischen hatte sich der Untergrund verändert. Immer wieder erschienen die für die Gegend typischen "Glassteine", die dunkelblau in der Sonne glitzerten. "Das sieht ja aus, als ob wir über Glasscherben fahren", meinte Ulli. Ich dachte nur an unsere Reifen und achtete peinlich darauf, die ganz spitzen Dinger nicht mit der Flanke zu berühren. Laut GPS befanden wir uns in unmittelbarer Nähe des Gipfels, und angesichts der guten Fernsicht wollte ich mir diesen natürlich nicht entgehen lassen. Auf einer nahen Anhöhe fanden sich plötzlich Markierungspfähle, die in Richtung Gipfel wiesen. Nach der nächsten Biegung stießen wir an ein Schneefeld, welches zwar leicht stieg, aber wenig Seitenneigung aufwies. Ich prüfte das Einsinken mit der Vorderachse. Der Unimog machte nur breite Reifenabdrücke, die keineswegs eindrangen. "Bevor ich das riskiere, eventuell Luft ablasse oder gar Schneeketten aufziehe, gucke ich mal 'ne Ecke weiter", kommentierte ich mein Aussteigen. "Bitte fahr das nicht, wir sind zu schwer dafür", hielt Ulli dagegen. Tatsächlich fand sich nur zwei Biegungen aufwärts ein weiteres Schneefeld, welches total zerwühlt war und im Gegensatz zu dem ersten eine relevante Seitenneigung aufwies. Nur wenige hundert Meter weiter befand sich die Hütte, in deren näherer Umgebung mindestens 50 bunte Wanderer herumwuselten. Außerdem parkten zwei isländische Jeeps mit großen Reifen davor. Mit den Worten: "Da gehe ich nicht runter", machte ich kehrt und lief zurück zum Ullimog.



"Ulli, der Gipfel ist hier ganz nah und die Fernsicht ist fantastisch", sprudelte ich begeistert hervor. Sie packte ihr Stativ, ich packte Felix warm ein, und Fine bekam ihren Buff über die Ohren gezogen. Kurz darauf erreichten wir die höchste Erhebung in der Umgebung, die ein großer Steinmann markierte. Einen wirklichen Rundumblick gab es nicht, da der Hranftinnusker ein Gipfelplateau besitzt, welches nur etwa 3/4 des erhofften Blickes freigab. Ganz deutlich konnten wir jedoch den Laugarvegur ausmachen, der hier in Nord-Süd-Richtung an der Flanke des Berges entlang verlief. Diesen bekannten Wanderweg säumten Holzpflöcke, die von unserem Standpunkt aus von Horizont zu Horizont reichten. Aber es waren nicht die Holzpflöcke, die uns überraschten. Es waren die knallbunten Klamotten der überaus zahlreichen Wanderer, die sich wie auf einer Ameisenstraße und von der Sonne komplett ausgeleuchtet durch die Landschaft bewegten. "Sag mal, sind das alles Menschen?" fragte Ulli ungläubig. "Ja, das sind alles Menschen", antwortete Josefine. "Das müssen weit über hundert sein. Und das alles im September. Ich will gar nicht wissen, was hier im Sommer los ist", ergänzte ich. "Also darauf hätte ich keine Lust", sagte Ulli. "Wenn die sich die Hand geben, können die ja eine Menschenkette von Landmannalaugar bis nach Thorsmörk machen".
"Vermutlich sogar bis Skogar", warf ich ein. "2003, als ich da mit Tobias gewandert bin, sind uns nicht so viele Leute begegnet", stellte ich fest.



Inzwischen hatten es zwei Wanderer, die vermutlich in der Hütte nächtigten, zu uns zum Gipfel geschafft. Ungläubig blickten sie das im Bauchtragegestell schlafende Baby und das fünfjährige Mädchen an, welches kleine Steinmännchen baute und jedem einen eigenen Namen gab. Wir grüßten kurz, und sogleich trollten sich die beiden wieder.
In herrlichem Abendlicht fuhren wir runter nach Landmannahellir. Ein Klick auf die Aufnahme mit dem grüngelben Moos führt zu einem Video der Passage. Ich suchte immer wieder nach der Steilauffahrt, die es auf dieser Piste angeblich geben sollte. Hier fanden sich jedoch nur sanfte Wellen im schwarzen und griffigen Lavasand und die ein oder andere mäßig steile Ausfahrt durch diverse kleine Senken.



Schließlich erspähte ich links in unmittelbarer Nähe eine kurze Nebenspur, die über einen kleinen Gipfel mit Steinmann führte. Die letzten 20 m waren tatsächlich mal etwas steiler. "Da willst Du hoch, ich fürchte mich", lies Ulli verlauten, als ich den ersten Gang einlegte und die Sperre aktivierte. "Vermutlich geht es noch im Zweiten, aber ich will das langsam fahren und an der steilsten Stelle mit dem Gas spielen", neckte ich zurück. Der Ullimog kletterte ohne Murren über die Kante, und plötzlich bot sich eine irre Rundumsicht. Ulli konnte ein "Boa" nicht verkneifen und Fine rief von hinten: "Mama, ich hab' gedacht, der Papa fährt jetzt senkrecht". Ich stieg aus und lief eine Weile auf dem kleinen Plateau herum.



Kurze Zeit später erreichten wir den Punkt, der uns beim letzten Versuch vor fünf Jahren in der anderen Richtung umkehren ließ.
Als ich auf der schönen glatten Wiese, die in den schönsten Herbstfarben golden schimmerte, die Tür öffnete, kletterte Josefine sogleich heraus und rannte wiehernd im Pferdetrab bis zum Horizont. "Die hat wohl Auslauf gebraucht", meinte Ulli und nutzte das letzte Licht des Tages für ihre Fotos. "Stell doch mal den Felix an einen Reifen und guck, dass er das Plärren anfängt", lachte sie. Das machten wir 2012 mit Josefine, die damals noch nicht laufen konnte und einmal dort platziert nicht mehr fortkam.
Jetzt rannte sie an der Sichtgrenze hin und her und spielte.
Fine kam von ihrem Ausflug mit den Worten: "Papa, Du must mitkommen, ich will Dir was zeigen" zurück. Sie hatte auf dem Boden ein Hufeisen gefunden, an dem sogar noch ein krummer Hufnagel festhing. Sie traute sich zunächst aber nicht, das Ding aufzuheben und führte mich hin. "Finchen, das bringt ja doppelt Glück, Hufeisen und Hufnagel", rief ich begeistert. Sie verstaute das kostbare Souvenir sogleich in ihrem Fach im Unimog.

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12.09.2017
Ulli erwachte mit einer akuten Bindehautentzündung und klagte außerdem über Hals- und Gliederschmerzen. Irgendwo hatte sie sich dummerweise etwas eingefangen.
Wir planten eigentlich, den Tag zum Fahren zu nutzen, da für die kommenden Tage wieder gutes Wetter an der Südküste vorausgesagt war. Laut Plan gedachten wir über die Krakatindur Route auf die F210 zu stoßen, um dann weiter Richtung Laki zu fahren. "Ich wünsche mir noch Laki für meine Fotos", pflegte Ulli zu sagen. Heute fühlte sie sich jedoch nicht gut, und wir überlegten schon, schlicht hierzubleiben und sie auszukurieren. Schließlich beschlossen wir, doch abzureisen und bei Bedarf in einer der vielen Hütten auf dem Weg anzuhalten, sollte ihr Zustand dies erfordern.
Es begann leicht zu regnen, und die Wolken lagen auf den Bergen auf. Ich erinnerte mich an einige Sektionen der Krakatindur-Piste und staunte, wie sich diese doch über die Jahre verändert hatten. Einige Passagen gaben sich deutlich entschärft, andere Stellen hatten inzwischen zahlreiche Alternativrouten bekommen. Der lange Hang mit dem steilen Buckel war total zerfahren. Am steilsten Stück hatte sich eine tiefe Auswaschung gebildet, vermutlich genau an der Stelle, wo einige Fahrzeuge an ihre Grenzen gerieten. Links neben der eigentlichen Spur existierte eine alternative Umfahrung, die dieses Hindernis umging. Ich wollte jedoch wissen, ob der Unimog, ohne in den Anschlag zu verschränken, die alte Hauptstrecke packen würde. Steckenbleiben war hier relativ unwahrscheinlich, da es steil bergab ging. Im ersten Gang und voll gesperrt durchkrabbelte ich das Steilstück. Aufgrund des Regens hätte das auch anders aussehen können aber offensichtlich reichten 365er Reifen mit 2 bar und vier Räder, die sich nur gleichschnell drehen können, hier aus. Schon toll, welches Sicherheitsgefühl der Unimog bot, wenn es drauf ankam.
Ich konnte mich noch an einen weiteren langen Steilhang erinnern, den wir 2012 nahmen. Diesmal würden wir aus der umgekehrten Richtung kommen. Als wir den Abhang erreichten und der Unimog oben am Scheitelpunkt anhielt, kam mir das Ganze gar nicht mehr so steil vor. Es zeigten sich zwar wieder Dellen, aber hier würde der Unimog kein Problem vorfinden. Ich legte einen niedrigen Gang ein, sperrte alle Achsen und ließ den Motor im Leerlauf die Bremsarbeit verrichten. Völlig sicher und kontrolliert schaukelten wir langsam den Abhang hinab, der am Fuße flach auslief. "Das hatte ich steiler in Erinnerung", ließ ich Ulli wissen. Sie reagierte kaum, was wohl auch daran lag, dass sie sich ordentlich Schmerzmittel verabreicht hatte und mit Mütze, Sonnenbrille, Kopfhörer und verschränkten Armen in der Ecke saß.
"In einer halben Stunde sind wir an der ersten Hütte", meldete ich. Ulli nickte müde mit verzerrtem Gesicht. Wir durchquerten ein recht junges Lava-Feld mit engen Kehren und schmalen Durchfahrten, die wieder viel Aufmerksamkeit wegen der Reifenflanken erforderten. Über schwarze Sandberge und eine große schwarze Sandebene führte die Strecke nach Dalakofinn. "Hinter dieser Steigung ist die Hütte", informierte ich Ulli. "Schon?" fragte sie ungläubig. "Also wenn die Kinder gut drauf sind, würde ich noch weiter fahren", entschied sie. Felix schlief und Fine versprach durchzuhalten, wenn sie vorne zwischen uns Platz nehmen dürfe. Da Ulli kaum ansprechbar war, widmete ich mich Josefine, die zu allem in der Umgebung eine Geschichte erfand. Unser Unimog, jetzt in der Rolle der Lokomotive Emma, wurde von der Riesenschnecke Hulgaturga verfolgt, die die Steintrolle aus dem Nebel auf uns gehetzt hatten. Schlammige Furten mutierten zum Trollpipi und klare Furten waren fortan Schneckenschleim. Wir passierten die "Wüste, das Ende der Welt" ebenso wie das "rot-weiß gestreifte Gebirge, die Krone der Welt", wo wir dem Drachen und seinen drei Krallen nur knapp entkamen. Am Alftavatn erreichten wir die nächste Hütte. "Hier gefällt es mir nicht, komm, wir fahren weiter", bestimmte Ulli. Die ganze Gegend stand voll mit Laugarvegur-Wanderern, die sich auf unterschiedliche Art regenfest gemacht hatten. Nach meinem Geschmack schleppten die alle viel zu viel Krempel mit. Die nächste Hütte Hvanngil stand nur wenige Kilometer entfernt. Schon wegen der vielen Pferde auf der Koppel entschied sich Ulli, dort zu bleiben. "Ich will mit reinkommen zum Bezahlen", forderte Josefine. Angesichts der vielen Geschöpfe und Gefahren, die sie auf dem Weg besiegt bzw. abgewendet hatte, stand ihr dieses Privileg in ihren Augen zu. Die Hüttenwirtin, eine nette isländische Ärztin, hatte ebenfalls eine kleine Tochter. Die beiden kleinen Mädchen blickten sich gegenseitig mit großen Augen interessiert an. Nach einigen freundlichen Wortwechseln der Eltern wurde Josefine zum Fernsehabend eingeladen und freute sich tierisch auf das Ereignis. Wir fuhren auf die nahe Wiese, da die direkte Umgebung der Hütte für das abendliche Barbecue der Männer vorbereitet wurde. Die waren allesamt beim Schafabtrieb. Dies ist Tageslichtgeschäft, und bei so vielen Männern auf einem Haufen ist da sicher bis spät in die Nacht feiern angesagt. Ulli krabbelte nur stöhnend ins Bett und wollte von dem Tag nichts mehr wissen. Ich fütterte Felix, legte ihn ins Bett und beantwortete Fine alle zwei Minuten ihre Frage, wann sie nun endlich rüber zu ihrer neuen Freundin dürfe.
Schließlich war es soweit, und wir marschierten Hand in Hand durch die Dunkelheit über den kleinen Holzsteg an der Minifurt zu dem schönen Holzhaus. Josefine wurde schon sehnsüchtig erwartet und auch ihr Mitbringsel, zwei Lollis, erzielte die erwartete Wirkung. Ohne Worte setzten sich die beiden auf die Couch und schauten "Paw Patrol", was auch immer das war. Kichernd kommentierten sie die Szenen in ihren jeweiligen Landessprachen, sehr zur Freude der Isländer, die dem Schauspiel beiwohnten. Die Großmutter des Mädchens unterband jeden meiner Versuche, mich bis zum Ende der Show wieder zum Unimog zu verdrücken, geschickt mit einer neuen Dose kaltem Bier. So als einziger Mann, der jetzt nicht draußen mit den anderen arbeitete und im Warmen bei den Frauen saß, plagte mich der Anflug eines schlechten Gewissens. Sie wollte davon aber nichts wissen, und Mutter und Tochter schätzten die Abwechslung bei der Gesellschaft. Wir unterhielten uns eine ganze Weile bei Kerzenlicht, und ich hatte gar nicht das Gefühl, diese Leute erst seit kürzester Zeit zu kennen. Wir sprachen über den Tourismus, die Wirtschaft und darüber, was die Einheimischen an ihrer Insel so schätzen. Natürlich redeten wir auch über Landsbjörg, und wieder erzählte ich meine Rettungsgeschichte, immer in der Hoffnung, auf jemanden zu treffen, der den Vorfall irgendwie mitbekommen hatte. Außerdem sind Hüttenwarte beinahe alle Mitglieder bei dieser hochgeschätzten Freiwilligenorganisation. Mit Ehrenamt kenne ich mich ja nun auch ein wenig aus. Plötzlich kamen meine Gastgeber auf den Ullimog zu sprechen: "That is a nice car, it is a Unimog, isn't ist?"  Ich erzählte kurz, wie wir den alten LKW umgebaut und in den letzten Jahren restauriert hatten.
"Icelanders care a lot about big cars, don't they?" kommentierte ich das Interesse. "Yes, especially the boys", meinte die Großmutter, die mir irgendwie gar nicht alt vorkam.
"You know, I had a very good car conversation with the Warden in Thorsmörk", erwähnte ich meine Unterhaltung mit dem Hüttenwart. "When was that?" wollte die Frau wissen. "Just a couple of days ago, his name is Beggi", antwortete ich. "He is a friend of my son and both of them are all into cars", lachte sie zurück.
Die Bettgehzeit der Kinder riss uns aus dem kurzweiligen Abend, und weinig später liefen Fine und ich Hand in Hand durch die kalte Dunkelheit zurück zum Ullimog. "Das waren aber sehr gute Menschen", stellte sie fest. Dieser Schluss meiner Fünfjährigen freute mich besonders.


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13.09.2017
Nach nunmehr 6 Wochen Laufpause überkam mich die Lust nach Frühsport. Gestern hatte ich von dem kleinen Wettbewerb erfahren, den die Bewohner der Hütte hier am Start hatten. Sie liefen öfter auf den nahen Gipfel und trugen die Zeit in das Gipfelbuch ein. Da wollte ich auch eine Notiz hinterlassen. Der Aufstieg ließ mich meine Versäumnisse beim Training gnadenlos spüren. Gefühlt versagte ich auf der ganzen Linie, kackte voll ab und überlegte schon, den Eintrag auszulassen. Nach 9 Minuten und 20 Sekunden erreichte ich mit Felix im Bautragegestell den Steinhaufen, der die höchste Stelle markierte. Das ärgerte mich so maßlos, dass ich den Kleinen unten abgab und es eine Stunde später nochmals versuchte. Die Höhe und die Distanz ließen mich auf eine Zeit um 5 Minuten hoffen. Tatsächlich schaffte ich diesmal 6 min 55. Mit brennender Lunge stieg ich wieder auf den Fahrersitz. "Sobald ich wieder daheim bin, werde ich wieder fit", versprach ich. Vor uns lag der Weg weiter nach Laki. Dabei benutzten wir eine Brücke am Ende der 208, die ein Gewichtslimit von 5 Tonnen hatte. Mein Leichtbautick beim Basteln zahlte sich nun endlich aus. Der so eingesparte Umweg erwies sich als nicht unerheblich. Die Fahrt zog sich dennoch enorm in die Länge. Völlig fertig erreichten wir endlich den kleinen Campingplatz Blágil. Außer uns übernachteten dort wieder einmal keine Gäste. Das überraschte uns, denn auf der holprigen, ausgefahrenen Piste begegneten uns viele Fahrzeuge.





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14.09.2017
Mit einem beeindruckenden Sonnenaufgang begann dieser stürmische, sonnige Tag. Die Fernsicht litt jedoch ein wenig unter der Feuchtigkeit, die noch in der Luft lag. Zum Horizont hin trübte ein leichter Dunstschleier die Möglichkeit, noch weiter zu gucken. Zunächst wollten wir auf den berühmten Aussichtspunkt, den Laki, steigen. Wir hatten unserer Tochter von dem "Land der tausend Vulkane" erzählt und fanden, diese Gegend passe am besten zu der Geschichte. Sie wollte unbedingt die vielen kleinen Krater, die sich so schön aneinander reihten, von oben sehen. "Und dann finde ich auch den Vulkan mit dem Halbdrachen Nepomuk", freute sie sich. Aber schon auf dem kleinen Parkplatz, der auf einer kleinen Anhöhe lag, erschien uns die Windstärke für eine Wanderung mit zwei Kindern als zu hoch. Die starken Böen enthielten feinen, scharfen Sand, der unangenehm das Gesicht und die Augen traf. Schon nach wenigen Metern, die wir nur Hände haltend und aneinandergereiht aufrecht überstanden, kehrten wir um. Um dem Wind nicht gar so stark ausgeliefert zu sein, wählten wir einen kleinen Spaziergang, den "Visitors Trail", durch die Kraterlandschaft. "Komm, lass' uns lieber hier den abgesteckten Pfad machen, da bläst es nicht so", schlug Ulli vor. Große Teile des Weges führten tatsächlich durch eine tiefe Spalte, die sich ganz unten beinahe wie windgeschützt anfühlte. Fine entdeckte eine Lavahöhle, in der noch Altschnee lag.



Natürlich musste ich nach dem kleinen Ausflug trotzdem rauf auf den Laki. Ulli würde so lange mit den Kindern im Unimog bleiben und Bücher lesen. Ich zog meine Kapuze fest zu, nahm meine Handschuhe mit und lief den Rundwanderweg, der über den kleinen Gipfel, entlang des Rückens an der Ranger-Station vorbei, zurück zum Parkplatz führte. Oben auf dem ausgesetzten Teil des Pfades vermochte ich es nicht, aufrecht zu stehen. Der Wind pfiff ganz ordentlich, wenn auch nicht ganz so schlimm, wie ich es zunächst vermutet hatte. Das Fotografieren gelang dadurch nicht immer. Mir tränten dermaßen die Augen, dass ich nichts scharf sehen konnte. Die Piep-Geräusche des Apparates gingen vollständig in dem Gebrause verloren. Es wackelte heftig, und quer zum Wind den Arm auszustrecken schaffte ich auch nicht. Die ganzen Smartphone-Selfi-Tanten hätten hier oben ihre wahre Freude gehabt. Trotzdem, der Blick von hier oben war einfach phänomenal.



An der Hütte traf ich auf die Hüttenwirtin, die gerade für diese Saison zusammenpackte. "Tomorrow is my last day", erzählte sie gelassen und offensichtlich voller Vorfreude. Sie verbrachte den Sommer hier oben und plante nun die Heimreise. Wir unterhielten uns eine Weile über das Wetter, über Island vor dem Tourismus, die Natur hier oben und über die Lauferei. Sie betrieb, wie ich, aktiv Laufsport und berichtete von ihren Trainingseinheiten und Trainingsmöglichkeiten hier draußen. Auf diese Hausstrecke und diese Kulisse könnte man schon ein wenig neidisch werden. Nichtsdestotrotz kamen mir viele isländische Ranger und Hüttenwirte auch immer etwas einsam und verlassen vor. Für ein solches Leben muss man auch geschaffen sein. Bei aller Wildnis und Vulkanromantik hatte der Job auch eine stille, verlassene Schattenseite.
Wir setzten die sogenannte "Lakirunde" fort und wanderten den langen Trail, der von dem kleinen Parkplatz aus weiter westlich durch die Lava führte. Hier gab es einen kleinen See, Wiesen, die mit einem seltsamen weißen Pilzgeflecht wie "vereist" aussahen, und viele Spalten, Moosdecken und natürlich Wind. Die schöne Einsamkeit bezahlten wir eben mit dem Wind, der die Konkurrenz buchstäblich verblasen hatte.
Die Imbissbude und der Stand für die Lebkuchenherzen blieben daher ebenfalls geschlossen. Um die Ecken der kleinen Containerstadt, die hier in der Hochsaison als Outlet-Store für Trekkingklamotten genutzt wurde, pfiff der Sturm. Wie die allerdings das Riesenrad und das Kettenkarussell für den Winter wieder abbauen wollen, konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Vielleicht ist das gar nicht nötig, denn auf der Freifläche kündigte ein großes Schild schon von dem geplanten Hotelkomplex. Die in den Boden gerammten Stangen verrieten die gigantischen Ausmaße des geplanten Bauwerks.
Als wir auf den Campingplatz einbogen, war ich froh, dass die Fahrerei heute etwas spärlicher ausgefallen war. Wir parkten wieder an derselben Stelle und kochten unser Abendessen. Am anderen Ende der Wiese hatte sich noch ein Bremach zu uns gesellt. Folglich nutzten tatsächlich zwei Fahrzeuge die große Wiese. Das schöne helle Nordlicht der Nacht blieb leider durch die Wolken teilweise verdeckt. Schade, denn es strahlte hell und bewegte sich heftig. Josefine und Ulli konnte ich wieder einmal nicht wach kriegen.



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15.09.2017
Der Abwechslung halber wählten wir für den Rückweg die Westausfahrt aus der Laki-Gegend. Die Einfahrt befand sich nur wenige Kilometer östlich von unserem Standort entfernt. Eigentlich soll man die Route durch den Park nur im Uhrzeigersinn fahren, was einen großen Umweg bedeutet hätte. Ich entschied, mich über dieses Gebot hinwegzusetzen. Gegenverkehr würde es ohnehin nicht geben, da wir schon gegen 8 Uhr loskamen.
Die Piste begann zwar etwas schaukliger als die Hauptroute,  stellte sich aber dann als deutlich angenehmer und vor allem nervenschonender heraus. Es gab keine Miet-Dacia-Traktionsverlust-Hügel und auch keine Ausnudelung durch extensiven Busverkehr.
Der Track enthielt schöne Passagen durch die typisch bemooste Lava und führte durch große Wiesen und Weiden hindurch. Wir passierten eine kleine Farm und erreichten schließlich eine breite Furt. Der kleine Fluss zeigte sich glasklar, floss nur langsam und hatte einen durchweg festen und felsigen Untergrund. Ganz langsam durchschaukelten wir das Gewässer. Fortan führte die Strecke nach Osten und wurde zu einer typischen "Line-Road". Die Hochspannungsleitung begleitete uns noch, bis wir wieder auf die F206 stießen, der wir dann nach Süden folgten.
In Kirjubæjarklaustur stellten wir auf dem großen Campingplatz ab. Die Wäscheberge türmten sich schon bis unter die Decke, und diese Einrichtung bot endlich den ersehnten Service an. Am Nachmittag schleppte ich taschenweise schmutzige Kinderklamotten über die Wiese und wechselte beim Warden wieder eine lächerlich hohe Menge 50-Kr-Münzen. Der Mann nahm es mit Humor, als er beide Hände zu einer Schale formen musste, um mir den Riesenhaufen Geld herüberzuschütten. Ich fütterte damit dann die Maschinen und den Trockner. Als einzige Gäste kamen wir gut mit unseren Arbeiten voran.
Plötzlich fuhren zwei schwer bepackte Männer auf Mofas auf die Wiese. Ich schaute ihnen neugierig nach, denn der hintere der beiden wurde mit einem kleinen Strick vom Vordermann abgeschleppt. Die beiden trugen Motorradkleidung, und an den Zweirädern hingen große Packtaschen. Das interessierte mich natürlich, und ich sprach die beiden Engländer an. Die Kerle waren einfach spitze. Sie umrundeten die Insel mit ihren 50-ccm-Zweitaktern. Dabei verreckte irgendwo bei Jökulsárlón das Getriebe von einem der beiden. Dies trübte die Laune der Briten jedoch nicht im geringsten. Wir unterhielten uns eine ganze Stunde lang. Sie hatten mit ihren kleinen Fahrzeugen sogar schon die Wüste Sahara durchquert und auch so manche anderen beeindruckenden Touren gemacht.
Wir verabredeten uns in dem nahen Restaurant, in das wir mit den Kindern auch gehen wollten. "Da waren wir 2003 schon mal essen", erinnerte ich Ulli. Sie konnte sich zunächst nicht erinnern, erkannte aber später sogar unseren "alten "Tisch am Fenster zwischen den Säulen.
In dem Laden lief gerade "The Offspring", und eine der Kellnerinnen schwenkte entsprechend dynamisch ihr Tablett und bangte dem Mann hinter dem Tresen zu. Der hatte wohl die Musikauswahl getroffen. Das kam schon mal gut, und breit grinsend bestellte ich mir ein dunkles Borg Nr.19 Garún Bier. Das Stout hatte ordentlich Drehzahl. Daher störten die seltsamen Aromen, die dem Gebräu zugesetzt waren, recht wenig. Zum "Fisch des Tages" passte es jedenfalls gut. Zum Nachtisch bestellte ich mir noch ein Borg Nr.10 Snorri. Das Zeug hingegen schmeckte fürchterlich. Natürlich hatte ich das mit der Reihenfolge versaut und beim stärksten Bier angefangen. Trotzdem enthielt dieses sogenannte "Icelandic Ale" irgend etwas, was scheußlich nach Baldrian oder Lavendel schmeckte. "Thymian" las ich schließlich auf dem Etikett. "Das gibt es doch nicht, das ist ja furchtbar", hielt ich Ulli die Flasche hin. Sie bewegte abwägend den Kopf hin und her und probierte auch einen Schluck. "Ist nicht mein Fall", meinte sie. Verflixt nochmal, ich bin ja kein Banause und bestimmt bin ich für andere Geschmäcker offen, aber das Zeug hier schmeckte mehr nach einem exotisch interessanten Experiment, welches auf irgendwelchen fiktiven Traditionen aufbaut, als nach einem Bier. Ich wünschte mir einen Kasten Erdinger Dunkel und hinterher ein gutes Schmucker Doppelbock. Selbstverständlich brauche ich darin keine Schafsköttel und keinen Schokoladen-Kaffeesatz und erst recht keinen arktischen Thymian. Die Isländer machen sich einen Riesen-Kopp um die Rassereinheit ihrer Pferde und über die Unversehrtheit ihrer Moosteppiche. Meiner Ansicht nach sollten die sich erst einmal um ihr Bier kümmern. Es lebe das deutsche Reinheitsgebot. Leider half auch das schöne Nordlicht, welches schwach unseren kurzen Heimweg zum Unimog beleuchtete, nicht gegen den bitteren Nachgeschmack unter der Zunge. Ein erster Anflug von Heimweh überkam mich. Jetzt hätte ich lieber bayrischen Himmel und ein frisches Weißbier.

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16.09.2017
Eine der Zapfsäulen der großen Tankstelle funktionierte nicht. Folglich entstanden Warteschlangen, und viele Autos rangierten scheinbar planlos in dem Getümmel hin und her. Wir reihten uns am Ende der Dieselschlange ein und warteten geduldig, bis ein Fahrzeug nach dem anderen Stück für Stück den Weg freigab. Ich befand mich im Begriff, endlich die entscheidenden letzten 5 Meter vorzufahren, da besetzte plötzlich ein flinker PKW meinen Platz. Die anderen Wartenden hinter mir murrten ob dieser Frechheit. Selbstverständlich handelte es sich um einen Deutschen, der behauptete, schon viel länger woanders gewartet zu haben. Jetzt befand ich mich in der Rolle, ihm nordische Gesetztheit, christliche Demut und anständiges Benehmen beizubringen. Dieser Vollhupe, diesem wandelnden Charaktermangel würde ich es schon zeigen. Ich schraubte geduldig meinen Tankdeckel wieder fest, stieg ein und überließ dem Arschloch kommentarlos meinen Platz an der Sonne,  ääh an der Säule. "Warum hast Du den Depp denn jetzt vorgelassen? Der hat doch ganz klar gedrängelt", fragte Ulli voller Unverständnis. Ich fuhr auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort befand sich noch eine weitere, kleinere Tankstelle, von der aus man das Geschehen bestens beobachten konnte. Ein isländischer Lieferwagen, der in der Schlange hinter mir gewartet hatte, rückte blitzschnell auf und besetzte nun meinen alten Platz. Er begann sofort zu tanken. Natürlich ging der dreiste Deutsche in gleicher Manier auf den Kerl los, wie er das zuvor bei mir getan hatte. Nur diesmal blieb der Erfolg aus, denn der Isländer reagierte gar nicht auf den Typen. "Siehst Du, jetzt bekommt der sein Fett", rief ich Ulli zu, die das Geschehen gegenüber ohnehin beobachtete. Auch sie freute sich über die kleine Gerechtigkeit, die hier nachgeholt worden war. Für die Weiterfahrt brauchte ich noch eine Dose Cola, die es an der kleinen Gegenüber-Behelfstankstelle mit Outdoor-Kartenterminal nicht gab. Also ging ich zu Fuß wieder rüber auf die andere Straßenseite zu unserer "alten" Tankstelle zurück. Ich stand nun am hinteren Ende der Schlange zur Kasse. Durch einen netten Zufall stand der Typ, der sich hier so unhöflich benommen hatte, plötzlich hinter mir. Der Isländer mit dem Lieferwagen wartete vor mir. Der Deutsche erkannte mich, regte sich furchtbar auf und seufzte genervt, als ich nur eine Flasche Cola bezahlte. Gut gelaunt bestieg ich wieder den Unimog. Ich stellte mir nämlich vor, wie Justitia dem Typ mit verbunden Augen gerade ihre Waage über den Schädel zog.
Auf der Ringstraße ging es weiter in Richtung Osten. Schon nach wenigen Kilometern überholte uns laut hupend und am Lenkrad herumgestikulierend der Drängler. Jetzt befand er sich endlich da, wo er hinwollte: ganz vorne.
Wir erreichten schließlich den überfüllten Parkplatz des Skaftafell Nationalparks. Eigentlich gedachten wir weiterzufahren, weil wir den Park schon kannten, aber die Kinder brauchten Auslauf, und auch ich wollte mir wenigstens ansatzweise die Beine vertreten.
Auf den Wegen zu den einzelnen Attraktionen des Parks drängten sich die Touristen. Die perfekt ausgebauten breiten Pfade wirkten geradezu vollgestopft. Es folgten sich die Wanderer nicht nur dichtauf, sondern sahen sich ebenfalls gezwungen, nebeneinander zu laufen. So ein Gedränge hatte ich zuletzt auf der Straße zum Schloss Neuschwanstein erlebt. Ulli trieben jedoch einige Fotoideen an, die sie trotzdem umsetzen wollte. Uns überholten fünf Sachsen, die mit riesigen Stativen mit Carbon-Beinen und schweren Kamera-Rucksäcken ausgestattet waren. Jeder einzelne trug Fotozeugs, welches im Wert deutlich über meinem Jahresbruttogehalt lag. Sie schnauften schwitzend den Berg hinauf und gedachten wohl, im Kampf um die besten Plätze einen möglichst guten Schnitt zu machen. Ich schleppte Felix vor dem Bauch und ließ die harten Marschierer zunächst passieren. Nach einem Kilometer traf ich sie schnaufend am Wegesrand. Felix gluckste ihnen vergnügt zu. Den Svartivoss erreichten sie erst nach Josefine und Ulli, die ebenfalls eine Menge Fotoequipment dabei hatte. Auch das folgende Foto entstand in einem Wald von Stativen, der hier die Vegetation in Fülle und Höhe weit überragte.




Ulli machte fleißig Bilder, und auf einmal beobachteten sie die Sachsen kritisch. Die gehörten wohl zu einer professionell geführten Fotoreise, die auch von einer verantwortlichen Person geleitet wurde. Diesem Mann hatte meine Frau gerade die komplette Schau gestohlen und selbst als Fine mit ihrer Polaroid-Sofortbild-Kamera ein Bild schoss, schielten sie neugierig auf die surrend ausgestoßene Aufnahme. "Sag mal, das kann doch nicht sein", flüsterte ich Ulli zu. "Die Profis gucken, was Du hier mit deiner alten €200,- Kamera anstellst und interessieren sich für das Polaroid einer Vorschülerin?" Der Lehrer reagierte gar nicht und stand schweigend daneben. "Was hat die denn da?" fragte schließlich der Mann, der neben seinem Führer stand. Er erkundigte sich offensichtlich nach Ullis Filter, den sie für die Aufnahme benutzte.
"Einen Filter", machte es tuschelnd die Runde. Mich amüsierte das Ganze, und so störte mich das dichte Gedränge auch gar nicht mehr. Wie es meine Frau allerdings fertigbrachte, ein menschenfreies Bild von dem berühmten Wasserfall zu machen, beeindruckte mich zutiefst.
Wir machten noch den Abstecher über Sel, wo ein amerikanisches Paar auf dem Grasdach des Torfhauses herumrannte. Josefine fand das natürlich lustig und wollte auch. Ich verbot es ihr jedoch, weil es sich nicht gehört, auf anderer Leute Häusern herumzutrampeln, auch oder gerade wenn die Grasdächer haben. Die zwei Dächer kamen mir irgendwie bekannt vor, als hätte ich sie schon mal gesehen. Erst später erinnerte ich mich. Die Giebel finden sich auch auf der Startseite des Islandforums. Wie klein die Insel doch ist und wie gezählt Fotomotive in Island manchmal sein können.



Das Bezahlen der Parkgebühr verlief etwas unerfreulich. Zuerst kapierte ich den Bezahlvorgang mit dem Terminal nicht und dann scheuchte mich noch eine Rangerin (völlig zu recht) vom Parkplatz, weil ich ein Verbotsschild übersehen hatte. Aus lauter Eile, meinen falsch geparkten LKW zu entfernen, vertippte ich mich bei der Eingabe der Autonummer für den Parkschein. Der Park scannte offensichtlich alle ein- und ausfahrenden Fahrzeug und prüfte, ob jeder brav bezahlt hatte. Daher war die Autonummer anzugeben. "Violators will be prosecuted", warnte eindringlich ein großes Schild. Mir schwoll tierisch der Kamm.
Die isländische Boulevardpresse hatte gerade zufällig einen ziemlich gemeinen Artikel über einen deutschen Unimogfahrer veröffentlicht und ihn wegen angeblicher Spuren neben der Piste als "kriminell" und " Idiot", der auf die Nase bekommen sollte, beschimpft. Es wurden Rufe laut, den Mann des Landes zu verweisen und ihn zu kennzeichnen. Ich kannte ja die wahre Geschichte, die hinter den Anschuldigungen steckte und begann mich zu fürchten. Einige isländische Kommentare erinnerten nämlich irgendwie an unsere dunkeldeutsche Vergangenheit, wo ebenfalls völlig grundlos eine bestimmte Menschengruppe öffentlich geschmäht wurde.
"Another German Unimog Traveller violates Parking Fee." "German Unimog Traveller refuses to pay his debts", malte ich mir meine Boulevard-Schlagzeile aus.
Es würden dann irgendwelche Heldenberichte über die hervorragende und genial ermittelnde isländische Polizei folgen. Diese hätte zwar nur die Daten der Parkplatzkamera automatisch ausgewertet, sich aber von solchen miesen Ausländern nicht verarschen lassen.
Vermutlich würde der Unimog beim Zoll an der Fähre konfisziert, meine Frau würde des Landes verwiesen. Ich selbst käme wegen Unzurechnungsfähigkeit und öffentlicher Gefährdung in die geschlossene Psychiatrie, und meine Kinder zöge das isländische Jugendamt ein. Ja, ein Verbrechen gegen die Natur ist ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit. Eines muss man diesen Flachpfeifen aber lassen, so wäre zumindest ein potentieller Zerstörer der ach so empfindlichen und schützenswerten nordischen Vegetation eliminiert und mit Stumpf und Stil ausgemerzt. Dass es eigentlich nur um eine geprellte Parkuhr ging und alle Insassen unseres Fahrzeugs die isländische Natur lieben und so gut es geht schützen und erhalten wollten, interessiert bei so viel öffentlicher Genugtuung dann wenig. Ulli bekäme in 20 Jahren einen Brief mit dem Bedauern der isländischen Justiz und dass ihr Mann wohl einem Leberschaden durch mehrjährige Abhängigkeit von Sedativen erlegen ist. Josefine und Felix würden nach ihrer Jugend in einigen isländischen Pflegefamilien und Kinderheimen heroinabhängig und wären beide HIV-Positiv. Hin und wieder könne man sie auf dem Kinderstrich in Reykjavik sehen, der bei ausländischen Seeleuten beliebt ist. Und das alles nur wegen ein paar Grashalmen, die in Wahrheit niemand umgefahren hat. Tja, Naturschutz ist eine wirklich ernste Angelegenheit, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.
"Du spinnst doch", sagte Ulli augenrollend in den Lärm des weiter nach Osten dröhnenden Unimogs. "Die kriegen das mit Deiner vermasselten Nummer schon auf die Reihe, und Du hast ja den Nachweis der Überweisung", schmunzelt sie. "Ob Beweise in so einem Fall helfen?" fragte ich und nahm das Ganze inzwischen auch nicht mehr so ernst.
Unser Ziel war die kleine Hafenstadt Höfn, wo es ein hervorragendes Hummerrestaurant gab. "Komm, wir gehen da ganz toll essen, bestellen eine Flasche Wein und feiern unsere Elternzeit", schlug meine Frau vor. Ich drückte das Gaspedal noch ein wenig weiter durch und selbst am Jökullsarlon wollte niemand aussteigen. "Guck mal was hier los ist", sagte Ulli. "Früher gab es hier Eisberge und Robben zu gucken. Heute hat es Autos und Outdoorjacken", antworte ich. Ganz schnell war der Spuk am Fenster vorbeigerauscht.
In Höfn fuhren wir als erstes und einziges Auto auf den Campingplatz und stellten uns ganz oben auf die Anhöhe. Wind gab es heute keinen. Ich zog mir meine saubere normale Indoor-Hose an und schlüpfte in mein letztes sauberes Hemd. Bestens gelaunt marschierten wir den bekannten kleinen Pfad hinter dem Campingplatz durch das kleine Industriegebiet zum Hafen. Plötzlich fiel mir ein besonders großer isländischer Jeep auf, der auf Reifen stand, die mindestens 50 Zoll maßen. Ein genauer Blick verriet, dass Unimog-Achsen verbaut waren. Ich schaute mir die Konstruktion kurz an und beschloss, den Mann aufzusuchen, der das gebaut hatte. Seit vielen Jahren träumte ich schon davon, mal mit einem echten isländischen Automodifizierer von Schrauber zu Schrauber zu reden. "Morgen ist Sonntag, vielleicht ist ja morgen jemand da", rief ich Ulli und den Kindern hinterher, die inzwischen schon eine ganze Ecke weitergelaufen waren.
Das Restaurant ist der totale Knaller. Ich mag die orangefarbene Dekoration und den im Schachbrettmuster gefliesten Boden. Felix giggelte ununterbrochen und brachte alle Gäste in Sichtweite zum Lachen. Unsere Tischnachbarn, ein amerikanisches Paar, unterhielten sich nett mit uns. Die Frau sprach sehr gutes Deutsch, da sie vor gut 40 Jahren ausgewandert war. Besonders lustig fand sie Felix, wenn er mit dem Finger auf einen Hummerschwanz zeigte und mit "Das da" seinen Teil einforderte. "He knows the good stuff", meinte lachend ihr Mann. Josefine versuchte, ihre Bestellung auf englisch selbst aufzugeben, und ich platzte bald vor Stolz, als sie der netten Bedienung die Frage nach ihrem Namen und ihrem Alter erfolgreich und auf Englisch beantworten konnte. "Josefine, what a beautiful name", meinte die Kellnerin lächelnd, und weil meine Tochter daraufhin sichtbar errötete, wusste ich, dass sie es verstanden hatte. Jedenfalls hatte das Restaurant sein Geschäftsmodell verstanden. Ulli suchte eine gute Flasche Weißwein aus und wir genossen die gute Laune, die gute Stimmung, das fabelhafte Essen und fühlten uns dankbar, dass uns als Familie dieser Moment vergönnt war. "Ist es nicht genial, dass wir das einfach so machen können", sagte Ulli und pulte an ihren Langusten herum. Ich antwortete nicht, aber Ulli erkannte meinen Gemütszustand. Der kühle trockene Wein hatte einen feinen Hauch von Säure, der zur Neutralisierung des frischen, niemals gefrorenen und traumhaft gewürzten Krebsfleisches einfach hervorragend passte. Sogar Felix ergatterte das eine oder andere Stück Languste und beteiligte sich aktiv an der Crème Brûlée, die sich Ulli und Josefine zum Nachtisch teilten. Ich widmete mich lieber der Weinflasche.
Schließich bezahlten wir die Rechnung und spazierten langsam zurück durch das dunkle Industriegebiet des Hafenstädtchens.
"Für die Kohle haben wir früher einen Monat lang unsere Wohnung gemietet", ließ ich Ulli vor der Tür wissen. "Na war es das nicht wert? Die Kinder waren super brav und das Essen war ja wohl der Hammer", meinte Ulli. "Hummer und Crème Brûlée für einen Einjährigen ist natürlich nicht schlecht", antwortete ich und teilte auch sonst uneingeschränkt Ulli's Meinung. Oben auf dem Hügel sahen wir schon von Weitem unseren Unimog auf dem Hügel stehen und vor dem Nordlicht einen Schatten werfen. Zufrieden schnaufte ich die kühle Seeluft ein.

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17.09.2017
Die Morgensonne hatte zunächst einige Mühe, den Küstennebel aufzulecken. Ich hatte den Unimog am Vorabend mit unserem großen Fenster nach Osten gerichtet geparkt, um das Schauspiel beim Frühstück zu bestaunen. Es klappte hervorragend, und wir ließen uns ausgiebig Zeit am Tisch. Viele der in der Nacht hinzugekommenen "Happy-Camper" mit ihren kleinen Lieferwagen packten und hantierten schon, um ihrem straffen Urlaubsplan nachzukommen. "Ich gehe nach dem Frühstück runter und versuche mit dem Schrauber zu reden", kündigte ich meine Pläne für den Tag an. "Mach nur, ich lese derweil mein Buch weiter", sagte Ulli, die sich immer freute, wenn Zeit für ihre Bücher blieb. "Aber heute Abend möchte ich in Stora-Sandfell sein", bestimmte sie.



Ich packte die Kamera und machte mich auf zu der Werkstatt mit den großen Autos, die ich gestern gefunden hatte. Zufrieden stellte ich von dem Hügel aus fest, dass die kleine Stadt am Sonntag sehr aktiv und emsig arbeitete. Sogar der Straßenbau ging voran, und die meisten Rolltore standen offen. Ich kam auf den Hof, sah in der Werkstatt das Licht brennen, traf aber niemanden an. Zunächst widmete ich mich der Ablichtung der Achskonstruktion des beeindruckenden Fahrzeugs.
Es rollte auf gigantischen 54-Zoll-Spikesreifen. Die 300er-Unimog-Achsen waren auf eine konventionelle Längslenker-Konstruktion umgebaut worden, und offensichtlich hatte der Getriebeumbau auch einige Mühe gemacht. Das ganze Gelände stand voller Auto-Chassis, und in einer Ecke entdeckte ich sogar die Reste eines Formular-Offroad-Motorsport-Fahrzeugs. Dies sind ganz kleine Allrad-Buggys, die aus einem Stahlrohrrahmen bestehen und über Motorleistungen um 1000 PS verfügen. Die Isländer bestreiten damit Wettbewerbe, bei denen auch senkrechte Wände bewältigt werden müssen.



Leider blieb der Hof leblos, bis auf der Straße ein LKW auftauchte, der den Schrott abholte. Ich schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass der Schrotthändler den Werkstattchef hier kannte, als hoch ein. Daher winkte ich dem Mann mit meiner Mütze und sprach ihn höflich an. "Excuse me, Sir. I am looking for the Man who built this Truck", eröffnete ich. Er konnte kein Englisch, verstand mich aber und machte mit der Hand eine eindeutige Andeutung, ihm zu folgen. In diesem Moment kam ein großer Kerl mit schwarzem Kombi aus der Tür am anderen Ende des Gebäudes und stieg eilig in seinen VW Touareg. "Him", sagte der LKW-Fahrer und wandte sich wieder ab. Ich rannte, meine Mütze schwenkend, auf das Auto zu und erreichte das Fahrzeug gerade noch beim Anfahren. Der Mann bremste, kurbelte etwas genervt und mit einem "was will der denn jetzt"-Blick die Scheibe herunter und schaute mich an. "I am looking for the Man who built the 54-Inch-Truck in the Backyard", keuchte ich. Er zog die Augenbrauen hoch und machte eine ganz kleine Andeutung mit dem Daumen, ohne die Hand vom Lenkrad zu nehmen. "I have noticed it has Unimog axles, I am working on Unimogs, too and I would like to talk to somebody in Iceland who knows how to design these vehicles." Er reagierte überrascht, war aber noch nicht bereit, so wirklich auf mich einzugehen. Ich musste mit einer konkreten, technischen Frage rüber, das war mir nun klar. "You know, I was wondering, why did you put so much efford into converting the axles, instead of just using the stock Unimog undercarriage?" Der Mann schien sich nun zu interessieren und war sichtlich geschmeichelt, diese Frage gestellt zu bekommen. Er schaltete den Motor ab und wandte sich mir vollständig zu. "To keep the weight down for driving on the snow", sagte er und lächelte zum ersten Mal. "What about the huge 54-Inch tires, are the Unimog axles able to bare all the loads and moments?" "Yes", sagte er kurz. Ich plapperte weiter drauflos und erwähnte meine Faszination für diese Art zu konstruieren. In Deutschland geht es da öfter um Kalkulationen, Datenblätter, Spezifikationen und sogar Versuche. In Island gibt es ein schlichtes, pragmatisches Herangehen an die Materie, was am Ende offensichtlich ebenso effektiv und erfolgreich ist. "Another problem is the power", übernahm er nun das Gespräch. "It is much easier to put a lot of horsepower into an american truck than into an Unimog. On the snow, power is your friend and weight is your enemy", sagte er und stieg aus. Da sah ich dann auch die riesigen Hände, die die bekannten schwarzen Ränder um die Fingernägel hatten. Dieser Wikinger war tatsächlich einer der Macher, nicht der reiche Kunde oder irgend so ein Snob mit einem Haufen Kohle, der Spielzeuge kaufte. Hier hatte ich endlich mal einen Gesprächspartner, der die Praxis kannte. Aber es kam noch viel besser. Ich schien ihn von meiner Begeisterung überzeugt zu haben und er war nun bereit, doch einige Zeit in den komischen zappelnden Deutschen zu investieren. "I do not mean to hold you back from work", entschuldigte ich mich, während er die Tür zu seiner Werkstatt aufsperrte. "I am always working", brummte er kurz und gab den Blick frei. Hier war es, hier war Island-Auto-Walhalla, hier geschah das, was die Autos der Insel so groß werden ließ. Wir unterhielten uns aktiv, und mit jeder Minute nahm das Gespräch Fahrt auf. Ja, wir hatten wirklich was gemeinsam, und er stellte auch fest, dass ich in Sachen Unimog nicht unbedarft war und ihm über seine Unimog-Achssammlung Einiges erzählen konnte. Er nahm es interessiert auf, wobei ich erwähnen muss, dass der Mann sich auf einem ganz anderen Niveau bewegte, was das Autobauen anging. Er betrieb eine isländische Autowerkstatt, die neben dem Tagesgeschäft, Verschleißteile diverser Vierradfahrzeuge zu tauschen, einen Rettungsdienst betrieb. Die Leistung dieses Dienstes bestand darin, die modifizierten Fahrzeuge der Einheimischen im Winter auf dem Gletscher mit Ersatzteilen zu versorgen und vor Ort zu reparieren. Hierbei sei gesagt, dass jeder Isländer, der es sich leisten kann, einen Jeep mit großen Rädern besitzt und damit auf den Gletschern herumfährt. Da bei diesen Fahrzeugen die Fahrwerke mit diesen riesenhaften Monsterpuschen meist überfordert sind, gibt es haufenweise abgedrehte Antriebswellen, gebrochene Kardangelenke, Getriebeschäden und Achsbrüche. Oft passiert das mitten auf dem Eis, wo der Liegenbleiber nicht abgeschleppt werden kann. "It is almost impossible to tow a car on the snow", versicherte er. "Our task is to get the part, drive it up there and fix the car on the glacier", sagte er nicht wenig stolz und lachend. Wenn gerade keine Saison war, legte er auf Kundenwunsch Fahrzeuge höher und baute dicke Reifen an die Kisten. Nun zeigte er mir auch den "heiligen Raum", sein persönliches Trophäenzimmer. Zusammen mit seinem Sohn betrieb er aktiv Motorsport und konnte beachtliche Erfolge bei der isländischen "Formular Offroad" vorweisen, selbstverständlich mit einem vollständig selbst entwickelten und eigenhändig gebauten Boliden. Ich war wie auf Wolken, ich hatte tatsächlich eine Koryphäe angetroffen.





Mit den Worten "This car is my friend" tätschelte er den riesigen Dodge im Hof. "I know what you mean, I have been working on my Unimog for years and I always worry there is something wrong with it." Er nickte verständnisvoll und lachte laut los. "I am always happy, whenever the owner of this car returns savely. It is one of the 5 most capable cars in Iceland and he really uses it", fügte er hinzu. Er hatte dieses Fahrzeug im Kundenauftrag in mehrjähriger Arbeit hergestellt und pflegte, völlig einleuchtend, eine innige Beziehung zu dem edlen Stück.
Der Dodge besaß einen 450 PS Cummings V8 Diesel und zwei in Reihe geschaltete Untersetzungsgetriebe. Die Unimog-Achsen mit Reifendruckregelanlage waren mit hohen Doppellängslenkern mit dem Rahmen verbunden worden. Die Schubrohre hatte er durch einen konventionellen Achsantrieb mit Doppelkardan ersetzt. Ich hatte eine derartig weit getriebene Höherlegung vorher noch nicht gesehen. Offensichtlich handelte es sich auch nicht um ein Showcar, sondern um ein regelmäßig genutztes Fahrzeug."What kind of pressure settig do you use on the snow?" wollte ich wissen. "I do not know, I reduce it until it feels good, then I rise it a little", antwortete er. Ich war wieder positiv überrascht. In Deutschland würde man vermutlich über Achslasten, Reifentypen und bar mit Kommastellen sprechen. Hier wurde gedreht, bis es passt. In meinen Augen wieder eine recht eindrucksvolle Präsentation der isländischen Herangehensweise. Als ich mich nach zwei Stunden des intensiven Gespräches von ihm verabschieden wollte, mochte er mich gar nicht gehen lassen und stellte einige Fragen über Unimog-Achsen, die Achsöle, die verfügbaren Übersetzungen und die verschiedenen Typen. "I can assure you, the Unimog Axle is the best offroad axle there is", hörte ich ihn natürlich auch nicht ungern behaupten. Schließlich tauschten wir Adressen und verabschiedeten uns herzlich. Ich musste aber noch versprechen, mit meinem Unimog kurz vorbeizuschauen.
Ganz heiß geredet und verschwitzt lief ich durch die milde Herbstsonne zurück zu unserem mobilen Heim oben auf dem Hügel. Außer uns war noch ein roter Feuerwehr-Deutz aus Deutschland zu sehen. Alle anderen waren abgereist und widmeten sich dem üblichen Touristenkram. Außer mir schaute sich wohl niemand das Industriegebiet an.
"Du, ich hatte gerade das beste Autogespräch meines Lebens", sprudelte ich heraus, als ich über die offene Leiter in den Unimog kletterte. "Mensch toll, das hast Du Dir doch so lange schon gewünscht", begrüßte mich Ulli auf dem Bett liegend und lesend. "Der Kerl hatte wirklich Ahnung, eine Menge Erfahrung, ist Vollprofi und in Island für seine Umbauten bestens bekannt", schwärmte ich. "Der kennt die Fahrerei auf dem Gletscher wie kein anderer und lebt davon, liegengebliebene Jeeps an Ort und Stelle auf dem Eis zu reparieren. Was meinst Du, was der für Tricks drauf hat und wie genau der weiß, was geht und was nicht geht. Der kennt Dinge, die manche Maschinenbauprofessoren nicht kennen", ging ich ab. "Der scheint dich ja mächtig beeindruckt zu haben", grinste Ulli. "Na dann können wir ja jetzt weiterfahren", meinte sie. "Der will noch kurz unseren Unimog sehen", freute ich mich. "Na dann los", sagte Ulli und rutschte vom Bett.
Mein neuer Bekannter grinste übers ganze Gesicht und kam sofort auf die Tür zugelaufen, als er den Ullimog vorfahren sah. Er hielt kurz inne und schwang sich mit einer schnellen lockeren Bewegung unter das Fahrzeug und betrachtete, auf dem Rücken liegend, das Fahrwerk. Ich tat es ihm gleich und merkte, dass ich länger brauchte als er, um unter die Karre zu kriechen.
"What is the lowest ratio of this", wollte er wissen und zeigte auf das Getriebe. "I think it is something like 13:1  if I am not mistaken", antwortete ich. "What is the axle ratio?" fügte er sogleich hinzu. "5.3, just like the ones you use. I converted it from 6.2"
Er reagierte überrascht über die kurze Übersetzung des Unimog-Getriebes und bewegte abwägend den Kopf hin und her. Dann fasste er mit einer kurzen Bewegung mit den Fingern an den Rahmen. Dabei hielt er den unteren Rahmengurt zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte: "This is the problem, this is why Unimogs can not drive on the snow." Ich erinnerte mich an den Rahmen des Dodge, und der war maximal 3 mm stark und deutlich kleiner. Die Amis nutzen zwar nicht das edle Mercedes-Feature des "schwachen Steges", wobei der Unimog-Rahmensteg deutlich dünner ausfällt als die Gurte, aber mit dem breiten 10-mm-Gurt können die nicht mit. Der Rahmen eines amerikanischen Pickups fällt eben deutlich schwächer und leichter aus als der eines Unimogs.
"Unimogs are more like traktors, heavy engine, heavy transmission and heavy frame", sagte mein Kamerad, auf dem Rücken liegend. "My son and I carry stripped frames around by hand. That is not possible with this one", versicherte er. "If you want to drive on soft snow, you need something like 100 horses per ton. 120 are better", lachte er und zeigte seine Zähne. "Dann entdeckte er die Ablassschrauben der Vorgelege und fragte "What is this?"
"These are special magnetic plugs to carry the debris", erklärte ich kurz. Er war sehr interessiert, und auch als ich ihm versicherte, dass die Vorgelege an seinen Achsen mehr Öl haben und daher nicht ganz soviel Aufmerksamkeit an dieser Stelle benötigen, ließ er nicht locker. Ich schenkte ihm zwei Stopfen aus meinem Ersatzteilfundus, die sein Gesicht merklich aufhellten. "How much money?" wollte er wissen. "Ahh, money, .let's see if they fit because your portals are a little different from mine", antwortete ich, da ich glaubte, mich an andere Stopfen bei den neuen Vorgelegen zu erinnern. Tatsächlich, die Stopfen passten nicht, aber er durfte sie natürlich trotzdem behalten. Wieder verabschiedeten wir uns. Überglücklich bestieg ich das Fahrerhaus. In hellem Sonnenschein fuhren wir die Ringstraße bis Stora Sandfell südlich von Egilstadir.




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18.09.2017
Ulli wollte mit Fine unbedingt noch einen Tag in Stora Sandfell reiten. Unsere Tochter freute sich seit Wochen auf das Ereignis. Obendrein trug sie auch ihren Gips, der das Reiten mit Sicherheit verhindert hätte, schon Tage nicht mehr. Der Himmel strahlte stahlblau, und die Umgebung schimmerte in den schönsten Herbsttönen. Wir standen auf dem verlassenen Campingplatz, der für dieses Jahr schon geschlossen hatte. Die Chefin gestattete uns persönlich, auf ihrem Grund und Boden zu übernachten. Da wir ja irgendwie auch den Terminplan durcheinander brachten und die Isländer beim Ausspannen nach der Saison unterbrachen, nahmen wir den 17-Uhr-Termin für den vereinbarten Reitausflug auch nicht so ernst. In der Tat kam etwas dazwischen, und wir wurden auf den nächsten Tag vertröstet. Das störte aber gar nicht, denn im Sonnenschein in dem kleinen Birkenwäldchen mit seinen Kindern Verstecken zu spielen, hatte auch was. Felix krabbelte stundenlang auf der Wiese herum, und Fine kletterte auf die kleinen Bäume. Ulli las in ihren Büchern, und ich tippte an unserem Tagebuch herum. Später verräumten wir den Zwockel und beschlossen, bei Pride & Preduice zu dritt auf dem Bett liegend, den Abend.

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19.09.2017
Nach dem Frühstück klopfte es an die Tür unseres Unimogs und die Chefin des Hofes kündigte den Ausflug für 11 Uhr an. Sie entschuldigte sich nochmals für die Verschiebung, was natürlich gar kein Problem darstellte und am Ende sogar bestens gepasste hatte. Fine konnte sich vor Erwartung kaum beherrschen und rannte kreischend im Pferdetrab in ihrer Reithose über die kleinen Hügel. "Die kann das ja gar nicht abwarten", bemerkte ich. "Ach, die ist halt aufgeregt", sagte Ulli und freute sich ebenfalls schon auf das Bevorstehende.
Ich würde in der Zwischenzeit mit Felix die Toilette ausleeren, das Grauwasser ablassen, frisches Wasser auffüllen und die Karre mit dem dicken 1 Zoll Schlauch sauber machen.
Nun galt es aber, zunächst die Pferde von der Weide durch das Gatter zu treiben . Die Hausherrin schnappte sich zwei ranghohe Pferde, und Ulli und ich mussten die übrige Herde lenken. Zum Glück bin ich da nicht ganz unbedarft, und es gelang uns in Teamarbeit, wobei wir uns teils über große Entfernungen mit Zeichen verständigten, auf Anhieb. So bekamen wir auch ein kleines Lob, als ich nach dem letzten Gaul das große Eisengatter schloss und verriegelte.
Josefine erhielt eine kräftige Rappenstute namens "Hravntis", und Ulli erhielt ihren Schimmel, den sie vor vier Wochen schon reiten durfte. Fine wurde angewiesen, auf dem Platz selbstständig eine Runde zu reiten, wobei sie das Pferd antreiben, lenken und anhalten musste. Mit ein wenig Zuspruch von unserer Seite schaffte sie das sogar. "She really has a good sense for horses, I have also noticed that last time", lobte Johanna. Fine erstrahlte und Papa und Mama wurden auch ein ganz kleines bisschen rot vor Stolz. In Gedanken schon bei meinen bevorstehenden Aufgaben, blickte ich den drei Reitern hinterher, als sie an diesem schönen milden Herbsttag in den niedrigen Wäldern nahe der Farm verschwanden. Ich packte Felix nach vorne ins Fahrerhaus, und er schaute begeistert durch seine nackten Füße die Straße entlang. Die kurze Fahrt nach Egilstaðir verging wie im Fluge, und in weiteren fünfzehn Minuten hatte ich alle Arbeiten erledigt. Der Unimog war einigermaßen sauber und der Frischwassertank war gefüllt. Ohne Assistenz ging es dabei darum, den Schlauch in den Stutzen zu stecken, einzufüllen und während das Wasser einlief, mit dem Putzen zu beginnen. Die Schwierigkeit bestand darin, abzuschätzen, wann der höchste Füllstand vorlag. Unser 125-Liter-Tank verfügt über keine Füllstandsanzeige. Sonst hatten wir das immer zu zweit gemacht und Ulli hatte immer Bescheid gesagt, wenn voll war. Mit der Übung und Erfahrung der letzten Tage ging es aber auch so, und ich konnte die Wasserlaufzeit nutzen, die Dreckbrocken aus dem Fahrgestell zu spülen.
Ich Vollpfostengehilfe vergaß in der Hektik natürlich, den Deckel des Trinkwassertanks wieder zu schließen und machte auf der Fahrt zurück eine Sauerei. Daher verpasste ich auch wieder das Zurückkommen der Reit-Tour, was ich doch diesmal unbedingt filmen wollte. Fine war völlig begeistert und reagierte beim Abschied von ihrem neuen Lieblingspferd sehr emotional. "Da muss die jetzt durch", meinte Ulli und trug ihre schluchzende Tochter von der Koppel weg. Wir schüttelten Hände und bestiegen unseren Ullimog. "You have created a lot of happyness today", verabschiedete ich mich am Schluss nochmals persönlich von den netten Isländern, die nach der eigentlichen Saison nochmal ausschließlich für uns eine kleine Extrarunde gedreht hatten. Eigentlich nutzen sie diese Jahreszeit nach den Touristen, um morgens auszuschlafen und sich vor der Winterarbeit selbst zu erholen.
Ich lenkte den Unimog von dem Gelände runter, bog links ab, um gleich wieder in die F936 nach Esikfjörður abzubiegen. Da sollte es ein schönes Schwimmbad geben, und Fine brannte darauf, endlich ohne Gips die berühmte Rutsche nutzen zu können. Das Luftablassen entfiel wegen Faulheit, und eigentlich bestand wegen des schönen Zustandes dieser kurzen Bergpiste auch kein Bedarf. Leider änderte sich das weiter oben. Die Straße wurde zu einer rauen "Line Road", die doch ein oder zwei bar weniger hätte haben können. Bei dem inzwischen pfeifenden Sturm mit heftigem Regen hatte ich aber schlicht keine Lust, meinen trockenen Hintern schon vor dem winkenden Hot Pot nass zu machen. Folglich machten wir langsam und holperten im Schneckentempo über das grobe Geröll. Als sich der Nebel lichtete und die Sicht auf ein schönes grünes Tal freigab, erübrigte sich das mit dem Luftdruck wegen des wiederum guten Straßenbelags. Wir passierten das berühmte gewaltige Aluminiumwerk hinter Reidarfjörður und bestellten uns an der Tankstelle einen Burger. "Sag mal, wo sind den bitteschön die ganzen Leute die da unten arbeiten", fragte ich Ulli angesichts dieses trostlos verlassenen Minikaffs. "Da führt 'ne fette Stromleitung hin, die Straße dahin ist die beste Islands, und das Werk selber ist total verwaist", meckerte ich voller Unverständnis. "Da ist wohl alles automatisiert und die 6 Anlagenwarte aus Nepal wohnen den Buckel rauf in Wohncontainern. Wahrscheinlich werden die im Schichtbetrieb mit ausländischen Arbeitsverträgen abgespeist", fügte ich hinzu. "Für mich hat das 'ne ganze Menge von dem Industriekomplex auf dem Alien-Planeten." "Stimmt", sagte Ulli. "Bei dem Nebel und bei der Beleuchtung konnte man tatsächlich die Ähnlichkeit erkennen. Bei uns leben ganze Regionen von so einer Anlage, und hier gibt es vielleicht 100 Häuser und Burger an der Tankstelle. Ich frag mich, wofür die hier überhaupt Straßennamen vergeben." Vom Fenster aus beobachteten wir zwei einheimische Jungs, die tropfnass geregnet auf dem Vorplatz mit ihren Fahrrädern im Kreis fuhren. Offensichtlich war die Dame am Tresen und hinter der Kasse ihre Mutter. Die Frau stellte gleichzeitig auch das einzige Zeichen von Betrieb in diesem Nest dar.
Fine drängte in das Schwimmbad, und Ulli wollte zusammen mit Felix einen Mittagsschlaf auf dem Parkplatz machen. "Bei so einem Wetter schlafe ich lieber", beschloss sie und übernahm gleichzeitig den Job des Babysitters. Das hochmoderne Schwimmbad fanden wir wieder einmal leer vor. An der Kasse befand sich aber ein junger Mann, der gelangweilt im Internet surfte. "It's 800 Kr per Person, the kid is free", sagte er beiläufig.
Als wir nach dem Umkleiden ins Freie traten, schlug uns der kalte Regen entgegen. Der Nebel entblößte nur einen 50 m hohen Streifen der spektakulären Umgebung. Die Wasserfälle, die äußerst zahlreich in jeder erdenklichen Ritze an den nahen grünen Berghängen niedergingen, gaben dem Ganzen eine eigenartige Stimmung. Die Wellen von Fischgeruch, die mit jeder Windböe herüberwehten, verfeinerten noch den interessanten und exotischen Charakter dieses Bades. Als meine Tochter begeistert die Treppe der bunten Rutsche erklomm, schaltete der Bademeister nur für uns die Wasserpumpen der Attraktion ein. Na bitte, eben tut sich was und die kommen aus dem Quark, dachte ich mir. Nach der ersten Minute in dem 42°C warmen Pool, von dem aus ich mein kreischend alle Rutschen ausprobierendes Mädchen beobachten konnte, fing ich an, mit dem Ort Frieden zu schließen. Wenig später gesellte sich noch ein Kinderschwimmkurs hinzu, der von einem kräftigen, bärtigen und tätowierten Wikinger geleitet wurde. Nun herrschte reger Betrieb in dem sonst verlassen Schwimmbad. "Na bitte, geht doch", redete ich mir ein und nötigte Josefine zu einem Saunagang. Ich badete anschließend ausgiebig und unter Hochgefühl in dem kalten Zuber direkt neben der Ausgangstür des Schwitzbades. Die Isländer wurden auf mich aufmerksam, da ich wohl schon einige Minuten in der kalten Brühe lag, und beobachteten mich neugierig. Irgendwie kam ich denen seltsam vor, dabei hatte ich dieses Wechselbaden ausgiebig trainiert. Der Trick liegt in der Entspannung, und für mich ist die ausgiebige Abkühlung nach dem Schwitzen ein relevanter Bestandteil eines Saunaganges. Fine entstieg ebenfalls dem Kinderbecken und trat auf den Zuber zu. "Papa, darf ich auch da rein?" fragte sie. Ich nickte und ließ sie wissen, dass man hier bis zum Hals untertauchen musste. Sie hielt die Hand ins Wasser, guckte abwägend und hob das erste Bein ins Wasser. Sie hielt inne und wurde jetzt auch von 20 Kinderaugenpaaren und von dem Schwimmlehrer beobachtet. "Was macht das Balg von dem Kaltbadetourist wohl jetzt?" fragten die sich. Fine biss die Zähne zusammen, tauchte bis über die Schultern ein, kreischte dabei aus Leibeskräften und hüpfte, allerlei Wasser hinter sich her schleudernd, wieder aus dem Zuber heraus. Die Isländer lachten alle lauthals auf, sichtlich erleichtert darüber, dass wenigstens das Kind sich erwartungsgemäß verhalten hatte. Um keine noch größere Sache daraus zu machen, erhob ich mich langsam und legte mich auf eine der vielen aufgestellten Liegen. Der Schwimmlehrer nickte mir zu, und ich genoss die Endorphin-Ausschüttung bei dem nun langsamen Herzschlag. Viele kleine kalte Regentropfen trafen mich dabei am ganzen Körper. Das war Island.
Ich vermochte Fine nur schwer davon zu überzeugen, das Bad zu verlassen. Sie ließ sich erst mit dem obligatorischen Schwimmbad-Eis, was es überall in Island gibt, motivieren. Der Campingplatz in Esikfjörður kam nicht gerade romantisch rüber und so fuhren wir weiter nach Reydarfjörður. Leider fanden wir hier vergleichbare Verhältnisse vor. Die winzige Wiese befand sich auch hier direkt neben der Straße. Angesichts der einbrechenden Dunkelheit stellten wir aber ab und blieben als einzige Gäste dort. Später gesellte sich noch ein beinharter französischer Fahrradfahrer hinzu, der im Vorraum des leeren Verwaltungsgebäudes nächtigte. Der Regen verwandelte im Laufe der Nacht die vielen Pfützen zu einer großen zusammenhängenden, etwa 5 cm tiefen Wasserfläche.

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20.09.2017
Der Tag, an dem die Fähre uns zurückbringen würde, stand bevor. Eigentlich hatte ich kein akutes Heimweh, doch der lange bekannte Termin forderte seinen Tribut. Kleine Wasserwellen produzierend, fuhren wir in dem immer noch heftig strömenden Regen vom Platz. "Mensch, das ist tiefer als viele Furten", entfuhr es mir. Ulli stellte die Heizung auf "Scheibe frei", und ich wischte mit einem Handtuch meine Seite klar. Staunend beobachteten wir den pudelnassen Franzosen, der bereits tapfer gegen den pfeifenden Südwestwind von dannen radelte.
Die 92 nach Egilstaðir säumten lauter kleine Wasserfälle. In jeder noch so kleinen Rinne lief das Wasser und die größeren Bäche hatten sich in reißende Flüsse verwandelt. Hier regnete es seit 48 Stunden ununterbrochen, und die karge Landschaft ohne große Vegetation oder gar Wald gab das alles kurzfristig weiter.
An der Tankstelle baute ich die gelbe isländische 11-kg-Gasflasche wieder aus, legte das Pfandgeld in Diesel an und traf die letzten Vorbereitungen für die Fährpassage. "Wir sollten nochmal einkaufen gehen", bestimmte Ulli. Ein vertrautes Geräusch ließ mich herumfahren. Der gelbe Unimog, den wir an der Askja getroffen hatten, fuhr vor und parkte ebenfalls vor dem gegenüberliegenden Supermarkt. In einem Zeitungsartikel las ich von einem unerfreulichen Ereignis, welches dieses Fahrzeug betraf. Dort wurde den Betreibern vorsätzliches Off-Road-Fahren vorgeworfen. Ich parkte demonstrativ neben dem Bruderfahrzeug, jedoch nicht aus Neugier, um etwa Details zu erfahren oder dergleichen. Ich hielt schlicht die von der isländischen Presse praktizierte Schmähung für unangebracht und wollte ein wenig Solidarität zeigen.
Wir trafen die Besatzung auch prompt an, unterhielten uns kurz über die Fahrzeuge und verabschiedeten uns mit den Worten: "Wir sehen uns dann auf der Fähre."
Mit der Gewissheit, einen isländischen Supermarkt so bald nicht mehr von innen sehen zu können, füllten wir unseren Einkaufswagen praktisch ausschließlich mit kulinarischen Andenken und Mitbringseln. Besonders der gesalzene Trockenfisch "Hardfiskur" und die Mini-Zimtschnecken "gifflar" standen hoch im Kurs. Die nun leere Gasflasche in unserer Unimog-Küche unterstützte die Entscheidung, gegenüber in dem kleinen indischen Café den Abschluss-Burger zu bestellen.
"Weißt Du, worauf ich mich am meisten freue, wenn ich zuhause bin?" kommentierte ich das Abstellen meines Pint "Viking Classic" auf dem kleinen Bistrotisch. "Auf ein gescheites deutsches Bier", antwortete Ulli und ich nickte zustimmend. "Ganz genau." Vor dem Fenster sah man die in den letzten Tagen angetroffenen Reisegefährten vorbeifahren. "Guck mal, die haben es alle eilig, aufs Schiff zu kommen", sagte ich und bestellte ein weiteres Glas zum Abgewöhnen.
"Das schmeckt Dir doch gar nicht", meinte Ulli und setzte Felix in seinem Kinderstuhl ein Stück zurück, weil er immer sein Fingerchen in mein Bierglas tauchte und es genüsslich ableckte. "Meinst Du mich oder den Kleinen?" fragte ich belustigt und schon etwas angenehm beduselt. "Euch beide,  und Du solltest aufhören zu trinken, Du must noch fahren", rückte mich meine Frau zurecht. "Du kannst doch auch fahren", schlug ich vor.
Auf der Fahrt nach Seydisfjörður blieb der um diese Jahreszeit schon übliche Schneefall aus, was ich sehr erleichtert aufnahm. "Gottseidank, ich habe keinen Bock, in dem Sauwetter jetzt die Schneeketten aufzuziehen. Die haben wir die letzten zwei Monate übrigens völlig umsonst rumgefahren", erinnerte ich Ulli. "Ach, das war gut so. Hätten wir die nicht dabei gehabt, hätte es garantiert mehrfach geschneit", rechtfertigte sie die Vorsichtsmaßnahme. Viele der Passagiere hatten sich schon in dem kleinen Hafenort eingefunden. Sie schlenderten überall durch die Gassen und schlugen die Zeit bis zur Abfahrt des riesigen Schiffes tot. Die bereits am Kai liegende Norröna überragte alle Dächer um ein Vielfaches und wirkte irgendwie wie ein Fremdkörper in dem von Bergen umgebenen Fjord. Schließlich reihte sich der internationale Autokorso brav ein. Wir kamen genau hinter dem gelben Unimog zum Stehen. Fine und Felix schliefen und Ulli widmete sich ihrem Buch. Ich gesellte mich zu einer der vielen Gruppen aus tratschenden Fahrzeug-Eignern, die überall um ihre Boliden herumstanden. Es waren für Ende September noch auffallend viele Allradtouristen unterwegs, und auch die PKWs und die Weißwahre würden den Bauch der Fähre mächtig füllen.
Die Einweiser forderten alle "Passagiere und Nicht-Fahrzeuglenker" auf, über die Gangway an Bord zu gehen. Ich verwies auf unsere zwei kleinen Kinder und bat die Einweiserin, mir meine Frau doch zur Unterstützung zu lassen. "Hier werden Vorschriften nicht ohne Hirn umgesetzt, die wollen nur das Personengedränge und damit das Sicherheitsrisiko auf dem Fahrzeugdeck vermeiden", versicherte ich Ulli, die sich schon im Begriff befand aufzubrechen.
"You make me feel like I am a bad person", lächelte die junge Dame mit der orangefarbenen Warnweste, auf der "Smyril-Line" zu lesen war. "Of course you can stay here with your Baby", sagte sie schließlich. Bald fuhren wir an dem Zollbeamten vorbei, der aber nur meine Bordkarte entgege nahm. Ich saß alleine im Fahrerhaus, denn Ulli befand sich mit den Kindern hinten im Aufbau und las Geschichten vor. "Wir müssen noch an die Rezeption und uns nachmelden", rief sie mir zu. "Die scannen bestimmt die Bordkarten der Passagiere. Fine, Felix und ich sind noch nicht im System." Tatsächlich ein guter Einwand, der sich auch prompt bestätigte. Wenig später standen wir an der Rezeption und erklärten die Umstände. "Thanks for the attention", bedankte sich der Mann in Uniform. Es fühlte sich gut an, nun endlich auf dem Schiff angekommen zu sein. Die riesige Verantwortung, die Sippschaft wieder vernünftig heimzubringen, übernahm jetzt der Kapitän des Schiffes. Jetzt war es egal, ob der Unimog lief, explodierte oder sonst irgendwie versagte, jetzt übernahm die Norröna. Josefine führte uns mit der frischen K-Card zu unserer Kabine. "Wir haben 5018, auf der Hinfahrt hatten wir 5017, die ist bestimmt genau daneben", stellte sie fest. Ulli und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu, der in etwa "Nicht schlecht für 'ne Fünfjährige" ausdrückte. Sie ging voran und öffnete geschickt die Tür, die sich tatsächlich genau neben unserer "alten" Kabine befand. Geschafft, die Heimreise konnte beginnen.
Zum Abschied von Island stellten wir uns alle vier auf das höchste Deck und stießen auf den Abschied mit einem Becher Bier an. Schließlich legten wir ab, und beinahe feierlich nahm das große Schiff Fahrt in Richtung Süden auf.




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21.09.2017
Die dynamische Nacht mit den heftigen Schiffsbewegungen forderte ihren Tribut. Eigentlich kannte ich von mir keine Probleme mit Seekrankheit und hatte auf der Fähre schon weitaus schlimmere Wellenhöhen überstanden. Das markante Donnern, das mit dem Eintauchen des Bugs einherging, erschütterte nachts regelmäßig das Schiff und ließ mich öfter im Schlaf hochschrecken. Fine ging es gar nicht gut, und von der plötzlich aufkommenden Übelkeit überrascht, kotzte sie waagrecht von außen gegen die geschlossene Klotür. Aufgrund ihrer noch geringen Körperhöhe blieb die Türklinke dabei uneingeschränkt verwendbar. Außerdem würgte sie nur Durchsichtiges hervor, was sich leicht und rückstandsfrei wieder abwischen ließ. "Guten Morgen." Ich wollte mich schon über die jüngsten Ereignisse aufregen, da spürte ich ebenfalls den Speichelfluss, der normalerweise dem Kommenden vorauseilt. Von der Leiter des Stockwerkbettes herunter schaffte ich es ganz knapp direkt zur Schüssel und würgte ebenfalls eine ganz Menge Klares hervor. "Mist, das war garantiert das beschissene Färöer-Bier, diese Sauplörre diese verdammte", schimpfte ich. "Ach, ihr seid nur ein bisschen seekrank", lachte Ulli. Sie begegnete den jüngsten Ereignissen völlig unbeeindruckt und mit Humor. Ich versuchte, mir an ihr ein Beispiel zu nehmen. Tatsächlich fühlte ich mich schlagartig besser, obwohl das Schiff nach wie vor heftige Bewegungen ausführte und bei jedem "Donnerschlag" im Gebälk knarzte.
"Lass uns das ganze Essen antizyklisch machen", schlug meine Frau vor, und ich erinnerte mich auch an die vielen Passagiere, die pünktlich zu den Essenszeiten in der Schlage standen. Fortan frühstückten wir um 11 Uhr und holten uns um 16 Uhr eine Kleinigkeit. Das Dinner ließen wir aus.
Zur Durchfahrt durch die Färöer-Inselgruppe stieg ich auf das Oberdeck und unterhielt mich nett mit einem Mitreisenden, der einen schönen "Mercedes-G" fuhr. Er war etwa in meinem Alter und besaß ebenfalls die von ein wenig Nostalgie geprägte Leidenschaft für das Vierradautomobil.



Die Fähre machte ihren geplanten Aufenthalt auf der Inselgruppe, den ich für einen Landgang nutzte. Ich wollte mit Felix unbedingt noch ein bisschen in der Sonne spazieren gehen. Ulli und Josefine wollten wieder einmal lieber auf dem Schiff bleiben, um sich auszuruhen. Mich interessierten der kleine Musikladen und das Einkaufszentrum auf dem Hügel von Thorshavn. Ich vertrat mir mehrere Stunden lang die Beine. Zum Abschluss gingen Felix und ich noch einen Nordatlantik-Männer-Burger essen und fanden uns pünktlich wieder auf dem Schiff ein.



Mit Shoppen und den regelmäßigen Gängen zum Schiffs-Kinderspielplatz schlugen wir die Zeit tot. Ich fand es interessant, wie sich die einzelnen Fahrgäste ihre Lieblingsplätze aussuchten und immer wieder dort zu finden waren. Daher traf ich auf meinen regelmäßigen Gängen von der Kabine immer wieder auf dieselben Leute, die den "Mann mit dem Baby vor dem Bauch" immer wieder freundlich grüßten. Kinder sind nach wie vor willkommen auf dieser Welt. Jedenfalls musste ich das annehmen, wenn ich in die sich stets aufhellenden Gesichter blickte. Ich freute mich nur über jede Seemeile, die das große Schiff jetzt in Richtung Heimat bewältigte.

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22.09.2017
Das akute Heimweh hatte mich gepackt. Ich sehnte mich nach meinem bunten Spessart mit dem herbstlichen Geruch und der morgendlichen Frische. Ich wollte durch die sich verfärbenden Baumkronen der hohen Eichen und Buchen blicken und mir dazu eine ordentliche grobe Bratwurst mit einem anständigen Sauerteigbrot reinziehen. Dazu würde ich mir ein schönes dunkles Weizenbier aufmachen. Die nordische Leere, die Kargheit, das miese Bier und die Enge auf dem Schiff hatte ich an diesem Morgen auch ziemlich über. Dazu herrschte nun die große Aufbruchsstimmung. Über Lautsprecher wurden die Passagiere angehalten, ihre Kabinen bis 8 Uhr zu verlassen, obwohl die Fähre erst gegen 10 Uhr einlaufen würde. Dies würde dem Personal die Gelegenheit zur Aufbereitung der Kabinen geben. Auf sämtlichen Fluren und in allen Treppenhäusern  saßen die Leute genervt auf ihrem Gepäck und warteten. Die begehrten Sitzplätze in der Cafeteria hatten findige Gäste bereits frühzeitig besetzt. Zugegebenermaßen gehörten wir auch dazu, was aber eher an unseren früh erwachten Kindern als auf Dreistigkeit beruhte. Vor unseren Augen kollabierte plötzlich eine ältere Frau. Sie hatte offensichtlich Kreislaufprobleme. Die Dame sackte vollends zusammen und lag flach auf dem Boden. Ihr Mann brachte sie in die Seitenlage. Ich bot dem Mann meine Hilfe an. Ein weiterer Passagier verständigte sogleich die Crew, die eine Ärztin rief. Die ebenfalls uniformierte Frau war schon nach kurzer Zeit vor Ort und kümmerte sich um die immer noch liegende Person. "Das kommt manchmal vor", sagte der Ehemann leise. Es hatte sich inzwischen eine ganze Traube "Gaffer" gebildet, die den Durchgang blockierten. Da erkundigte ich mich, ob ich noch etwas tun könne. "Holen sie doch bitte einen Stuhl, meine Frau sollte in der nächsten Stunde nicht stehen", bat mich der Herr. Sofort bat ich einen der jüngeren Wartenden, mir doch bitte seinen Sitz zu überlassen. Er stand auf und half mir, die Kollabierte darauf zu setzen. Diese hatte sich inzwischen schon wieder etwas erholt, nahm Kreislauftropfen und trank langsam eine Cola.
"The Cardeck is now open" ließ alle Sitzenden aufstehen. In den Treppenhäusern bildeten sich Warteschlangen, in denen die schwer bepackten Leute dicht gedrängt ausharrten. Einer der Abgänge, auch jener zu unserem Unimog, blieb verschlossen. Dies verzögerte das gesamte Prozedere, und einige Gäste reagierten genervt. Ich schaute mir den Deckplan genau an und fand heraus, dass ein weiteres Treppenhaus existierte, welches über Umwege auch zu unserem Fahrzeug führte. Ohne Gepäck probierte ich die Passage aus, zwängte mich durch einige LKW-Anhänger hindurch und erreichte tatsächlich mein Ziel. Möglichst verhalten klärte ich Ulli über den entdeckten Geheimweg auf. Die Passagiere neben uns bekamen es jedoch mit und folgten uns sogleich. Ganz ohne Anstehen kamen wir am Unimog an und begannen mit dem Einladen. Die Kinder schnallten wir auf den Sitzen fest und warteten außerhalb des Fahrzeugs ab. Es sollte noch gut eine Stunde dauern, bis es endlich möglich war anzufahren.
"Ich hätte da noch so eine Idee", wand ich mich nach gut 3 Stunden Autobahnfahrt an meine Frau. "Du willst noch auf das Unimog-Treffen, oder?" antwortete sie korrekt. Ich wackelte abwägend mit dem Kopf hin und her. "Ich habe ja nicht wirklich geglaubt, dass wir das schaffen, aber jetzt sieht es ganz gut aus", antwortete ich. Das Unimurr-Sommertreffen 2017 fand im Fürsten Forest bei Osnabrück statt. "Heute ist Samstag und da gibt es Lagerfeuer", versuchte ich Ulli die Sache einzureden. "Außerdem sind praktisch alle da, die wir kennen", fügte ich hinzu. Sie fütterte das Navi, denn ab Hamburg galt es, eine Entscheidung zu treffen. "Das wird aber spät, und es ist ein Umweg bis nach Hause." "Nee, das machen wir nicht", entschied sie. Ich ließ nicht locker und versprach, nur ein Bier zu trinken, um 10 Uhr ins Bett zu gehen und damit die lange Heimfahrt am Folgetag nicht zur Qual werden zu lassen. Sie willigte ein. Die Kinder schliefen, und ich trat das Gaspedal voll durch. Total am Anschlag jagten wir über 3 Stunden mit 110 km/h einem Landrover Defender hinterher. Die letzten Kilometer führten über eine breite Landstraße, von der wir zu dem alten Truppenübungsplatz abbogen. Die Fahrt endete bei völliger Dunkelheit vor einem verschlossenen Tor. "Das ist offen", klärte mich Norbert auf, den ich über Telefon kurzfristig erreichte. Er organisierte das Treffen und lotste uns, in die Nacht horchend, bis vor Ort.
Ulli und ich schüttelten viele Hände, umarmten viele Bekannten und Freunde und setzten uns um das wunderbar warme, prasselnde Lagerfeuer. Ich ergatterte eine Flasche herrlichen deutschen Landbieres und brachte auch meiner Frau eine Pulle mit. Inmitten dieser schönen Gesellschaft schritt die Zeit schnell voran. Schließlich schliefen unsere Kinder schon lange, und ich erinnerte Ulli an unsere Abmachung, früh ins Bett zu gehen. "Ach, es ist gerade so schön", redete sie sich heraus. Ich besorgte noch zwei Gekühlte. Es wurde 1 Uhr und ich war es, der die Notbremse zog.

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23.09.2017
An diesem Sonntag frühstückten wir im großen Kreise, bedankten uns für die kurzfristige Aufnahme und fuhren eigentlich viel zu früh schon wieder ab. Vor uns lagen die letzten 400 km. Ulli wollte unbedingt noch wählen gehen. Das Wahllokal bei uns im Dorf schloss um 18:00 Uhr. Das Navi meldete zunächst 16:45, es bestand also eine reelle Chance, das noch zu schaffen. Aber mit den vielen "Ich muss Pipi"-Pausen und dem Mittagessen wurde es dann doch 18:02 Uhr. Wir verfehlten den Termin also knapp und vollständig. Als Islandfahrer und Naturliebhaber hätte ich meine Stimme gerne abgegeben. Die Enttäuschung darüber wich der Dankbarkeit. Ich dankte dem heiligen Christophorus, der meine Frau, meine Kinder und natürlich mich selbst wieder gesund, in einem Stück, nach Hause gebracht hatte. Nun endete auch diese Islandreise mit vielen Eindrücken, Erinnerungen und auch mit ein wenig Wehmut in unserer Hofeinfahrt.
Ich schrieb diese Zeilen in der Vorweihnachtszeit des Jahres 2017und es erstaunte mich, wie lange der Rausch der Erlebnisse noch nachwirkte. Solche Reisen brennen sich einfach tief ein und werden vermutlich nie ganz aus den Gedanken verschwinden. So erlebte ich das zumindest bei allen vorangegangenen Trips. Diese Zeit mit unseren Kindern in dieser intensiven Phase des Lebens verbringen zu können, betrachten wir trotz der damit verbundenen Anstrengung als Glücksfall. Machen wir uns mal nichts vor, es ist auch verdammt fordernd, mit einem Baby und einer Fünfjährigen eine beinahe 2 monatige Wohnmobilreise zu unternehmen. Der Hang zu einem dauerhaften Nomadenleben, welcher sich gerade unter Allrad-LKW-Reisenden nach längerer Fahrt mitunter einstellt, blieb allerdings aus. Dafür sind wir schlicht zu Bodenständig und zu spießig. Wir mögen einfach auch unsere vier festen Wände.
Ich betrachte mich trotz der satirischen Ausflüge als engagierter Naturfreund und möchte abschließend erklären, dass ich mich keineswegs als "Umweltsau" verstehe. Wenn ich jedoch im Netz oder anderswo über das Thema, extensiver Islandtourismus, globale Erwärmung und was der einzelne dafür oder dagegen tut lese, dann verstehe ich teilweise diese Welt nicht mehr. Ich begegne diesen mitunter absurden Argumenten gerne mit einer gehörigen Portion Humor, den vielleicht nicht jeder versteht. Mit den entsprechenden Problemen verhält es sich ebenso.
 
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